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Der Tod lächelt nicht

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23.11.2017
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Der Tod lächelt nicht

Hanna läuft mit einem leichten, entspannten Lächeln durch die belebte Straße. Alles geschafft, denkt sie erleichtert.
Sie weicht einer älteren Frau aus, die auf ihren Rollator gestützt auf dem Gehweg steht.
Jetzt ist sie seit 6 Monaten am Institut für Didaktik der Gesellschaftslehre beschäftigt und hat ihren ersten Auftrag heute erfolgreich abgeschlossen.
Sie macht einen langen Schritt über einen Hundehaufen. Eine heftige Windböe peitscht ihr ins Gesicht.
Sie hat eine Unterrichtsreihe zu den Berliner Mauertoten erstellt und dafür 2 Monate in einer Schule unterrichtet. Der Verlag war beeindruckt von ihrer Konzeption und der Aufbereitung der Materialien. Und von ihrer Präsentation.
Ein kleiner Junge neben ihr schreit, weil er mit seinem Laufrad gestürzt ist. Seine Mama hilft ihm hoch. Der Wind drückt gegen seinen kleinen Körper und er schwankt leicht. Seine Mama hält ihn fest.
Die Arbeit hat sich gelohnt. Schwer sitzt die Erschöpfung in ihrem Körper. Gleichzeitig will sie durch die Straßen tanzen.
Ein LKW rast ohrenbetäubend an Hanna vorbei. Sie kann den Sog spüren.
So viele Eindrücke im Unterricht. Die Betroffenheit der Schüler, als sie vom Tod Peter Fechters erfuhren, die aufmerksame Stille im Raum, als sie fragten, wie viele denn an der Mauer gestorben seien und ihre heftige Diskussion, ob sie als Soldat auf jemanden schießen dürften, der das Land, in dem sie leben und das sie lieben, in Richtung Feindesland verlassen will.
Ein Auto will über eine Zufahrt auf die Straße. Hanna bleibt kurz stehen, um es vorbei zu lassen.
Wie schön wäre es, endlich eine Arbeit gefunden zu haben, die sie herausfordert, die sie aber auch wirklich kann und die ihr Leben bereichern könnte.
Hanna läuft an einem Baugerüst vorbei. Es schwankt in einer Windböe und neigt sich leicht zur Seite. Der Bauarbeiter hält sich am Gerüst fest.

Einen Augenblick bleibt das Gerüst in dieser Schieflage hängen.

Plötzlich gebannt bleibt sie stehen. Würde das Gerüst weiter kippen, würde es direkt auf sie drauf fallen. Ihre Kopfhaut kribbelt und ihr Blick scheint ein wenig aus ihrem Körper herauszuschweben.

Da sieht sie IHN. Er ist ein blasser Schatten, aber ist doch ganz deutlich. Er sieht sie direkt an. “Es wird Zeit”, sagt ER ruhig. Seine Stimme klingt, als sei sie weit entfernt und doch ist sie klar und deutlich.

Unendlich langsam setzt sich das Gerüst in Bewegung und schwingt zurück. Als es wieder neben der Hauswand steht, lässt der Bauarbeiter das Gerüst los und sagt laut ein paar Worte in ein Fenster hinein. Dann klettert er ins Haus zurück.

