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- 01.09.2005
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Der Thomaskomplex
I wish I could eat your cancer when you turn black.
Nirvana, Heart-Shaped Box
Schneid das Bein ab, bevor es den Rest vergiftet. Der Gedanke war sinnlos, denn der Tod wucherte in den Eingeweiden ihres Vaters, nicht in dessen Beinen. Trotzdem blitzte die Forderung so unverhofft in Axels Verstand auf, dass ihm ein Laut der Überraschung entfuhr. Genauso blitzartig verschwand die Eingebung aber auch wieder, und die Fortsetzung der Schmierenkomödie vor ihm beanspruchte erneut seine volle Aufmerksamkeit.
Nichts anderes war es, eine Schmierenkomödie, ein groteskes Narrentheater, selbst wenn der Initiator fast gänzlich auf Ethnokitsch zur atmosphärischen Untermalung verzichtet hatte. Keine Trommeln, keine Gebetsformeln, stattdessen Andrea Berg aus den Lautsprechern eines Laptops neben dem Tisch, auf dem der Patient lag. Der Patient war ihr Vater, er mochte Andrea Berg, was von ihm übrig war, mochte sie vielleicht noch immer. Der Mangkukulam hatte Axel und Kathrin nach solchen Dingen gefragt, ihr Vater sollte sich wohl fühlen. Darum stand der Tisch unter einem von der Decke hängenden Wald aus Duftbäumen, die den Geruch eines Neuwagens verströmten, denn ihr Vater mochte auch Autos, er selbst roch nach Desinfektionsmitteln und Pisse.
Ein Mangkukulam war ein Hexer, aber er beherrschte das Deutsche gut genug, um die wenig schmeichelhaften Assoziationen zu kennen, die das Wort in der Sprache seines Gastgeberberlandes auslöste. Darum ließ er sich von Axel und Kathrin Christopher nennen.
Der Patient sah in dem Zimmer umher, an den Wänden hingen Bilder von Geheilten, die dem Mangkukulam Christopher die Hand schüttelten, Grußkarten von Geretteten, Dankeschöns für die zweite Chance, Gott schütze Sie, egal welcher. Ihr Vater blickte von den Bildern zu Kathrin und Axel und lächelte, da seht ihr es, schien er sagen zu wollen, keine Atheisten im abstürzenden Flugzeug. Axel lächelte zurück, er nickte, das wird schon, wir tun das Richtige. Christopher strich mit den Handflächen über den Bauch seines Patienten, die fleckige Haut, die Axel bereits jetzt so grau schien wie die der Leiche, die ihr Vater bald sein würde.
Die Hände erstarrten kurz, bevor sie anfingen zu zittern. „Ich kenne dich“, sagte der Mangkukulam. Er blickte hoch zu Axel und Kathrin. „Ich sehe ihn.“
Kathrin schluchzte, sie griff Axels Hand und drückte sie fest, als wären sie wieder Kinder, der Trost des großen Bruders nach einem Albtraum. Diesen hier träumten sie gemeinsam weiter.
Wie zum Kuss presste Christopher die Lippen auf den Bauchnabel ihres Vaters. Die Augen weiteten sich, als sein Mund sich mit etwas zu füllen schien und die Wangen davon aufgeblasen wurden. Der Mangkukulam löste den Kuss, er sah jetzt aus wie ein Hamster, ein dunkler Hamster mit Stirnglatze und Nickelbrille, der sich die Backen vollgestopft hatte. Axel unterdrückte ein Auflachen. Christopher spuckte den Inhalt seiner Hamsterbacken in eine hölzerne Schüssel, die unter dem Tisch stand. Es war gelb und rot und spritzte heraus wie Durchfall, die Duftbäume kamen nicht gegen den Geruch verwachsener Körperzellen an. Kathrin schlug die Hände vors Gesicht, in Axels Kopf blitzte erneut ein uneingeladener Gedanke auf: Es ist unser Bruder, er ist in ihm gewachsen, weil Mama schon so lange tot ist. Der Mangkukulam küsste seinen Patienten noch dreimal und befand, ihn damit gereinigt zu haben.
