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Der Tod im Kaufhaus
„Können Sie mir bitte sagen, wo ich einen Tod kaufen kann?“
„Zweiter Stock, rechts, Herrenabteilung“, antwortete mit starrem Lächeln eine junge, blonde Dame, die man zur Verbesserung ihrer Kommunikationsfähigkeit hinter das Auskunftspult gesetzt hatte.
Der Mann im schwarzen Anzug mit schwarzer Krawatte folgte dem Hinweis, schlurfte zur Rolltreppe, überwand ein anfängliches Schwindelgefühl und fuhr zur Herrenabteilung hoch.
Dort empfing den Fünfundachtzigjährigen ein korrekt gekleideter Herr mittleren Alters und fragte: „Was kann ich für Sie tun?“
Diese Freundlichkeit tat dem alten Mann, der von der Rolltreppenfahrt erschöpft war, wohl. „Ich möchte einen Tod kaufen.“
„Kommen Sie bitte mit mir, Trauerkleidung haben wir hier drüben.“
„Ich brauche keine Trauerkleidung, die habe ich an. Ich möchte jetzt den Tod.“
Fassungslos war der Verkäufer stehen geblieben. „Einen Tod haben wir in unserer Herrenabteilung nicht.“
„Wo kann ich dann einen Tod kaufen?“
„Ja, mein Herr, das wird schwierig. Ich glaube, dass wir eigentlich gar keinen Tod verkaufen. Aber gehen sie mal in die Blumenabteilung, vielleicht haben die einen Tod.“
Der alte Mann fuhr zur Blumenabteilung, die im Erdgeschoss war, hinunter.
Dort strahlte ihn eine bildhübsche Auszubildende an: „Was kann ich für Sie tun?“
Einige Sekunden musste der alte Mann verschnaufen, dann brachte er sein Anliegen mit brüchiger Stimme vor: „Ich möchte einen Tod kaufen.“
„Oh, wir haben schöne Trauerkränze. Ich zeige Ihnen ein paar Fotos. Wir fertigen nämlich Kränze immer nach den ganz individuellen Vorstellungen unserer Kunden an. Deshalb haben wir keine Musterkränze ausliegen.“
Sie holte das Buch mit den Fotos, noch bevor der Mann seinen wirklichen Wunsch erklären konnte.
„Hier, das ist unser schönster Kranz mit der Schrift auf den Schleifen: In treuer Liebe – Dein Mann.“
„Meine Frau ist schon lange tot.“
„Wer ist dann gestorben?“
„Sie haben mich nicht verstanden. Ich will keinen Kranz. Ich will einen Tod.“
„Was für einen Tod?“
„Sehen Sie, junge Frau, mein Arzt hat mir mitgeteilt, dass ich unheilbaren Blutkrebs habe. Ich lebe allein, habe keinen Menschen, der sich um mich kümmert. Ich möchte jetzt sterben. In ihrem Kaufhaus bekommt man alles, damit werben Sie doch immer. Deshalb bin ich gekommen und möchte meinen Tod kaufen.“
Ziemlich erschöpft von der langen Rede geriet er ins Wanken, stützte sich auf das Mädchen und ließ sich von ihm zu einem Stuhl schleppen, auf dem er einige Minuten sitzen blieb.
Das Mädchen hatte ein Glas Wasser und die Abteilungsleiterin geholt. Als sich der alte Mann erfrischt hatte, sagte die ältere Floristin über ihn gebeugt: „Also, mein Herr, in dieser Abteilung führen wir keinen Tod. Aber gehen sie in die Möbelabteilung im fünften Stock. Vielleicht haben die so etwas.“
Nun sank dem alten Käufer der Mut, denn er fühlte nicht mehr viel Kraft in sich, fünf Stockwerke mit der Rolltreppe hochzufahren, aber er wollte sein Leben unbedingt beenden, sodass er diese Qual auf sich nahm.
