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Der Tod und das Mädchen
Der Tod und das Mädchen
eine Kurzgeschichte von Anja Albus
Ich lebe, und doch existiere ich in Eurer Vorstellung nicht. Ich bin immer da und doch wollt ihr mich nicht sehen. Setzt ihr Euch in Eure hochgelobten Autos, Flugzeuge und Eisenbahnen, so fahre ich immer mit. Und selbst, wenn Ihr morgens das Haus verlasst und nur zur Arbeit geht, begleite ich Euch wie ein unsichtbarer Schatten.
Denn ich bin Eurer größter Feind, aber auch Euer größter Freund. Ich herrsche über das Leben und über das Glück, denn ich bin der Tod.
Ihr mögt mich als abscheuliches Wesen begreifen, als das Ungeheuer, dass es auszulöschen gilt, denn mein Dasein mag Euch grotesk und monströs vorkommen. Denn mit mir kommt Eure schwerste Stunde und ich sehe auf Euch hernieder und kann bis auf die tiefsten Abgründe Eurer Seele schauen, wo ihr all Eure Sünden, Ängste und Wut begraben habt. Das macht mich so furchtbar für Euch, denn Eure wahres „Ich“ lässt sich vor mir nicht verbergen.
An diesem Tag hatte Susanne wieder einmal das kurze Kleid angezogen, das gerade nur ihren runden Po bedeckte. Auch das Top, das sie über ihren prallen Brüsten trug, schien ein wenig zu klein zu sein, denn die weiblichen Rundungen waren deutlich unter dem Stoff zu erkennen.
Ihr Gesicht wurde von einer dicken Schicht Schminke bedeckt, denn sie fürchtete sich davor, man könne ihr Alter an ihrer jugendlich glatten Gesichtshaut ablesen. Die Straße war ihre Heimat, einige Jahre hatte sie auf ihr verbracht. Jeden Mittag stand sie an die Straßenlaterne gelehnt, wartend und hoffte, eines Tages würde ihr Traumprinz unter den vielen Freiern sein, die sie jeden Tag bediente.
Ein Auto hielt neben ihr am Straßenrand. Der Fahrer, ein großgewachsener, braungebrannter Kerl mit schwarzen Haaren, kurbelte die Scheibe hinab und Susanne wusste, welche Frage nun kommen würde: „Wie viel?“ hörte sie seine Stimme und fast automatisch antwortete sie: „75 wenn ich ihn blasen soll, 125 für eine Nummer im Auto und 150 wenn du mit zu mir in mein Liebesnest gehen willst!“
Der Mann schien kurz zu überlegen, dann sagte er: „Okay, steig ein, denn hier auf der Straße können wir es wohl kaum tun. Los, 125 sind in Ordnung. Mach schon.“
„Dann musst du mich aber nachher wieder zurückfahren“ rief sie ihm noch zu, während sie in das Auto des Fremden einstieg. „Ist gut, und nun komm, ich hab nicht den ganzen Tag Zeit“ antwortete er und als sich die Autotüre schloss, brauste er davon.
Sie verließen die Stadt westwärts und nach kurzer Fahrt auf der Umgehungsstraße bogen sie in einen asphaltierten Feldweg ein, der zu einem kleinen Wäldchen führte. Susanne saß steif auf dem Beifahrersitz, denn sie fühlte sich in Gegenwart dieses komischen Typen sichtlich unwohl. „Hoffentlich macht er schnell“, dachte sie und ihre Finger krampften sich zu Fäusten zusammen.
Endlich hielt der Freier das Fahrzeug an. Sein Blick wanderte aus den Fenstern hinaus, er wollte sich wohl vergewissern, dass sie nicht beobachtet wurden. Dann wendete er sich seiner Mitfahrerin zu, fixierte sie mit einem kalten, bösartigen Blick und ohne ein Wort mit ihr zu wechseln, legte er seine Finger um ihren Hals und begann zuzudrücken. Obwohl sich Susanne gegen den Angriff zu wehren versuchte, hatte sie kaum eine Chance gegen die Kraft des Kerls und das Letzte was sie sah, war die weißgepunktete Decke des Fahrzeugs, dann legte sich Dunkelheit über sie.