Nichts in Christophers Büro deutete auf den Hokuspokus hin, mit dem er den monströsen Geländewagen finanzierte, der Axel in der Einfahrt aufgefallen war. Auf dem Schreibtisch standen Bilder von Frau und Kindern, der Hexer war mit einem Pokal und einem Tennisschläger zu sehen, breit grinsend.
„So hat er auch geguckt, als wir ihm das Geld gebracht haben“, sagte Axel und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Hat er nicht“ sagte Kathrin. Nach der Zeremonie hatte sie unablässig geweint, noch immer versuchte sie vergeblich, ihren Mukus in der Nase zu behalten.
„Sobald wir außer Sichtweite waren, hat er genau so geguckt, mit Sicherheit“, beharrte Axel. „9000 Euro.“ Er tippte sich an die Stirn. „Für das Geld hätten wir mit Papa lieber nochmal in den Urlaub fahren sollen.“
„Wo hättest du ihn denn hinschleppen wollen, in seinem Zustand?“, fragte Kathrin. „Er glaubt an diesen Kram. Hast du sein Gesicht gesehen, als es rauskam? Wie glücklich er war?“ Axel konnte den Blick nicht von dem breiten Grinsen mit den schmerzhaft weißen Zähnen nehmen.
„Er glaubt nicht daran“, sagte er, ohne Kathrin anzusehen. „Weißt du noch, dass wir früher nicht mit unseren Freunden in den Kindergottesdienst durften? Er wollte nicht, dass wir dem Gesabbel in einem Alter ausgesetzt werden, in dem wir uns noch gar nicht wehren können. Und jetzt glaubt er an sowas?“ Axel zeigte auf das Tennisfoto, als wolle er in Frage stellen, dass Christopher in seiner Freizeit diesem Sport frönte. „Das glaubst du doch selbst nicht.“
„Und warum sind wir dann hier?“
Axel hatte im Krankenhaus neben Vaters Bett gesessen und seine Hand gehalten, während die Therapie ihn Sitzung für Sitzung in einen haarlosen Zwerg aus einem Märchen verwandelte, in dem der Wolf den Jäger in Stücke reißt und Rotkäppchen vergewaltigt. Vaters Hand war viel kleiner gewesen als seine, deshalb hatte Axel sich in den Schlaf geweint und wieder mit dem Rauchen angefangen.
„Er hat Angst“, sagte Axel. Es war nicht mehr als ein Flüstern. „Er glaubt, dass er glaubt, weil er Angst hat und nicht weiß, was er sonst noch tun soll.“ Ohne sich seiner Schwester zuzuwenden streichelte Axel ihre Schulter. „Er hat Angst“, wiederholte er, unsicher, ob sie ihn beim ersten Mal verstanden hatte, denn schließlich verstand er selbst nicht.
Sie fuhren zusammen, als das Geräusch der sich öffnenden Tür die Stille zerriss. Der Mangkukulam setzte sich hinter den Schreibtisch und stellte etwas darauf ab, das Axel als die hölzerne Schüssel wiedererkannte, die den bösen Wolf aufgefangen hatte. Nun, angeblich hatte sie das getan.
Es war heiß draußen, windstill und wolkenlos, kein Kindergeschrei trotz Sommerferien, viel zu heiß. Das Fenster des Büros war geöffnet, die Fliegen fanden schnell zu der Leckerei. Christopher verscheuchte sie und deckte die Schüssel mit einem Blatt Papier zu. Seine hohe Stirn glänzte vom Schweiß, sein Lächeln erstarb, als er Kathrin ansah.
„Warum weinen Sie?“, fragte er. Seine Handflächen zeigten in einer Geste der Hilflosigkeit nach oben. „Jetzt noch? Wir haben es fast geschafft.“
„Fast?“, fragte Axel.