ER verschwindet. Sie starrt auf die Stelle, wo er gestanden hat. Ihr Puls schlägt hart in ihrem Hals. Fragen drängen sich ihr auf, die sich an dieser Stelle immer aufdrängen: War das eine Vorwarnung? Werde ich heute sterben? Muss ich mich jetzt verabschieden?
Sie sieht Jannes vor sich, ihren tollen Mann. Die Schüler, die sie mit ihrer Unterrichtsreihe erreicht hat.
Wieso jetzt? Wo es doch grad Spaß macht. Langsam setzt Hanna einen Schritt vor den Anderen. Wie wird es sein? Gibt es einen Ruck, wenn ich die Wirklichkeit verliere?
Sie macht einen weiten Schritt über eine Pfütze. Laufe ich durch einen Tunnel? Werde ich ein helles Licht sehen?
An einer Ampel bleibt Hanna stehen und wartet auf grün. Die Haare peitschen ihr ins Gesicht. Sie schiebt sie zurück. Werde ich überfahren, wenn ich jetzt bei grün auf die Straße trete?
Es wird grün und sie betritt vorsichtig die Straße. Sie atmet tief durch, öffnet und schließt bewusst kontrolliert ihre Hände. Alles normal, die Autos halten an.
Ein Flugzeug fliegt laut über sie hinweg. Sie duckt sich unwillkürlich und sieht nach oben. Ist es lauter als sonst? Neigt es sich zu schief im Wind? Fliegt es tiefer als sonst? - Es ist wie immer, es wird nichts passieren.
Ihre Gedanken laufen unaufhaltsam weiter. Wie viel bleibt von mir übrig, wenn ich sterbe? Gibt es mich dann noch oder bin ich dann weg? Was von mir geht zu Gott? Wird so viel von mir übrig bleiben, dass ich meine Mutter wiedersehen werde?
Und eine alte Sehnsucht erwacht. Wartet sie auf mich? Sieht sie mir heute zu? Hat sie gesehen, wie toll ich das mit den Schülern gemacht habe? Und Hanna hört ihr Lachen und spürt ihre Hand auf ihrem Kopf. Und sie fühlt ihre Trauer unerwartet heftig. Tränen steigen ihr in die Augen.
Sie betritt die Zufahrt, die von einem Discounter kommt. Eine Windböe treibt sie von hinten an. Ein Auto kommt angefahren. Ist es zu schnell? Sieht er mich? Sollte ich winken?
Es bremst. Erleichtert atmet Hanna aus. Alles ist wie immer. Ich lebe noch. Nichts passiert. Die Windböe schiebt sie weiter über die Zufahrt.
Ihr Telefon vibriert und unterbricht den Gedankenstrom. Hanna stellt sich in einen Hauseingang. Es ist Tante Gudrun. "Hallo Hanna, hab lange nichts von dir gehört. Wie geht es Dir?"
"Gut". Hanna räuspert sich und versucht normal zu klingen. "Ich habe meinen ersten Auftrag abgeschlossen."
Gudrun gratuliert ihr, sagt, dass sie alles darüber wissen will. Dass sie morgen in eine Ausstellung geht und ob sie mitkommen will. Hanna freut sich. Sie hat morgen Zeit. Als sie auflegt, dankt sie im Stillen, dass Tante Gudrun wie schon so oft den genau richtigen Zeitpunkt getroffen hat.
Am nächsten Tag trifft Hanna Gudrun vor der Ausstellung. Benommen und verwirrt hat sie sich durch den Tag getastet, doch als sie Tante Gudruns strahlendes Gesicht sieht, fühlt sie sich, als würde sie nach Hause kommen. Dann erzählt sie ihr von der Präsentation und den Reaktionen des Verlages. Und Gudrun freut sich über ihren Erfolg. Leichteren Herzens folgt sie ihrer Tante in die Ausstellung.
Dort laufen sie Bild um Bild ab, mal gemeinsam, mal trennen sie sich, je nachdem, ob es gefällt oder nicht gefällt. Sie lassen es mal wirken und mal nicht wirken, kommentieren es oder auch nicht.