Als sie erwachte, stand sie mitten im Wald. Sie konnte sich weder erinnern, was geschehen-, noch, wie sie dorthin geraten war. Sie erinnerte sich lediglich an den seltsamen Freier und wie unwohl sie sich in seiner Gegenwart gefühlt hatte.
Nervös ließ sie ihren Blick zwischen den Stämmen hindurchwandern. Dabei bemerkte sie, wie gleichmäßig das Laub am Boden verteilt lag, gerade so, als wäre hier nie ein Mensch hindurchgelaufen. Nervosität stieg in ihr auf und ließ das Herz schneller schlagen.
„Du bist nervös“, sprach sie plötzlich und unerwartet eine freundliche Männerstimme von hinten an. „Ich kann das verstehen“, sagte er weiter.
Susanne wirbelte herum und wie aus dem Nichts stand dort ein junger, gutaussehender Mann, Mitte zwanzig und lächelte sie an.
„Bin ich nicht“, antwortete sie gewohnt unfreundlich. „Ich hab mich nur verlaufen.“
„Ja, verstehe“ sagte er und ein unverschämtes Grinsen wanderte über sein Gesicht. „Und nun fragst du dich, wie du wohl nach Hause kommen sollst!“
„Ich kenne den Weg, ich bin nur kurz eingenickt und nun suche ich meinen großen Schäferhund, der ist mir nämlich weggelaufen. Haben Sie vielleicht einen gesehen?“ sagte sie, schaute den Fremden dabei jedoch nicht an, denn sie befürchtete, er würde ihre Lüge durchschauen.
„Nein, das habe ich nicht und du auch nicht. Du brauchst jetzt nicht mehr zu lügen.“
„Tue ich das?“ sagte sie empört. „Wie können Sie so was behaupten?“ Langsam wurde ihr der Fremde unheimlich und ihre Augen wanderten umher, denn sie hoffte, irgendwo einen Fluchtweg auszumachen, würde der Kerl sich nähern.
„Du musst nicht fortlaufen vor mir. Es gibt kein Entkommen. Ich weiß alles über dich.“
Eine Gänsehaut legte sich auf ihre Haut und stotternd brachte sie hervor: „W...Was wissen sie über mich?“
„Nun“, antwortete der Fremde ruhig. „ Du heißt Susanne, bist am 24. Februar geboren, deine Mutter starb, als du fünf Jahre alt warst und so bist du bei deinen Großeltern aufgewachsen, die dich mit Strenge und Moral erzogen haben. Mit fünfzehn bist du von deinem Zuhause ausgerissen und hast dich auf der Straße durchgeschlagen, und heute arbeitest du als Hure auf dem Straßenstrich!“
Susanne konnte nichts mehr denken. Völlig sprachlos starrte sie den Fremden an, und auch sein Lächeln war von seinem Gesicht gewichen. Woher wusste dieser eigenartige Kerl nur dies alles von ihr? Die Sachen aus ihrer Kindheit hatte sie doch niemandem erzählt und zu ihren Großeltern war der Kontakt schon lange abgebrochen.
„Halten Sie den Mund“ brach es plötzlich aus Susanne heraus. „Warum tun sie mir das an?“
„Ich werde dir nichts antun“, sagte der Fremde im ruhigen Tonfall. „Du darfst dein Schicksal nicht verdrängen. Ich bin dein Schicksal.“
Das ging ihr nun eindeutig zu weit. „Mein Herr, ich weiß nicht, wer Sie sind oder was Sie von mir wollen. Ich möchte nur hier weg, zurück nach Hause, und Sie nie wieder im meinem Leben sehen. Verschwinden Sie!“
Doch der Fremde starrte sie nur ruhig an. „Ich kann dich hinausführen, wenn du es verlangst“ sagte er leise.
Immer mehr verwirrte Susanne dieses Gespräch und verdattert antwortete sie: „Sie wollen mich hinausführen? Woraus denn?“
„Das ist eine berechtigte Frage“, antwortete er. „Aus diesem Wald, aus dieser Stadt, aus diesem Leben, ganz wie es dir beliebt.“
Nun machten sie die Worte des Fremden neugierig. Was bedeutete diese komische Antwort?