Der Mangkukulam nickte. „Vielleicht der schwierigste Schritt. Für Sie. Wir müssen sichergehen, dass der Aswang nicht zurückkommt.“
Axel fühlte den Zeiger auf einem imaginären Temperaturdruckmesser in seinem Inneren in den roten Bereich vorstoßen.
„Das kostet wahrscheinlich nochmal ein paar tausend Euro, hab ich recht?“
Der Gegenüber sah ihn verständnislos an. „Nein, das Geld hatten Sie mir doch bereits gegeben, damit sind wir durch.“
Axel wartete auf ein „Aber“. Scheinbar aus dem Nichts zog Christopher ein buntes Stofftaschentuch hervor und trocknete damit sein verschwitztes Gesicht.
„Gut“, sagte Axel. Er trommelte ungeduldig mit dem Zeigefinger auf seiner Kniescheibe. „Was tun wir also, um sicherzugehen, dass es nicht zurückkommt?“
„Wer von ihnen ist das erste Kind?“, fragte Christopher. „Wer wurde zuerst geboren?“
Axel zeigte auf wie in der Schule. „Das bin ich.“
Der Mangkukulam nahm den Bogen Papier von der Schüssel. „Dann beenden Sie es, indem Sie ihren Vater rächen.“
Axel hielt den Anblick nur wenige Sekunden durch, dann wurde der Brechreiz unerträglich. Er warf sich zurück in den Stuhl, versuchte, sich auf das Weiß der Decke zu konzentrieren. Als der Speichel nicht länger seinen Mund flutete, sah er wieder zu Christopher und sagte: „Soll ich Ihre Schlachtabfälle da verprügeln, oder was?“
Der Mangkukulam sah hilflos zu Kathrin, seiner Fürsprecherin von der ersten Begegnung an. Er schüttelte den Kopf. „Dieser Dämon hat versucht, ihren Vater zu verschlingen“, sagte er und legte die Hände an die Schüssel. „Es ist ihre Pflicht, ihn zu rächen. Damit schließt das Ritual ab, und nur so ist es vollständig. Verschlingen Sie den Dämon. Es wird schwieriger, je länger Sie warten.“
Er schob die Schüssel über den Tisch auf Axel zu. Die Hitze ließ den Inhalt sieden, ein Mundvoll Magensäure schoss Axels Speiseröhre hinauf, in seiner Schläfe pochte ein stechender Schmerz. Er presste die Lippen zusammen und schluckte. Während er wütend zur Tür stapfte, eine Faust an den Lippen, schrie er: „Sind Sie nicht ganz dicht? Sind Sie pervers oder was? Reicht es Ihnen nicht, verzweifelten Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen?“
„A-Aber ...“, stammelte Christopher. „Aber wenn Sie jetzt nicht–“
„Nein, nicht ich“, sagte Axel und zeigte auf den Mangkukulam. „Wenn Sie jetzt nicht die Schnauze halten–“
„Axel, bitte–“
„Halt den Mund, Kathrin!“
Axel atmete tief ein und riss die Tür auf, vor der ein Gespenst auf ihn wartete. Sein grauer Vater, das einst passende Hemd und die Hose scheinbar zwei Nummern zu groß, der Schädel nur noch stellenweise von Flaumhaar bedeckt, die Kopfhaut voller kranker Flecke.
„Oh!“, entfuhr es Christopher. „Bitte legen Sie sich wieder hin, mein Freund! Der Aswang hat Sie sehr geschwächt, und wir haben ihn gerade erst vertrieben.“
„Es ist wirklich weg“, sagte ihr Vater leise. Er streichelte sich über den Bauch. „Es ist wirklich weg. Ich habe keine Schmerzen mehr.“
Axel roch das Verderben in dem Atem, der ihm entgegenschlug. Er legte die Hände an die fahlen Wangen seines Vaters. Sie waren so kalt, als hätte die Seele einfach nur vergessen, aus dem bereits verendeten Körper auszuziehen.
„Es ist wirklich weg.“ Seines Vaters Tränen flossen heiß über Axels Hände, erinnerten ihn daran, dass der Mann vor ihm nur so gut wie tot war.