Vor einem Bild bleibt Gudrun schließlich lächelnd stehen. Hanna bleibt auch stehen und betrachtet es. Ein Gesicht schaut sie großformatig an. Es wirkt leicht schief und Hanna überlegt, was es schief macht. Dann versteht sie: Ein Auge scheint zu lächeln, eins scheint traurig zu sein. Die Lippen sind zusammengekniffen und die Mundwinkel dennoch leicht gehoben.
"Das habe ich gemalt", sagt Gudrun leise, zufrieden lächelnd und Hanna nickt anerkennend. Es ist widersprüchlich und dennoch anziehend. "Es soll das Leben spiegeln, oder? Traurigkeit, Freude, Angst, Hoffnung."
Gudrun nickt erfreut. "Genau."
"Es ist dir gelungen. Wieso ist die eine Gesichtsseite etwas hagerer als die Andere?"
"Es geht ums Älterwerden. Und den Tod.” Hanna nickt. Und den Tod.
"Tante Gudrun, ich muss dir was erzählen", sagt Hanna plötzlich und sie sieht Gudrun kurz an. Diese wird auf einmal wach und aufmerksam. Hanna spürt ihre Tränen aufsteigen und schaut beschämt nach unten, dann zum Bild.
"Manchmal ist es, als …” sie stockt. Als würde ich den Tod sehen. Aber sie will Gudrun nicht erschrecken. Sie sagt stattdessen: "als würde ich anders sein als andere." Wie kann ich es sagen, ohne dass sie denkt, ich wär verrückt. "Mir geht es momentan eigentlich richtig gut. Alles ist gut gelaufen." Und sie denkt an ihren ersten abgeschlossenen Auftrag. "Doch dann plötzlich wird mir bewusst, dass ich sterben könnte." Hanna wirft einen schnellen Blick auf Gudrun. Aber sie sieht nicht besorgt aus, nur aufmerksam.
Zögernd, beinahe wie eine Frage formuliert, sagt Gudrun: "Wir werden alle sterben."
Hanna stößt leise hervor: "Ich habe so große Angst davor."
Wieder zögernd, wieder beinahe eine Frage: "Die meisten Menschen haben Angst davor."
Hanna sagt leise und eindringlich: "Aber mir ist, als könnte ich den Tod sehen." Hanna riskiert erneut einen Blick.
Gudrun schaut auf ihr Bild. "Wie sieht er denn aus?", fragt sie.
Aus den Augenwinkel sieht sie einen Schatten. Sie dreht unwillkürlich den Kopf und sieht IHN. "Ein älterer Mann", sagt Hanna und ihre Stimme klingt plötzlich heiser. Sie räuspert sich und kann nicht weiterzusprechen. ER hebt die Hand wie zum Gruß. Hanna zwingt ihren Blick auf Gudruns Bild zurück.
Gudrun sagt leise: "Ich habe Apfelkuchen gebacken. Mit Zimtstreusel. Er ist sehr lecker." Und sieht sie fragend an. Hanna nickt erstaunt. Und erfreut. Und Apfelkuchen wäre jetzt genau richtig. Sie essen ihn in Gudruns gemütlichem Wohnzimmer.
"Wie lange siehst du IHN schon?", fragt Gudrun beim Abräumen. Hanna atmet erschreckt ein, dann denkt sie nach.
"Als Kind nicht. Als ..." sie stockt. Und sie will plötzlich nicht weitersprechen. "Na, als das mit Mama war", sagt sie und jedes Wort fällt ihr schwer. Dann bemerkt sie, dass Tante Gudrun die Lippen zusammenkneift, so wie das Gesicht auf ihrem Bild, nur dass die Mundwinkel nicht lächeln. Und Hanna wird wieder bewusst, dass sie beide sie verloren haben.
"Warte", sagt Gudrun und geht aus dem Zimmer, gleich darauf kommt sie mit einer kleinen Leinwand zurück. Darauf ist das Porträt ihrer Mutter. Kraftlos, ausgehungert, aber mit hoffnungsvollen Augen. "Das habe ich kurz vor ihrem Tod gemalt. Ein Teil von ihr wollte leben, um dich älter werden zu sehen. Ein anderer Teil von ihr wollte sterben, weil sie das Leben nicht mehr ertragen konnte. Aber sie hat gegen diesen Teil gekämpft, weil sie dich lieb gehabt hat."
Hanna spürt den Schmerz aufwallen. Sie streicht bewegt mit ihren Fingern über das Gesicht ihrer Mutter. Dann legt sie das Bild vorsichtig auf den Tisch, damit ihre Tränen nicht darauf tropfen.