In der Möbelabteilung setzte er sich auf ein Sofa und nickte ein. Nach zwei Stunden stieß ihn ein Verkäufer an und fauchte unwirsch: „Für Penner ist hier kein Platz. Geh doch zum Bahnhof.“
„Entschuldigen Sie. Ich bin kein Penner. Ich möchte einen Tod kaufen.“
„Was soll der Unfug, Opa. Geh nach Hause und schlaf’ deinen Rausch aus.“
„Man hat mir in der Blumenabteilung gesagt, sie würden in der Möbelabteilung einen Tod verkaufen. Und den möchte ich jetzt.“
Der alte Mann erhob seine Stimme in der Hoffnung, dass ihn andere Menschen hören und unterstützen würden.
„Ja, ja, ich hole den Chef.“ Der Möbelverkäufer eilte fort und kam nach wenigen Minuten mit einem fülligen Herrn zurück, der auf den alten Mann einredete. „Sie wollen also einen Tod. Den haben wir nicht auf Lager. Aber gut, wir können natürlich alles besorgen. Wenn Sie nur Ruhe behalten wollen. Kommen Sie in mein Büro. Das ist im zweiten Stock, Ausgang C, dritte Tür rechts. Sagen Sie meiner Sekretärin, sie hätten einen Termin mit mir. Ich komme gleich nach.“
Schweratmend schleppte sich der alte Mann wieder zur Rolltreppe. Der Schwindel war so stark, dass er sich beidhändig an den Laufbändern festhalten musste.
Ein eiliger junger Mann stieß seine linke Hand mit der Bemerkung „Rechts stehen, links gehen“ zur Seite. Der alte Mann verlor den Halt und stürzte auf die Treppe. Die Eisenstufen fuhren ihn hoch. Der Stoff der schwarzen Anzugjacke verfing sich in den Ritzen, in denen die Eisenstufen verschwanden, wickelte den Körper immer weiter in den schwarzen Stoff, bis die Mechanik sich wegen des großen Widerstandes, den sie verspürte, ausschaltete und die Rolltreppe zum Stehen brachte.
Der alte Mann lag da, eingepresst in seinen schwarzen Anzug mit offenem Mund, den ein glückliches Lächeln umspielte, und mit weit geöffneten Augen, die reglos auf die sich um ihn sammelnden Menschen starrten, bis sich jemand niederbeugte, Puls und Herz kontrollierte und endlich feststellte: „Der Mann ist tot.“
Vier Tage nach diesem Vorfall im Kaufhaus fasste sich Marese Busenik, die junge Floristin, ein Herz, zum Direktor des Kaufhauses zu gehen und ihm ihre Idee mitzuteilen, die das Kaufhauswesen revolutionieren und den Gewinn maximieren würde.
Sie blickte im Umkleideraum für Angestellte in den Spiegel, legte eine Haarsträhne von links nach rechts, eine andere von der Mitte nach hinten, zog den Lippenstift nach und kontrollierte den Sitz ihres hautengen weißen Pullovers.
Vor dem Büro des Direktors straffte sie ihren Leib und trat ein. Selbstzufrieden bemerkte sie, wie sich ihr Erscheinungsbild bewährte. Der Direktor, sonst ein mürrischer Mensch, wurde sichtlich von ihrem Anblick erfreut.
