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Der Tod kam ohne Berührung
Das Mädchen ging den Strand entlang. Sie hatte noch gut 1 km Weg vor sich und fühlte sich trotz der zunehmenden Finsternis nicht unwohl, so allein unterwegs. Alles hier war ihr vertraut und das Rauschen des Meeres war seit ihrer Kindheit wie ein geheimes Zeichen für Geborgenheit. Die Musik der Lokale oberhalb der Strandprommenade wurden vom Wind herangetragen. Sie nahm einen Stein auf und warf ihn weit hinaus in die Wellen. Sie lächelte und summte leise die Ballade mit, welche an ihr Ohr drang. Das Aufheulen eines entferntes Motorrades holte sie etwas aus ihrer verträumten, harmlosen Stimmung.
Wie angenehm ihr Tag verlaufen war. Der neue Job in der lokalen Zeitung schien ein guter Neustart zu sein. Zu viele düstere Überlegungen hatten sich in letzter Zeit breit gemacht in ihrem Denken. Die Ablenkung in den verrauchten Zimmern mit den hektischen Menschen an den PC´s tat ihr gut. Wenngleich, natürlich gerade in einer Redaktion, die sich häufenden ungeklärten Mordfälle in der Umgebung nicht wegdenken ließen. Die Sorge um die eigenen Kinder, die Urangst vor dem Tod, die Verwahrlosung der Gesellschaft, alles spielte eine Rolle, keiner konnte sich als betroffen ausnehmen, keiner sich unbeteiligt dem Geschehen entziehen. Junge Menschen, welche wie sie selbst, voller Hoffnungen und Erwartungen waren, Pläne hatten für die nahe und weite Zukunft – und dann drückt so ein Irrer einfach ab und schießt ihnen ein Loch in ihre Gedanken und Träume.
Sie wusste nicht genau ob das leichte Frieren vom Mitgefühl herrührte, welches sie mit den Opfern empfand, oder durch den sanften Windstoß ausgelöst wurde, der in den am Strand liegenden Rettungsbooten leise Geräusche verursachte. Ein nicht näher definierbares Ächtzen von Seilen die nicht mitschwingen wollten mit der bewegten Luft, sondern sich wehrten, Stand hielten. Jedenfalls fiel sie in einen schnelleren Schritt um dieses unwillkommene Frösteln abzuschütteln.
Der Leuchtturm kam in ihr Blickfeld und sie atmete etwas tiefer aus, im Wissen, dass dort ihr Weg hinaus zur Straße führte. Ein leises Räuspern ließ eine Welle von Schrecken durch ihre Glieder wogen, machte ihr die Einsamkeit des Spazierganges bewusst. Sie wendete ruckartig den Kopf. Nicht weit von ihr, vielleicht 20 Schritte, zog ein junger Mann in Lederjacke und lässiger Körperhaltung an einer Zigarette. Die Glut leuchtete kurz auf und erhellte für den Augenblick eines Wimpernschlages seine Gesichtszüge.
Eine leise, nicht näher zu definierende, aber intensiv spürbare, Panik überkam sie. Kurz nur, wie ein Schauer, ging sie durch ihren Körper. Aber dann beruhigte sie sich, indem sie sich zu gleichmäßigen Atemzügen zwang und das Tempo ihrer Schritte kontrollierte. Diese Mordgeschichten erzeugten irrationale Ängste die jeder Grundlage entbehrten, sagte sie sich zum klaren Denken zwingend. Sicher war es nur einer dieser arroganten Jungs vom Viertel oberhalb der Hauptstraße. Sie liefen immer in Designerklamotten herum, gaben an mit ihren teuren Motorrädern und versuchten möglichst viele Mädchen zu verführen, welche sie dann wie Trophäen durch die Bars schleppten.
Trotzdem wurde sie ein Gefühl der Bedrängnis nicht los. Sie griff nach ihrer Tasche, dem Gegenstand der ihr Sicherheit vermitteln sollte, wenn sie allein unterwegs war in Nächten wie diesen. Als sie ihn ertastete machte sich ein beruhigendes warmes Gefühl breit in ihr.
Der Mann hatte inzwischen seine Schrittfolge der ihren angepasst. Als sie sich umwandte, um zu sehen, ob sein Interesse vielleicht ganz anderen Dingen galt als einem Mädchen Angst zu machen, fühlte er sich sichtlich ermuntert näher zu kommen. Er rief ihr zu, auf ihn zu warten und in seinen geschmeidigen Bewegungen, erkannte sie eine, die nicht dazu passen wollte. Etwas ungelenk griff er im Laufen in die Innentasche seiner Jacke, ohne das Mädchen dabei aus dem Blick zu entlassen. Was suchte er denn so verzweifelt, dass er nun sogar im Schritt verharrte? Kaum zwei Meter trennten die beiden Menschen voneinander als seine Beine einknickten, den Körper willenlos zu Boden gleiten ließen.
Sie löste sich wie in Zeitlupe aus der Erstarrung, welche sie ergriffen hatte und ließ sich neben dem Mann, auf die Knie, in den Sand fallen. Sie zögerte ihn zu berühren, war zerrissen zwischen Furcht und Neugier. Sanft und gleichzeitig von plötzlichem Wissen durchdrungen, drehte sie ihn zur Seite. Seiner Hand entfiel dabei eine im Mondlicht glitzernde Polizeimarke. Immer noch hatte sie das Gefühl sich in einer, die eigenen Bewegungen verlangsamenden, Nebellandschaft zu befinden. Sie sah das Einschussloch über seiner rechten Augenbraue, nahm den überraschten Gesichtsausdruck des Toten irgendwie wahr. Aber sie war unfähig zu reagieren, konnte das Erlebte keinem Zeitablauf anpassen. Vermochte ihre Hand nicht dazu bewegen, den Elektroschocker aus ihrer Tasche herauszunehmen. Wie durch einen Wattebausch hindurch vernahm sie ein heiseres Auflachen hinter sich. Der Blick in das Mündungsfeuer blieb ihr erspart. Der Tod kam ohne Gesicht und ohne Berührung. Er war so gnadenlos, oder so gnädig, sie nichts mehr fühlen zu lassen.