"Ich wollte ihr damals hinterher" beginnt Hanna zu erzählen, dabei kommen ihre Worte ganz von allein, ganz ohne Anstrengung. Während ihrer Erzählung versinkt sie in ihrer Erinnerung. Sie wollte wissen, wo sie jetzt ist. Dann saß sie an den S-Bahngleisen. Zug um Zug rollte vorbei. Sie war zu traurig, um sich aufzuraffen. Dann endlich war sie bereit. Sie sah die S-Bahn kommen und stand auf. Sie schätzte ihre Entfernung ein und die Schritte, die sie machen musste. Jetzt musste sie los. Und sie gab sich einen Ruck und sah IHN. Ganz klar, ganz deutlich. Nicht blass, kein Schatten. ER stand direkt an den Gleisen. Sie konnte seine wachen, klugen Augen sehen und seinen Bart. ER stand da, leicht vornüber gebeugt. Sie sah keinen Zorn, keine Trauer, kein Lächeln. Sie hörte ihn mit ruhiger Stimme fragen: "Zeit zum Verabschieden?”.
In einem weiteren Moment fühlte sie ihre Mutter neben sich. Und sie zögerte. Wäre sie entsetzt? Wäre sie traurig? Würde sie weinen? Und sie erstarrte. Das hätte sie bestimmt nicht gewollt. Nichts würde bleiben von ihr außer Dunkelheit. Und sie begriff, dass sie ihr Leben verschenken würde. Und als die S-Bahn längst wieder weg war, setzte sie sich wieder ganz langsam auf ihre Bank am Bahnsteig. Und sie brauchte Ewigkeiten, bis sie wieder aufstehen konnte, um nach Hause zu gehen. Seitdem sieht sie ihn hin und wieder und meistens dann, wenn sie sich entspannt.
Als Hanna geendet hatte, sieht Gudrun betroffen zu Boden. Dann sieht sie Hanna an. Sprachlos. Nachdenklich. Besorgt. Und wieder zu Boden. Nach einigen Minuten gemeinsamen Schweigens sagt Gudrun plötzlich: "Du könntest was versuchen". Sie steht auf und winkt Hanna zu, ihr zu folgen. Gemeinsam gehen sie in die Galerie ins Dachgeschoss des kleinen Bungalows. Mehrere Dachfenster lassen Licht hinein. Draußen hat es angefangen zu regnen. Leise fallen die Tropfen auf die Dachfenster. Gudrun bittet Hanna sich an den großen Tisch zu setzen und setzt sich ihr gegenüber. "Was ist das Schönste, was du heute gesehen hast?" Hanna überlegt und antwortet: "Das eine Bild. Heute in der Galerie. Im Hintergrund war ein Regenbogen. Ich mochte die Farben." Gudrun holt aus einem Schrank Bleistifte und Acrylfarben, aus einem anderen eine kleine Leinwand. Sie bittet sie die Farben auszuwählen und ein Bild mit diesen Farben zu malen. Hanna nimmt blau, lila, rot, grün, gold und weiß. Dann überlegt sie kurz und zeichnet einen Regenbogen. Fasziniert betrachtet sie die Farben, während sie sie auf die Leinwand zieht. Als sie fertig ist, spült sie den Pinsel im Wasserglas aus und mustert zufrieden lächelnd ihr Bild. Gudrun unterbricht ihre eigene Arbeit und schaut sich das Bild an. Sie nickt und sagt: "Die Farben sind wirklich schön."
Sie setzt sich ihr wieder gegenüber. "Wie geht es Dir jetzt?" Hanna sagt erstaunt: "Gut". Ihr geht es deutlich besser. Sie ist wieder ganz hier und zufrieden.
Gudrun nickt erneut und sagt: "Ich sehe keine Möglichkeit, eine Begegnung mit IHM zu verhindern. Aber du kannst IHM etwas Schönes entgegensetzen. Es kann auch ein Gedicht sein, eine Schnitzerei oder sonst etwas."
Nachdenklich schaut Hanna sie an und dann lächelt sie verstehend. Sie lassen das Bild trocknen und packen es ein. Zum Abschied verspricht sie ihr, das Bild gut sichtbar in ihrer Wohnung aufzuhängen.
Auf dem Heimweg denkt Hanna darüber nach, was sie noch Schönes in den letzten Tagen gesehen hat und sie beschließt eine kleine Meise zu basteln.