Er nickte. „Ja, ich habe es auch gesehen.“
„Wirst du es tun?“
Der Blick seines Vaters war noch immer leer und kraftlos, aber Axel glaubte, irgendwo darin eine winzige Flamme lodern zu sehen, die bei ihrem letzten Augenkontakt noch nicht da gewesen war.
„Natürlich“, sagte er. Als Kind hatte Axel sich am ausgestreckten Arm seines Vaters festgehalten und daran Klimmzüge gemacht. Jetzt umarmte er ein Wesen, dessen Knochen er durch die Haut stechen spürte. Kathrin stolperte zu ihnen herüber, legte eine Hand auf Axels Schulter und eine auf die ihres Vaters, sie presste ihre Stirn an seine Schläfe. Der Mangkukulam stand auf und klatschte, der Regisseur erkannte die Genialität seiner eigenen Aufführung an. Dich sollte ich verschlingen, dachte Axel.
Er warf den Inhalt der Schüssel in die Tonne hinter dem Haus. Der stinkende Schmand fiel auf ein Bett aus Kartoffelschalen und Hähnchenresten, abgemähtem Gras und vergorener Milch.
Axel betrachtete die Schüssel, ein Stück Holz wie aus einem anderen Jahrhundert. Vielleicht ein anderes Jahrtausend, eine andere Dimension. Wahrscheinlich aber nichts weiter als Nippes, mit dem Christopher in seiner Heimat Touristen übers Ohr gehauen hätte. Hier hatte er eben sie übers Ohr gehauen.
Axels Finger krallten sich wütend in den falschen Gral, von dem Christopher behauptete, er habe das Leiden aufgefangen. Er wollte dieses Sinnbild des Betruges, dessen Opfer sie in ihrer Verzweiflung so bereitwillig geworden waren, auf den Boden schmettern, bis es in tausend Teile zersplittert war. Stattdessen würde er die Schüssel abwaschen und seinem Vater auf den Tisch neben dem Bett stellen, auf die Zeitung, die er schon längst nicht mehr las. Er würde weinen beim Anblick von Vaters hoffnungsvollem Blick, er würde bis nach der Beerdigung warten und die Schüssel in Christophers Gesicht schmettern, bis es in tausend Teile zersplittert war.
Das Ding aus der Schüssel am Fußende von Axels Bett. Er erkannte es in der Dunkelheit, hatte den Geruch bereits in der Nase, bevor er die Augen öffnete. Es hatte einen blinden, milchigen Blick und ein lichtes Fell aus Gras. Es sagte: „Wir haben es fast geschafft.“ Seine spitzen Zähne waren aus Holz, es warf sich auf Axels Bein und verbiss sich darin. Die Erwartung des Schmerzes ließ ihn aus dem Traum hochschrecken.
Er rauchte in der Küche vier Zigaretten, bevor er sich eine Jogginghose und Hausschuhe anzog und durch das Treppenhaus nach unten in den Hof schlich. Er öffnete die Tonne. Selbstverständlich war es noch immer da, die Maden hatten es entdeckt. Sie ließen es pulsieren, als hätte es einen Herzschlag.
Ich war nicht bei ihm, war Axels erster Gedanke, als er Kathrin schluchzen hörte. Er griff das Telefon so fest, dass das Plastik knarzte. Sie schrie seinen Namen, Axel sagte: „Ich bin hier.“
Er ist weg, das war es, was sie gesagt haben musste. Er war immer für uns da, nachdem Mama so früh gestorben war, aber jetzt gibt es nur noch uns.
„Wann?“, fragte Axel, als ob das irgendeine Bedeutung hätte.
„Was meinst du mit wann?“, fragte Kathrin.
„Wann ist er gestorben?“, fragte Axel.