„Nehmen Sie bitte Platz, Frau ... Frau ...“
„Mein Name ist Marese Busenik.“
„Was gibt es, Frau Busenik?“
„Vor ein paar Tagen ist dieser alte Mann hier gestorben.“
„Ja, ja, richtig. Peinlich war das. Eine Schlagzeile verkündete: Tod im Kaufhaus. Das ist keine gute Reklame.“
„Da ist mir eine Idee gekommen.“
„Oh, das ist aber schön, Frau Busenik.“
„Warum verkaufen wir keinen Tod?“
„Was, wieso wir keinen Tod verkaufen? Das geht doch nicht. Wir können die Leute nicht - umbringen!“
„Sehen Sie, Herr Direktor, es gibt jetzt viele, alte Menschen. Viele von ihnen sind über achtzig Jahre, krank, einsam, die wollen nicht mehr leben.“
„Ja, aber die Gesetze!“
„Der Staat will diese armen alten Leute doch auch los werden. Sie kosten viel, Krankenkasse, Renten, Pflege, Altenheime.“
„Aber das Menschliche!“
„Es ist menschlicher, ihnen einen schönen Tod zu einer Zeit, die für sie angenehm ist, zu verkaufen, als dass sie in einem Pflegeheim so dahindämmern und von Schmerzen gequält werden wie meine Tante Aurelia.“
Sie begann zu weinen. Erschüttert kramte der Direktor aus seiner Hosentasche ein buntes Taschentuch hervor und wischte von den geröteten Wangen seiner Angestellten die Tränen.
„Danke, danke, Herr Direktor.“
Ein erneuter Weinkrampf ließ den Körper der Frau Busenik so erbeben, dass der Direktor sie zu weiterer Beruhigung und Entspannung zu einem großen, schwarzledernen Sofa geleiten musste.
„Danke, Herr Direktor, danke. Es geht schon wieder. Sehen Sie, wenn die Gesetze so geändert werden, dass jeder Mensch darüber bestimmen darf, wie lange er leben will, dann ist das doch in Ordnung.“
Der Direktor hatte sich zu ihren Füßen auf das Sofa gesetzt, um ihr bei einem neuen Anfall schnell behilflich sein zu können.
„Es widerspricht den Menschenrechten, wenn Menschen nicht einmal den Zeitpunkt ihres Todes selbst bestimmen können“, erläuterte die Floristin.
„Ja, das ist richtig. Ich möchte ihn ja auch bestimmen. Ich überlege ständig, wie das zu schaffen ist.“
„Sehen Sie, Herr Direktor, sehen Sie! Dieses Recht auf den eigenen Tod für alle Menschen zu erkämpfen, das ist für unser Kaufhaus eine schöne und lohnende Aufgabe.“
Das sah der Direktor ein und veranlasste alles Nötige.
Wenig Zeit verging, bis ein Gesetz beschlossen wurde, nach der es den Bürgern des Landes erlaubt war, unter ärztlicher Aufsicht den Zeitpunkt ihres Todes selbst zu bestimmen.
Und noch im selben Jahr eröffnete das Kaufhaus eine Abteilung „Schöner Sterben“, deren Leiterin Frau Marese Busenik wurde.
Der Ansturm war riesig.
So ziehen nun jeden Tag ab zehn Uhr kleine Gruppen schwarzgekleideter Menschen, den Sterbewilligen in einem Rollstuhl schiebend oder auf einem fahrbaren Bett transportierend, durch den Haupteingang in den Konsumtempel ein, schreiten langsamfeierlich durch die sich teilende Menge von Käufern, vorbei an der duftenden Parfümerie, vorbei am Rauchwaren- und Zeitungskiosk, vorbei an der Teppichabteilung und den Schmuckständen zum schwarzgold drapierten Portal der Sterbeabteilung. Im Abschiedsraum tauschen sie mit dem Sterbenwollenden letzte Worte. Anschließend wird dieser in den Sterberaum geschoben oder von einem Angestellten geführt, wo ihm ein Arzt eine Spritze gibt, deren Substanz das Leben auf angenehme Weise beendet. Im Beerdigungsraum erfolgt dann die Feuerbestattung oder die Einsargung. In der Kapelle können die Gläubigen ein Requiem lesen lassen, um gleich darauf im unterirdischen Friedhof den geliebten Verstorbenen zu begraben.
Der Gewinn des Kaufhauses verdoppelte sich im ersten Jahr, im zweiten Jahr verdreifachte er sich. Die Menschen fühlten sich an diesem Ort des Konsums wohl, im Leben wie im Tod.
Der Direktor und das Fräulein Busenik waren über das Jahr ein Paar.