ER taucht die nächsten Tage nicht auf. Aber sie wartet auf ihn. Und auf den Versuch, seinen Einfluss zu mildern. Sie hat sich mit Schönem umgehen. In ihrem Rucksack liegt jetzt ein kleines Toneichhörnchen, das sie geformt hatte, als sie über ein Eichhörnchen lachen musste, das sie vor ihrem Fenster gesehen hatte. Es war flink mit einer Nuss in der Schnauze den Baum hinaufgeklettert. Als es sie bemerkte, hielt es inne und lugte mit wachen Augen immer wieder dahinter hervor. Auf ihrem Handy hat sie eine Vollmondszenerie gespeichert, die sie auf der Straße vor ihrem Haus aufgenommen hatte. Sie konnte sogar die langen Schatten einfangen, die die Bäume vor ihrem Fenster auf die Straße warfen.
Als sie mit Jannes in den Wanderurlaub fährt, hängt sie die kleine Meise an den Rückspiegel, die sie am Tag nach ihrem Besuch bei Gudrun angefertigt hatte. Sie ist blau, grün, weiß und glitzert, wenn sie sich bewegt. Sie dreht sich leicht um sich selbst, während sie fahren.
Nachdem sie die Stadt hinter sich gelassen haben, hat sie vergessen, dass sie wartet. Entspannt sitzt sie auf dem Beifahrersitz. Das Radio läuft und spielt deutsche Musik. Es sind viele LKWs unterwegs. Gerade hat Jannes einen überholt.
Da bremst das Auto vor ihnen plötzlich. Jannes wird langsamer und bremst auch. Der Gurt an ihrem Oberkörper zieht sich fest. Schafft das der LKW hinter uns auch oder kracht er in uns rein?, fragt sich Hanna in diesem Moment blitzschnell. Heiß überläuft sie die Panik. Da sieht sie IHN im Außenspiegel. ER sieht ihr direkt in die Augen. “Komm”, hört sie seine klare Stimme ruhig sagen.
Dann gehen die Bremslichter des Autos aus, der Vordermann gibt wieder Gas und Jannes nimmt den Fuß von der Bremse. Sie fällt in ihren Sitz zurück. Jannes brummelt: "Was war das denn“ und Hanna starrt in den Außenspiegel. ER verschwindet.
Die Fragen kommen, ohne dass sie etwas dagegen tun könnte: Werde ich heute auf der Autobahn sterben? Oder vielleicht im Urlaub? Werde ich Tante Gudrun wiedersehen? Werde ich vor dem Sterben Schmerzen haben? Was wird das letzte sein, was ich sehe?
Ein Auto fährt auf der Überholspur an ihnen vorbei. Ist es zu nah? Wird es uns berühren? Werden wir ins Schlingern kommen? Das Auto überholt sie gemächlich und setzt sich vor sie. Alles ist normal.
Ihre Gedanken laufen dennoch weiter. Wohin gehe ich, wenn ich tot bin? Sehe ich Jannes wieder? Was bleibt von mir übrig, wenn ich sterbe?
Ihr Blick bleibt an der kleinen Meise hängen. Kurz zieht sie an der Schnur. Jetzt bewegen sich die Flügel leicht auf und ab. Sie ist ihr wirklich gut gelungen. Und sie erinnert sich daran, dass sie nach etwas Schönem suchen muss. Sie holt aus dem Rucksack das kleine Eichhörnchen und erinnert sich an seine lustige Kletterei. Im Handy öffnet sie die Galerie, tippt auf das Vollmondbild und erinnert sich an den Frieden, der in dieser Szenerie lag.
Als Hanna ihren Kopf hebt, merkt sie, dass sie den Kopf wieder leichter bewegen kann und sich die Hände wieder leichter öffnen und schließen lassen. Langsam atmet sie ein und aus. Die Luft fühlt sich angenehm frisch in ihrer Lunge an.
Sie blickt auf die vorbeiziehenden Felder. In Stille. Nur das Radio spielt. Überrascht stellt sie fest, dass sie ihren Gedankenstrom unterbrochen hat. Und keine Angst hat. Zumindest vorerst. Verwundert schüttelt sie leicht den Kopf. Ein wenig fühlt sie sich auch als Siegerin. Ihr Blick wandert zu der Meise am Rückspiegel. Sie dreht sich und die Flügel glänzen.
Langsam steckt sie das Eichhörnchen und ihr Handy in den Rucksack zurück und nimmt sich den Kaffeebecher aus dem Halter. Dann lehnt sie sich mit einem leichten, entspannten Lächeln in den Sitz zurück. Ich habs geschafft, denkt sie und trinkt zufrieden einen Schluck Kaffee.