„Du hörst nicht zu, Axel! Es ist weg! Ich habe gerade mit dem Arzt gesprochen! Bei der Blutabnahme haben sie gedacht, ihre Computer spinnen, also haben sie weitere Untersuchungen gemacht, und der Arzt, der es mir erklärt hat, hat ausgesehen, als wäre ein Ufo in seinem Garten gelandet!“
Kathrin schluchzte und lachte gleichzeitig auf. „Es ist weg, Axel! Papa ist gesund! Er wird leben! Wann bist du hier?“
Wir haben es fast geschafft.
„Gleich“, sagte Axel.
„Wie gleich? Papa will dich sehen!“
Axel legte auf. Er zog die Möglichkeit in Betracht, den Anruf geträumt zu haben. Der Speicher mit den entgegen genommenen Anrufen zeigte die Nummer seiner Schwester. Fünffach, sechsfach, achtzehnfach. Vaters Siechtum hatte sie nach Jahren der Funkstille einander so nahe gebracht, wie sie es seit der Kindheit nicht mehr gewesen waren. Seit Kathrins letztem Anruf war nicht einmal eine Minute vergangen.
Vielleicht hatte auch Christopher angerufen und seine Stimme verstellt. Axel lachte auf und schlug sich mit dem Telefon gegen die Stirn.
Er wird leben!
Als hätte auf dem Nachhauseweg vom Kindergottesdienst eine Stimme aus einem brennenden Busch zu ihm gesprochen. Was hätte Papa dazu gesagt?
Ich habe keine Schmerzen mehr.
An einem Abend hatten sie sich nach dem Krankenhaus gemeinsam betrunken, beide hatten sie das Wenn-ich-noch-eins-trinke-wird-mich-das-wohl-kaum-umbringen-Gen von ihrer Mutter. Alle wussten sie es, auch Vater, keiner sprach darüber. Mutter hatte es umgebracht.
Axel hatte Whiskey getrunken, der ihn anders als Bier nicht nur sentimental und dumm sondern auch aggressiv und ordinär machte. Er hatte diese Variante gewählt, weil Whiskey, da unterschied er sich ebenfalls vom Bier, ganze Tagesabschnitte aus seinem Gedächtnis zu löschen vermochte. In letzter Zeit hatten sich zu viele Erinnerungen in Axels Kopf angesammelt, denen er eben jenes Schicksal wünschte.
Er hatte mit den Ellenbogen auf der Küchenarmatur gelehnt, einmal waren seine Beine bereits unter ihm weggesackt. Kathrin hatte gesagt, er solle ins Bett gehen, sie wollte sich auf das Sofa im Wohnzimmer legen. Aber einer noch, hatte Axel gedacht, wird mich wohl kaum umbringen, und wie er Kathrins bleiches Gesicht da im Zigarettenqualm hatte wabern sehen, war es ihm anklagend vorgekommen. In diesem Moment hatte er gewusst, dass sie dachte, es sei alles seine Schuld, dass Papa krank geworden war, weil er, Axel, der geliebte Erstgeborene, das Studium abgebrochen hatte und keine Frau länger als sechs Monate halten konnte, was seine durchschnittliche Verweildauer in Jobs deutlich überstieg.
Er hatte ein Messer aus der Spüle genommen, mit Pizzaresten an der Klinge, er hatte die Hose heruntergelassen und gesagt: „Wenn ich Papa retten könnte, indem ich mir die Eier abschneide, glaubst du nicht, dass ich es dann tun würde?“
Kathrin war aus der Küche getorkelt und hatte gelallt: „Geh ins Bett, Axel, du wirst schon wieder ekelhaft.“
Hier war sie nun, seine Gelegenheit. Ihm war schwindeling und übel, weil er nüchtern war. Christopher hatte die Prinzipien, nach denen Axels Welt bis zu Kathrins Anruf geordnet gewesen war, auf eine Art verschoben, wie kein Whiskey dieser Welt es vermochte. Christopher hatte den Busch angezündet, er hatte ihm ein Messer gereicht, mit dem er sich die Eier abschneiden konnte. Egal, wie betrunken er an jenem Abend auch gewesen sein mochte, er hatte den Satz so gemeint, wie er ihn gesagt hatte. Er würde es tun, um Papa zu retten. Er würde alles tun.
