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Der Tod ist nie passend
„Todesfalle facebook!“,
so lautet die erste Schlagzeile, die Linda heute Morgen aus der Tageszeitung anspringt.
„Suizid des Finanzchefs“ – die zweite Seite.
Behutsam gießt sie sich den frisch aufgebrühten Kaffee in ihre Lieblingstasse. Es ist eine große Tasse mit einem traurig dreinschauendem Bären darauf und der Aufschrift „Ohne Dich geht’s mir ganz traurig“. Sie fand gleich zwischen den Tassen „Bitte vor 10 Uhr nicht ansprechen“ und „Die Welt ist ein Irrenhaus, aber hier ist die Zentrale“ in Lindas Schrank ihren Platz. Sie ist ein Geschenk ihrer Mutter. Linda hat eine sehr große Familie. Allem, was sie mit ihrer Familie verbindet, legt sie eine besondere Bedeutung bei.
Es ist Samstag und Linda ist nicht in Hetze, wie an all den anderen Tagen, wenn sie es eilig hat, zur Arbeit zu kommen. Sie muss sich heute nicht in einen Stau stellen und ihren Kaffee im Auto trinken.
Trotzdem. Sie ist nicht ganz bei der Sache und überfliegt nur die Schlagzeilen der Berichte, ohne auf deren Inhalt einzugehen. Auf der dritten Seite bleibt sie jedoch an einer hängen.
„Wenn das eigene Kind stirbt – Eltern erzählen“ steht dort in großen Lettern.
Linda muss schlucken. Der Tod beschäftigt sie immer wieder. Sie hat keine Angst vor dem Tod, nicht vor dem eigenen. Nein. Sie weiß, dass er zum Leben dazu gehört und dass er eines Tages jeden trifft. Aber der Gedanke daran, Menschen, die sie liebt zu verlieren, treibt ihr dennoch Tränen in die Augen. Diese Zeilen zu lesen, macht sie betroffen.
Es ist schrecklich für sie, zu wissen, dass so manches Kind noch vor den Eltern aus dem Leben scheidet. Und sicherlich ist etwas Wahres daran, wenn man sagt „sie hatten das Leben noch vor sich, waren noch so jung“.
Wer aber sagt, bei älteren Menschen wäre es „weniger schlimm“, sie haben ja ein erfülltes Leben gehabt, denkt sich Linda, dem kann sie nur widersprechen. Unweigerlich schweifen ihre Gedanken ab. Hin zu ihrem Vater:
Ein Mann. Witwer mit Anfang zwanzig, drei kleine Kinder. Er kämpft sich zurück ins Leben und ist für seine Kinder da. Er lernt eine Frau kennen. Sie heiraten. Sie bringt ein weiteres Kind mit in die Ehe. Ein fünftes Kind ist ihr gemeinsames Werk und macht die Familie komplett. Alles ist auf Neuanfang gestellt.
Er arbeitet rund um die Uhr. Hält sich zurück beim Abendessen, damit alle satt werden. Es mangelt an nichts und alle sind versorgt. Auch Urlaube werden regelmäßig gemacht – die viele Arbeit dafür steckt ihm in den Knochen, aber er sagt nichts. Er freut sich an der Familie und dass es allen gut geht. Sie sollen es besser haben als er es in seiner Kindheit hatte. Und das gelingt ihm.
Braucht jemand Hilfe? Er ist zur Stelle.
Dann, irgendwann, das hat er nicht verdient, fährt ihm ein älterer, unbekannter Herr mit seinem Fahrrad vors Auto. Er kann nicht bremsen. Sie haben beide keine Chance und der Mann stirbt noch an der Unfallstelle. Er fahre bis heute bei ihm mit, sagte er einmal.
Heute ist er 63 Jahre alt. Wir schreiben 2013, das Jahr seiner Rente, die er sich so redlich verdient hätte. Ja. HÄTTE…
Wir - seine Kinder - sind groß und sozusagen „gut untergebracht“. Seine bislang sieben Enkelkinder lieben ihn alle sehr und sind regelmäßig zu Besuch. Unsere Mutter - seine Frau - ist versorgt, das Haus schon lange abbezahlt. Eine Harley-Tour auf der „Route 66“ – erledigt. AIDA-Reise – erledigt. Viel gereist, viel erlebt.
Vor anderthalb Jahren die Diagnose „Bronchialkarzinom“. Lungenkrebs. Wie viele Jahre möge er noch haben? Fünf?
In der Zeit des Rentnerdaseins kann er sich endlich nur um sich und seine Frau kümmern. Wo er wann rumwerkelt, kann er sich nun selbst aussuchen. Aufgeben wird er es nie, aber nun ist er sein eigener Herr. Eigentlich sollte er diese Zeit genießen dürfen. Aber er ist krank und oftmals schwach, auch wenn er sich kaum etwas anmerken lässt. Die Müdigkeit macht ihm zu schaffen. Er ist oft müde, doch zum Glück nie des Lebens. Er trägt seinen eigenen und unseren Schmerz in sich.
Natürlich kann man sagen, er hatte - sicherlich auch in Anbetracht seines Alters - ein „erfülltes Leben“ … viel Liebe, viel Freude, aber auch viele Rückschläge, viele Kämpfe, so manche Verluste.
Linda hängt ihren Gedanken nach. Wieder fällt ihr Blick auf die Schlagzeile.
„Wenn das eigene Kind stirbt …“
Das muss schlimm sein. Sie selbst hat keine Kinder. Vielleicht wird sie nie welche haben. Und vielleicht wird sie das nie nachempfinden können.
Was sie aber bereits schon mal erleben musste, ist der Verlust eines geliebten Menschen. Oder auch eines Tieres, das wie ein Familienmitglied war.
Allgemein wird behauptet, der Verlust seines Kindes wäre schlimmer als der eines „älteren Menschen“. Linda knüpft wieder an ihre Gedanken an, die sie hatte, als sie an der Schlagzeile hängen blieb. Innerlich sträubte sich etwas gegen diese Aussage.
Die Erlebnisse und Erfahrungen ihres Vaters bleiben jungen Menschen, die sich leider unumstritten viel zu früh verabschieden mussten, in den meisten Fällen erspart. Und sie fragt sich, ob sie nicht trotz oder vielleicht gerade wegen ihres jungen Alters ein ebenfalls erfülltes Leben gehabt haben konnten?
Linda bemerkt gar nicht, wie die Zeit vergeht und wundert sich, dass ihr Kaffee schon kalt ist, als sie einen vorsichtigen Schluck aus der Tasse nehmen will, um sich nicht zu verbrennen.
Die Trauer und der Schmerz um den Verlust eines geliebten Menschen sind für die Kinder, die ihre Eltern verlieren, nicht minder schlimm als die von Eltern, die ihre Kinder verlieren. Es gibt keine Einheit, in der man messen kann - nicht in Metern, Kilogramm oder Litern. Trauer und Schmerz sind individuell. Jeder hat ein anderes, eigenes Empfinden und jeder geht anders mit solchen Situationen um.
Es wäre anmaßend, darüber zu urteilen, denkt sie abschließend, und ebenso anmaßend zu sagen, es wäre bei „älteren“ Menschen „weniger schlimm“.
Sollte irgendwann der Tag kommen, Papa, oder auch Mama, „es wird der schlimmste meines Lebens werden,“ spricht sie unerwartet laut aus.
„Was hast Du gesagt?“
Lars reißt Linda aus ihren Gedanken.
„Ach nichts!“ sagt sie, „ich habe wohl laut gedacht! Was meinst Du? Wollen wir meine Eltern heute Abend zum Essen einladen?“