 

Hi Manja,

ich habe deinen Text gelesen und er hat mir gut gefallen. Den Schreibstil ist flüssig, angenehm und deine Schlagwörter sind schön. Ich habe ein paar subjektive Vorschläge zum Storytelling.

Die Entwicklung und der Spannungsbogen. Die Geschichte endet wie sie anfängt:

Hanna läuft mit einem leichten, entspannten Lächeln durch die belebte Straße. Alles geschafft, denkt sie erleichtert.

Hanna hat etwas geschafft und lächelt. Der Tod lächelt nicht, wie uns der Titel sagt. Zu Beginn baust du einen guten Rhythmus auf, mit dem Wind und es erinnerte mich ein bisschen an Final Destination. Die übersinnlichen Elemente wirken schön gegensätzlich zu der Alltagsbeschreibung.

Da sieht sie IHN. Er ist ein blasser Schatten, aber ist doch ganz deutlich. Er sieht sie direkt an. “ZEIT ZUM VERABSCHIEDEN?”, fragt ER ruhig. Seine Stimme klingt, als sei sie weit entfernt und doch ist sie klar und deutlich.

Was mich hier stutzig macht und vielleicht habe ich da auch das Motiv nicht verstanden, wieso fragt er sie, wenn sie selbst doch überhaupt nicht sterben will? Wenn sie Selbstmordgedanken hätte, wäre das logisch, aber warum fragt er sie ob es Zeit ist, wo es doch nicht in ihrer Entscheidung liegt.

Der Spannungsaufbau hat ab hier zwei Fundamente.
1. Hanna geht es gerade gut und der Leser möchte dass es so bleibt
2. Der Tod bedroht sie und der Leser möchte das sie am Leben bleibt

Folglich wäre der Verlauf ab diesem Punkt, die übersinnliche Bedrohung größer werden zu lassen und gleichzeitig Hannas Alltag stressiger zu gestalten. Beispielsweise ihre Anstellung am Institut wird nur am Anfang erwähnt und dann nicht mehr ausgespielt. Würde hier die Anstellung plötzlich gefährdet sein, weil sie z.B. übermüdet ist von der Angst vor dem Tod, würden die Probleme sich überschneiden im übersinnlichen Bereich und im Alltag. Der Leser macht sich nun mehr Sorgen und nimmt Teilnahme am Geschehen.

Es folgen dann eher viele Abschnitte wie diese, welche die angefangenen Szenen zu Beginn nicht mehr aufgreifen und komplett für sich stehen.

Hanna hält die Erinnerung kurz fest und sucht dann eine weitere. Sie denkt an das emsige Eichhörnchen vor ihrem Fenster gestern. Es hatte eine Nuss geknabbert und sprang dann flink von Ast zu Ast nach unten. Als es sie bemerkte, versteckte es sich hinter dem Stamm und lugte immer wieder dahinter hervor. Sie erinnert sich daran, wie mild minzig gestern der Tee in der Schulmensa schmeckte und wie belebend sie ihn fand.

Vielleicht könnte man auch mit der Erwartungshaltung des Lesers spielen, wann der alte Mann wieder auftaucht, denn damit rechnet der Leser natürlich. Anstatt einfach zu beschreiben:

Da sieht sie IHN im Außenspiegel. ER sieht ihr direkt in die Augen. “ZEIT ZUM VERABSCHIEDEN?”, hört sie seine klare Stimme ruhig fragen.

Zum Beispiel könnte sich doch Jannes kurzfristig in ihn verwandeln. Hannas wichtigster Mann in ihrem Leben und die Erscheinung übernimmt kurzfristig die Kontrolle über Jannes. Was für ein Grauen das wäre!

Liebe Manja, ich hoffe das erschlägt dich nicht und ist meine persönliche Meinung. Mir gefällt der Text gut und ich denke da kann man noch einiges rausholen um den Leser zu erschrecken. Wenn du das überhaupt möchtest. Muss ja nicht immer sein ^^

Beste Grüße

Sven

 

Hallo Sven,

vielen Dank für Deine wirklich sehr wertvollen Hinweise.

Der Tod zu Beginn der Geschichte soll eigentlich nur ein Erinnerungsbild sein und kein Eigenleben haben. Die einzige tatsächliche Begegnung mit dem Tod hatte sie, als sie überlegte, vor die Bahn zu springen.