Er hörte den großen Motor leiser werden, als er vor die Haustür trat. Es war noch recht früh am Morgen, aus einer Wohnung hatte er beim Gang durch das Treppenhaus leise einen Fernseher gehört. Die Nachrichten. Ein unbedeutendes Hintergrundgeräusch, Bomben irgendwo, nichts war im Moment wichtig, außer, dass er es zuende brachte, wie der Mangkukulam es genannt hatte. Ihr Vater würde leben, doch seltsamerweise verringerte das nicht Axels Wunsch, auf den Hexer einzuschlagen, bis er seine weißen Tenniszähne auf sein weißes Tennishemd spuckte. Er hat uns verarscht, eben weil er uns nicht verarscht hat. Gedanken wie dieser summten Fiebermücken gleich in seinem Hirn, nur der eine gab wirklich einen Sinn: Ich muss es essen.
Die Tonne mit dem braunen Deckel stand nicht an ihrem Platz. Axel stöhnte entsetzt auf, das schwächer werdende Motorengeräusch gab jetzt einen Sinn. Der Computerfritze aus dem ersten Stock war in diesem Monat an der Reihe, die Behälter an die Straße zu stellen.
Axel lief in Richtung des schwindenden Brummens und sah den organgefarbenen Laster um die Ecke biegen, außer Sichtweite, außer Reichweite, das gerade erst wiedergewonnene Leben seines Vaters erneut entführend.
Er rannte die Treppen hinauf zurück in seine Wohnung, ignorierte das Brennen in den Lungen, der Sportskanone in ihm waren vor langer Zeit die Kugeln ausgegangen. Immer musste er seine Autoschlüssel suchen, immer entfuhren ihm dabei früher oder später Flüche über die eigene Schusseligkeit, die er durch zusammengebissene Zähne zischte. Die Taschen der Hose, die er am Vortag getragen hatte, leer. Auf dem Nachttisch neben dem Bett, nichts. Wie auch immer er dahingekommen sein mochte, einmal hatte der Schlüssel auf dem Rand der Badewanne gelegen, doch auch dort standen diesmal nur zwei Plastikverpackungen, eine mit Duschgel, eine mit Shampoo. Axel stieß einen frustrierten Schrei aus. Durch die offen stehende Wohnungstür hörte er, wie jemand weiter unten im Haus rief: „Hallo? Alles in Ordnung?“
Die Küche. Seit Wochen schon war jeder Tag mit fünf bis zehn letzten Zigaretten vor dem Schlafengehen geendet, Axels Laptop stand auf dem Küchentisch, daneben eine Tasse mit einer Pfütze kalten Kaffees, und daneben der Schlüssel. Das Bund klimperte in seinen Fingern, Axel schloss seine Faust darum, als wolle er es nie wieder loslassen. In der Hoffnung, es nicht zu brauchen, aber auch entschlossen, jetzt kein Risiko mehr einzugehen, öffnete Axel eine Küchenschublade und nahm ein Brotmesser heraus. Es war wohl das Messer, dass den neugierig glotzenden Alles-Okay-Rufer bei Axels Lauf durchs Treppenhaus dazu veranlasste, abrupt die Wohnungstür zuzuschlagen.
Axel war oft schimpfend im Schritttempo hinter Müllwagen hergefahren, in Straßen, in denen sich keine Gelegenheit zum Überholen ergeben hatte. Diesmal jubelte er, als er nach kurzer Fahrt den dahinschleichenden Abfalltransporter vor sich hatte. Er hupte.
Ein Müllmann, der gerade eine Tonne eingeladen hatte, bedeutete Axel mit einer Geste, vorbeizufahren. „Ist doch alles frei!“, rief er und zuckte die Schultern. Axel stieg aus. Der Müllmann, ein hagerer Junge mit einem Ring in der Augenbraue, stolperte ein paar Schritte zurück und stieß die eben entleerte Tonne um. Das Hundegebell, wahrscheinlich entfacht vom Krach des Motors, wurde lauter und schriller.
