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Der Tod ist kein Geschenk
Was würde geschehen, wenn ich in die dunklen Fluten hinabtauchen würde, um niemals wieder aufzusteigen? Ich wusste es nicht, doch die Versuchung nagte an mir, wie ein besonders hungriger Dämon. Das Meer war schon immer mein Lieblings Ort gewesen. Was hatte sich bloß verändert? Es wäre so einfach… Ich könnte einfach einen Schritt nach dem anderen tun und langsam in den Horizont hineinwaten, in die ewige Tiefe. Einfach losgehen und loslassen. Schritt für Schritt. Ich stellte mir vor, wie erst meine Zehen nass werden würden. Das Wasser wäre kalt, und trotzdem ginge ich weiter. Als nächstes würde es um meine Knie schwappen, um seine gefräßige Nässe um mich zu legen. Dann könnte bereits meine Brust, in den unendlichen Weiten des Ozeans verschwinden. Und wenn das Wasser meine Kehle erreichen würde, würde ich ein letztes Mal die Luft des Lebens einatmen, um sie zwei Sekunden später wieder auszustoßen. Denn in das Reich des Todes nimmt man kein Leben mit. Man kommt mit leeren Händen und wartet geduldig ab. Nachdem die letzten Reste des Lebens von dieser Welt meinen Körper verlassen hätten, würde ich langsam den Kopf senken und mich fallen lassen. Ich hätte kein Bedürfnis wieder hinaufzusteigen, denn mich hielte hier nichts. Das Bewusstsein verließe mich und irgendwann, könnte ich meinen toten Körper sehen, denn ich stiege als Windstoß, Lufthauch oder als Böe auf. Die kalten Ströme trügen meinen leblosen Körper davon und ich sähe zu.
Alles wäre weg. Alle Erinnerungen, jeder Moment, all der Schmerz. Ich hatte es mir verdient loszulassen.
Das Meer war noch niemals gut. Das Meer war in jedem Fall unberechenbar und grausam. Doch genau das gefiel mir so daran. Die raue Kraft, mit der es Städte und Länder überrollte und sich langsam aber sicher alles wieder holte, was man ihm gestohlen hatte. Nun sollte es auch mich holen. Der Moment war gekommen, zurückzugeben. Ich löste meine Fingerspitzen vom Steg. Ganz langsam. Wohl wissend, dass das Wasser unter der Brücke zu tief zum Stehen und zu kalt zum Schwimmen war. Es war Winter. Plötzlich geschah es, ich fiel.
Ich erschrak trotz meines festen Willens. Das Wasser war eiskalt und mir begann schlagartig das Blut in den Adern zu gefrieren. So hatte ich mir das nicht vorgestellt! Hektisch bewegte ich meine Beine und Arme, und trotz meines Wunsches alles hinter mir zu lassen, erlaubte mein, vielleicht nicht mehr ganz gesunder Menschenverstand, meinem Körper nicht zu sterben. Ich wollte es so sehr, doch konnte nicht aufhören dagegen anzukämpfen. Ich schrie, und das Wasser strömte mir in den Mund. Es befüllte meine Lungen, drang in mich ein, fror an mir fest. Bald war ich nicht mehr im Stande zu kämpfen. Gelähmt von der stechenden Kälte, begann ich zu sinken.
Nun war der Augenblick da. Das Wasser stieg über meine Kehle hinweg und ging mir bald über die Nase. Die Glieder waren unbeweglich. Ich bekam keine Luft, und jetzt wollte ich es auch nicht mehr. Der Schmerz war unerträglich und doch wusste ich, dass es bald vorbei sein würde. Ich hätte die Qual ertragen müssen, um mein Geschenk zu bekommen. Denn der Tod verlangt immer einen Preis. Ich hatte den Preis bezahlt, und nun war er bereit mich zu sich zu nehmen, und die Pein von meiner Seele zu verbannen. "Nehme meinen Leblosen Körper, und lass ihn sterben, ganz und gänzlich." dachte ich. Doch dies waren nicht meine letzten Gedanken. Bevor ich vollständig die Schwelle übertreten hatte, fielen mir noch, äußerst merkwürdige Worte, meiner Großmutter ein.
„Wenn jemand stirbt, verschwindet er nicht, sondern betritt eine andere Welt.“
Ich lächelte, obwohl meine Lippen nicht mehr in der Lage waren sich zu bewegen. Eine erlösende Kraft machte sich in mir breit, und ich öffnete ein letztes Mal, unter unglaublichen Anstrengungen, die Augen. Ich schaute hinauf, durch die Decke aus Wasser, und irgendwo dort sah ich, wie die Sonne zwischen den dicken Wolken hervorkam. Erleichtert schloss ich die Augen, und diesmal schloss ich sie für immer.