Ich werde überlegen und erproben müssen, ob ich dem Tod ein Eigenleben einhauche, um noch mehr Spannung reinzubringen.

Die Auswirkungen, die die Begegnung mit dem Tod auf ihren Alltag haben, werde ich noch deutlicher herausstellen. Auch werde ich versuchen, die Entwicklung und das Ende der Geschichte stärker am Anfang auszurichten, damit sie runder wird.

Vielen Dank noch einmal! Das ist genau die Perspektive auf den Text, die mir fehlt und die ich unbedingt erwerben muss.

 

Die verführerische Sehnsucht nach dem Tod, gepaart mit der Angst vor deren Erfüllung. Oder doch keine Angst? Tja, die menschliche Seele ist schon ziemlich kompliziert. Die Gedanken, die ziellos um das eine Thema kreisen, die Suche nach Wegen, die Stimme zum Schweigen zu bringen ...

Diese Geschichte -
Liebe Manja! -
ist in meinen Augen literarisch noch ungereift. Perspektivische Unsauberkeiten, sprachlich noch nicht auf dem höchstmöglichem Niveau. Auch könnte die Struktur besser an den Inhalt angepasst werden; hektisch in den Angstphasen, ruhiger in den Momenten der Überwindung des Suizidbedürfnisses, chaotisch wenn die Zerissenheit im Mittelpunkt steht.

Was ich aber eigentlich loswerden will:
Allen handwerklichen Verbesserungsmöglichkeiten zum Trotz, hat mich dieser Text tief erwischt. Denn ich spüre hier Ehrlichkeit. Den Versuch etwas literarisch umzusetzen, das echt ist. Ob die Autorin eigene oder fremde Wahrnehmungen spiegelt, spielt keine Rolle. Es ist die wahrhaftige Darstellung einer neurotischen bis psychotischen Seele. Wahrhaftigkeit verleiht Geschichten Seele
Kein Scheiß-Thema, kunstvoll zurecht gebastelt, sondern Wahrhaftigkeit. Das, was in der Kunst und überall auf diesem Planeten Mangelware ist.

Die Geschichte könnte gewinnen, wenn einige Dinge ungesagt blieben. Des weiteren stören mich manche Wiederholungen.
Und das copyright, den Tod GROSS sprechen zu lassen, gehört Pratchett und ist für alle Zeiten verbrannt. (Nicht machen!)

Danke für diesen Beitrag.
Und bitte mach keinen oberflächlichen Spannungs-Horror-Trivial-Scheiß daraus!

Gruß,
das Kellerkind,
das den alten Mann aus Deiner Geschichte sehr gut kennt.

 

Hallo Kellerkind,

vielen Dank für Deine kritischen und insbesondere auch anerkennenden Worte.

Ich werde versuchen, die Gefühle noch stärker in die Struktur der Sätze einfließen lassen. Mal sehen wie es klingt.
Den Tod kann ich auch mit Kleinbuchstaben sprechen lassen, ich hänge nicht an den Großbuchstaben. Die Bedeutung bleibt für mich die Gleiche.

Einige kleinere Passagen habe ich dank Svens Kritik schon herausgenommen und die Geschichte somit mehr abgerundet. Einige Sätze habe ich abgeändert.

Ich werde mir noch einmal genau die Perspektiven anschauen. Vielleicht bekomme ich da ein bisschen mehr Struktur rein.

Danke für Deinen berührenden und hilfreichen Kommentar.

 
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Hallo Manja, der Text hat eine Menge Probleme, meiner Ansicht nach. Mal sehen, ob ich etwas Ordnung in meine Gedanken bringen kann.

Sprache

Hanna läuft mit einem leichten, entspannten Lächeln durch die belebte Straße. Alles geschafft, denkt sie erleichtert.

Im ersten Satz gibt es ein leichtes Lächeln und im zweiten Satz denkt Hanna etwas erleichtert. Solche Wortdopplungen und Wortähnlichkeiten wirken unelegant. Unbedingt vermeiden, außer Du verfolgst ein bestimmtes Ziel, einen gewünschten Effekt damit, was hier aber nicht der Fall ist.