„Ich kann das nicht erklären, aber ich nehme den Wagen mit“, sagte Axel. Er ließ die Messerspitze auf den gepiercten Müllmann zeigen. Der nickte, schluckte, musterte den Aggressor von oben bis unten und lief davon. Axel wollte ihm hinterherrufen, dass er ihm nichts Böses wolle, dann blickte er an sich herab und wurde gewahr, dass Kathrins Anruf ihn aus dem Tiefschlaf gerissen hatte. Er trug nur die Unterhose, in der er geschlafen hatte, und hielt ein Messer mit dreißig Zentimeter langer Klinge in der Hand. Er konnte nicht anders, als über sein eigenes bizarres Erscheinungsbild zu kichern.
Er zerrte den Fahrer aus der Kabine, einen dicklichen Mann, der selbst für Axels an Rauch gewöhnte Nase noch nach Zigarettenqualm roch, und der mit russischem Akzent darum flehte, dass Axel ihm nichts tue.
„Es tut mir leid“, sagte Axel. „Aber es geht ...“ Wieder kicherte er, diesmal ob der Floskel, die auf seiner Zunge lag. „Es geht wirklich um Leben und Tod, und Sie würden mir niemals ihren Wagen überlassen, wenn ich ich Sie einfach danach fragen würde, oder?“
Bei allem, was er sagte, tanzte das Messer vor dem Gesicht des Fahrers, in dessen Schritt das Orange der Arbeitskleidung sich verdunkelte.
„Junge“, wimmerte er kopfschüttelnd. „Du klaust Müll.“
„Zeigen Sie mir, wie man es ausleert.“
Er fuhr raus aufs Land, bis er in alle vier Himmelsrichtungen blickend nur noch Felder sah, keine Häuser. Der Mais reckte sich überkopfhoch gen Himmel, die Ernte stand bevor. Es würde nicht lange dauern, bis er einen Polizeiwagen den heißen Sommerstaub auf den Feldwegen aufwirbeln sähe, die Beamten ihn in Handschellen mit auf die Wache nahmen, wahrscheinlich, um ihn anschließend einer geschlossenen Abteilung zu überantworten. Doch zumindest hatte er hier draußen mehr Zeit, als hätte er den entscheidenden Schritt zur Rettung seines Vaters in der Stadt getan.
Axel drückte die Knöpfe auf dem Armaturenbrett in der Reihenfolge, die ihm der Russe gezeigt hatte. Bevor er zum letzten Knopf kam, ließ ihn ein Geräusch aus dem Stauraum hinter sich aufhorchen. Zuerst dachte er, er habe sich das Trommeln einer kleinen Faust gegen die Metallwand nur eingebildet, doch es schwoll an und wurde schließlich untermalt von einem Fauchen.
„Aswang“, hörte Axel sich selbst flüstern, unsicher, ob es wirklich seine Stimme war, die er gerade gehört hatte. Er nahm das Messer vom Beifahrersitz, studierte die Klinge, vergewisserte sich ihrer Schärfe. Das Fauchen, das zunächst verängstigt geklungen hatte, wurde aggressiver, zu den Schlägen gesellte sich ein Kratzen auf Metall. Aswang.
Axel drückte den Knopf. Die schwere Mechanik brüllte, das schwarze Flügelschlagen verschreckter Krähen. Feldwegkiesel bohrten sich stechend in die Sohlen von Axels bloßen Füßen, die Sonne brannte auf der nackten Haut. Es stank nach vollgeschissenen Windeln und verrottetem Gemüse, die Krähen kehrten neugierig zurück und kamen näher.
Ein flacher Hügel aus Unrat und Ungeziefer. Axel trat nach einer Krähe, der Aswang gehörte ihm, nicht weil er das wollte, sondern weil die Liebe zu seinem Vater ihm keine andere Wahl ließ.