„Ich kenne dein größtes Verlangen, deinen innigsten Wunsch. Ich kann ihn dir erfüllen, wenn du mich nur lässt.“
„Sie wissen nichts über mich“ rief sie ihm nun wieder empört zu, denn sie war es nicht gewohnt, dass irgendjemand freundlich und zuvorkommend ihr gegenüber war. „Lassen sie mich in Ruhe und verschwinden sie wieder in das Loch, aus dem sie gekrochen sind.“
„Du verlangst also einen Beweis“ sagte er nun, als hätte sie ihn danach gefragt. „ich werde dir einen Beweis geben.“
Susanne fragte sich noch, was der komische Kerl nur damit meinte, doch sie begann bald zu begreifen, denn was sie nun zu Gesicht bekam, wollte sie beinahe nicht glauben. Der Körper des Fremden begann sich zu verändern, seine Kleidung fiel ihm vom Leib, seine Haut verdunkelte sich, nahm eine hässlich grüne Färbung an. Die Haare gingen aus und die Ohren spitzten sich nach oben. Die blauen Augen verblassten, wurden grün, wie die einer Schlange. Doch das Schrecklichste, das, was sie am meisten entsetzte, waren die riesigen Schwingen, grau und grün, die aus seinem Rücken wuchsen, mit klauenartigen Hacken an ihren Enden und dicken Adern auf ihrer Oberfläche. Auch seine Füße veränderten sich, wurden länger und länger, nahmen die Zeichnung einer Schlange an und bald wanden sie sich in vielen Bögen über den Waldboden hinweg.
„Du brauchst dich nicht zu fürchten.“ Die Stimme des Mannes war geblieben. „Ich werde dir kein Leid zufügen. Doch du verlangtest einen Beweis, den wollte ich dir geben.“
Entsetzten durchströmte den Körper der Frau und animierte sie zur Flucht. Doch die Muskeln ihrer Beine reagierten nicht auf die Stimme ihres Kopfes, wie gelähmt stand sie da, fixierte die grauenhafte Figur vor ihren Augen und rührte sich nicht.
„Ich weiß, was du empfindest“, da war wieder die Stimme des Mannes, der, wie es schien, von diesem grauenhaften Dämon verschluckt worden war. „Dies ist nur eine Gestalt, die ich annehmen kann. Sie erschreckt dich. Und doch sollst du mir vertrauen.“
Wieder wandelte sich die Gestalt des Fremden. Es dauerte nur einen Augenblick, dann stand erneut der freundliche junge Mann vor Susanne und ließ ein Lächeln über sein Gesicht wandern.
„W... wer bist du?“ fragte sie panisch und angstvoll.
„Ich bin der Tod“ antwortete er kurz und knapp und ließ seine Gesichtszüge erstarren. „und ich möchte, dass du nun mit mir gehst.“
Susanne verstand nicht die Worte, die der Fremde zu ihr sprach. „Aber... was willst du denn von mir? Wohin soll ich dich begleiten? Bin ich denn tot?“ fragte sie ungläubig.
Langsam begann sie die Tragweite ihrer eigenen Fragen zu begreifen und erneut jagte ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Wie konnte sie nur solch eine Frage stellen? Welche Bedeutung würde eine Antwort für sie haben?
Der Fremde antwortete nicht, sondern streckte ihr nur seine Hand entgegen. Entsetzt wollte Susanne ausweichen, doch etwas zog sie zu dem Mann hin, ließ sie wie von selbst einige Schritte auf ihn zugehen.
„Komm zu mir, mein Kind. Nimm nur meine Hand und alle Fragen beantworten sich selbst.“
Nein, sie wollte ihn nicht berühren und doch, etwas zog sie in seinen Bann, als wäre er eine Droge, die sie zum Überleben bräuchte. Sie schloss die Augen, streckte ihre Hand aus und berührte mit den Kuppen ihrer Finger seine Handfläche. Und plötzlich war alles so einfach. Sie spürte, wie ihre ohnehin knappe Bekleidung von ihrem Körper abfiel, spürte die Nähe des anderen dicht an ihrer warmen Haut. Sie öffnete die Augen und vor ihr stand wieder das Monster, das sie mit einem kräftigen Zug an seinen Körper presste. Die großen Schwingen klappten über ihr zusammen und sie verschmolz mit dem namenlosen Wesen, welches ihr soviel Angst und Unbehagen bereitet hatte.
Nicht immer ist das, was man sieht auch das, was es zu sein scheint.