Du hast außerdem mehrere Satzanfänge drin, die so lauten: Sie weicht (aus) … Sie macht … Sie hat … Das ist auch keine gute Wahl, denn auch hier hören sich die Wiederholungen nicht gut an.

Generell gibt es eine Menge kurzer Sätze in dem Text. Normalerweise nutzt man kurze Sätze, um die Dynamik zu erhöhen. Werden es zu viele kurze Sätze beginnt der Leser zu glauben, der Autor traut sich nicht zu in normaler Satzlänge zu erzählen, denn die Satzlänge steht in einem Verhältnis zur Sprachbeherrschung. Leider haben es deshalb deutsche Autoren häufig übertrieben und Satzmonster geschaffen, die sich manchmal über die halbe Seite ziehen. Nur um anzugeben. Aber das Gegenteil ist auch problematisch. Eine Überzahl an kurzen Sätzem stört den Textfluss.

Inhalt

Ganz grundsätzlich ist das großgeschriebene Er für Gott reserviert. Darüber kann man sich nur hinwegsetzen, wenn man die geistesgeschichtlichen Traditionen über Bord wirft. Davon würde ich abraten, das wirkt nicht sehr erwachsen.

Ich wünsche mir ja häufiger hier im Forum die Leute würde nicht ständig über Alltagskram schreiben, aber umgekehrt den Tod so zum Thema zu machen, wie Du es tust, funktioniert in meinen Augen nicht. Ich rate Anfängern von solchen Themen (Tod, Gott, der Sinn des Lebens) in dieser expliziten Weise, die Du nutzen willst, in jedem Fall ab. Daran kann man sich eigentlich nur verheben. Warum?

Wir bewegen uns beim Schreiben nicht in unerforschtem Gelände, sondern wandeln – ob uns das bewusst ist oder nicht – auf den Pfaden der Erzähler und Denker vor uns. Wenn wir uns dann ein Thema raussuchen, das kulturell so bedeutsam ist und entsprechend tiefschürfend beackert wurde, können unsere ersten Versuche daneben eigentlich nur naiv und provinziell wirken. Das liegt in der Natur der Sache.

Ein Boxer beginnt sein Training nicht mit dem Sparring gegen den Schwergewichtsweltmeister und ein Fahrschüler dreht seine ersten Runden nicht auf einer Hayabusa. Aus dem Grunde sollte wir explizites Philosophieren meiden.

Im Fall Deines Textes wirken alle Anekdoten der Geschichte wie der Versuch, eine grundlegende philosophische Idee zu vermitteln und das ist sozusagen literarischer Selbstmord. Die Philosophie einer Geschichte darf nur dezent hervorscheinen, man darf sie dem Leser nicht mit dem Holzhammer überziehen.

Gerade am Anfang ist viel sinnvoller greifbare Themen zu behandeln und realistische Konflikte. Dass eine Frau den Tod als Person vor sich sieht ist kein realistischer Konflikt, außer das Ganze wäre Teil einer Psychatriegeschichte. Es ist ein konstruierter Konflikt, der Dir dabei hilft, Deine philosophischen Ansichten über den Tod zu vermitteln, aber solche Konstruktionen gehen in der Literatur meist schief.

Wenn man sich mit Metaphysik, Spiritualität und Philosophie beschäftigt und das in die Literatur bringen will, so muss es – glaube ich – dezent passieren, es sei denn, es ist von vorherein eine Geschichte, die in diesem Umfeld spielt (ein Kloster z.B.) und es natürlich erscheint, dass die Figuren über solche Dinge nachdenken.

Gruß Achillus

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Achill,

vielen Dank für Deine umfassende Kritik. Ich musste sie erst einmal sacken lassen. Insbesondere die Kritik, dass ich philosophische Ideen mit dem Holzhammer in die Geschichte eingebaut hätte, hat mich ein wenig erschüttert. Weil es stimmt. Das ist tatsächlich meine eigentliche Motivation beim Schreiben. Meine Perspektive auf Welt wiederzugeben. Kleinere Alltagskonflikte interessieren mich (eher) nicht so.

Vielleicht muss ich eine andere Art zu schreiben finden, vielleicht eine eher biographische. Ich weiß es nicht. Das muss ich erproben.

Danke für diese Erschütterung.

 

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