Nach einigen Schritten versank er bis zu den Knien in grünem Fleisch und Gartenabfällen. Die Maden kitzelten an seinen Schenkeln. Saurer Saft schoss Axels Speiseröhre hinauf, ein paar Tropfen liefen sein Kinn hinab. Mit dem Messer stocherte er in dem Haufen herum, in der Hoffnung, den Aswang zu finden, bevor die bereits jetzt vor seinen Augen tanzenden schwarzen Blitze ihn erblinden ließen, bevor der in der Hitze garende Gestank ihm die Sinne nahm.
Oder bevor der Aswang ihn fand.
Axel stach immer wieder zu, als er das letzte Mal die Klinge aus dem Abfall zog, hatte er einen wurmstichigen Käse aufgespießt. Ein Geräusch wie das Niesen eines Hundes erklang, die Krähen hüpften erschrocken zurück.
Das hatte der Mangkukulam gemeint, als er sagte, es würde schwerer werden, je länger Axel wartete. Er hätte den Aswang sofort nach dessen Geburt verschlingen sollen, als er schwach gewesen war, vielleicht verwirrt, eben erst aus der Wärme von Vaters Gedärm ins kalte Licht der Welt gezerrt.
Axel watete in Richtung des Niesens. Zunächst dachte er, die Insekten würden ihm folgen, doch dann sah er, dass sie Wege bildeten zu dem Punkt, auf den er sich zubewegte. Ein braunes Apfelgehäuse markierte diesen Punkt. Es bewegte sich, zitterte. Axel hielt das Messer jetzt mit der Klinge nach unten, zum Sprung bereit winkelte er die Knie an. Im letzten Moment, bevor er absprang, sah er ein blassblaues Auge, das zwischen Gekrabbel und Schimmelpilzen aufgerissen wurde. Axel schrie, aus Angst genauso wie aus Rachlust.
Auch der Aswang schrie, als er durch den Dreck stieß wie ein Taucher durch die Wasseroberfläche. Axel erkannte das Ding aus seinem Vater, das mit dem Schmutz um sich herum zu einem kniehohen Zyklopen herangewachsen war. Er stieß das Messer in das eine Auge des Aswang, dessen Arm, der eher ein langer Rüssel mit drei Krallen an seinem Ende war, sich in Axels Oberschenkel bohrte. Axel sah, wie von der Wunde ausgehend schwarze Fäden sich unter der Haut durch sein Bein zu ziehen begannen.
Mit der Schneide des Messers durchtrennte er den dürren Arm des Aswang, die Haut war zäh. Als der Rüssel durchschnitten war, spritzte der schwarze Sirup aus dem Aswang und dem Schlauch, der jetzt von Axels Bein baumelte wie ein Katheter.
Der Mund, mit dem der Aswang schrie, war der seines Wirtes, ihres Vaters. Axel presste seine Lippen darauf und biss die weiche Zunge heraus. Er kaute und erbrach, hob die Stücke auf und verschlang sie erneut. Der verstümmelte Rüsselarm des Aswang pinselte an Axels Bauch entlang, während er sich langsam zum Fundament aß. Immer wieder hielt er inne, um sich zu übergeben, und weil kein giftiger Tropfen des Aswang ihm entgehen sollte, leckte er das Erbrochene auf, sobald die Krämpfe nachgelassen hatten.
Am Fuß des Aswang schließlich erkannte Axel, dass der Dämon kontraktierende Wurzeln in das Verdorbene um sich geschlagen hatte, Wurzeln, durch die schwarzer Saft lief. Wenn er den Aswang wirklich vollständig verschlingen wollte, müsste er alles aufessen, diesen Hügel aus Dreck, auf dem er thronte wie der König der Ungläubigen.
Um seines Vaters Willen würde er das tun, doch zunächst musste er sich von seinem Bein trennen, das ihm bereits nicht mehr gehorchte, durch das er den bösen Herzschlag des Aswang pochen hörte. Mit dem Messer in der rechten Hand stieß Axel zu und begann zu schneiden, mit der linken stopfte er sich weitere Teile des Dämons in den Mund.
Er war noch längst nicht fertig mit essen.