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Der Teufel trägt Spiegel
Der Teufel trägt Spiegel
Der Himmel war makellos blau und die Sonne zeigte bereits ihre feuerroten Strahlen am Horizont. Bald würde sie anfangen, unerbittlich auf die tote Erde hinab zu strahlen Bald. Aber noch nicht. Noch hatte er etwas Zeit. Noch war die Luft kühl von der eiskalten Nacht. Er streckte sich genüsslich und wälzte sich vom Bauch auf den Rücken. Diesen Moment des Sonnenaufgangs wollte er sich vor dem Schlafengehen nicht entgehen lassen. Dieser friedliche Moment, in dem die Geschöpfe der Nacht sich zum Schlafen vorbereiten und die des Tages noch ein wenig vor sich hin schlummern. Er schloss die Augen. Schön hier. Aber viel zu still. Viel zu ruhig. Viel zu tot. Ach, er würde ja so gerne wieder unter die Leute... Die Leute. Ach. Die Leute glauben ja nicht mehr. An nichts und an niemanden glauben sie noch. Nur an ihre „Wissenschaft“. Die ihrerseits aber selbst an nichts und niemanden glaubt und sich selbst ständig infrage stellt. Und an die glauben sie. All die schönen Geschöpfe, mit denen sie früher so friedlich und glücklich zusammen gelebt hatten, all die Elfen und Feen, all die Nymphen und Waldgeister, die Zwerge, die Feuervögel, all die Götter und Halbgötter und die Geister, alle sie vertrieben die Menschen. Und mit ihnen vertrieben sie auch ihn. Hierher. An diesen toten Ort, in diese Hölle unter dem blauen Himmel, in diese tote Wüste. Sie sagen, das passe zu ihm. Puff. Dabei glauben sie doch an die „Wissenschaft“ und müssten wissen, dass wer so viel Fell hat, gewiss nicht an einem heißen Ort sein möchte. Gut, dass er sich tagsüber zurückziehen kann. Aber er möchte doch tagsüber eigentlich draußen sein und spielen! Das lässt dieses grauenvolle Wetter natürlich nicht zu. Die einzige Lösung ist, tagsüber in der Hölle zu schlafen, damit man wenigstens nachts toben kann. Wenn man es toben nennen kann. An diesem schrecklichen Ort. Da ist ja gar nichts zum Klettern! Da ist auch gar nichts zum Springen! Oder zum Schwimmen! Nur fliegen kann man hier. Aber das war's dann auch. Außerdem geht ein solcher Tagesablauf voll auf den Biorhythmus. Gar nicht gesund ist das. Deshalb fühlt er sich ja auch so müde, auch wenn er seine acht Stunden brav geschlafen hat. So ein Mist verdammter. Der kleine Teufel streckte sich noch ein weiteres Mal. Die Sonne fing langsam an die trockene Erde aufzuheizen. Er spürte es unter seinem felligen Rücken. Nur noch ein bisschen und es würde ihn verbrühen. Aber ihm war noch nicht nach schlafen! Das funktionierte auf Dauer so nicht. Vielleicht könnte er ja doch in den Marianengraben umziehen. Das Problemchen mit dem atmen würde man schon lösen können. Allerdings ist es dort wiederum kalt und dunkel. Außerdem sind die Meerjungfrauen immer so mürrisch. Er kann doch schließlich auch nichts dafür, dass sie nur noch dort leben können. Die Menschen wollen halt nicht glauben und das beeinflusst ihn genauso wie sie auch. Nein, Marianengraben ist wahrscheinlich eher suboptimal...
Ein heißer, unerbittlicher Sonnenstrahl traf ihn direkt auf sein feuchtes Näschen. Er nieste. Okay, es wird wohl Zeit. Langsam drehte er sich zurück auf den Bauch und stellte langsam die Hufen auf. Die Erde fühlte sich hart und warm an. Er schaute sich noch einmal um und schlenderte langsam zur Hölle. Vielleicht könnte er ja noch ein bisschen grausig lachen üben, bevor er einschlief. Einige Abergläubige stellen ihn sich ja so vor. Dann könnte er wenigstens mit denen ein bisschen kommunizieren. Er fühlte sich einfach so einsam hier!
Die Hölle war dunkel und eiskalt. Sein von der Morgensonne aufgewärmter Körper schauderte ein wenig. Er kroch in die hinterste Ecke der Hölle und legte sich an die Wand. Was sollte er bloß tun? Die Situation ging ihm langsam auf den Kecks. Vor 200 Jahren, als die Menschen die bloßbusige Aufklärung erdacht haben, da fand er das eigentlich ganz nett. Sie glaubten ja eh nur noch, dass er böse war, also musste er auch ständig böse Sachen machen. Das war so anstrengend und hatte ihn beinahe an den Rand eines Burnouts getrieben. Klar hatte er auch schon vor 1500 Jahren nicht mehr den besten Ruf, aber da waren die Menschen etwas differenzierter und gestanden ihm auch mal Gutes zu. Und so fand er das eigentlich ganz angenehm, sich mal eine Auszeit von dem ganzen Bösesein zu nehmen. Irgendwann gehen ja einem auch die Ideen aus, wenn das so einseitig ist. Alles hatte er schon angestellt, das Vieh fort getrieben, die Brunnen verseucht, die Pest gebracht und sogar Unwetter hervorgerufen. Irgendwann hat man da ja auch keine Lust mehr drauf. Jetzt aber ist das wieder was anderes. Der Urlaub hatte sich als Rente herausgestellt und so alt war er eben noch nicht. Sein Gemüt erlaubte ihm noch keinen Ruhestand. Irgendwas musste er doch dagegen tun können! Teufelchen grübelte. Vielleicht könnte er ja die Abergläubigen ein bisschen öfter besuchen. Wer weiß, die Welt ist sich doch momentan eh so unsicher, vielleicht kann er ja der Aufklärung Konkurrenz machen, wenn er sich richtig reinknien würde. Aber die Aufklärung und die Wissenschaft sind jetzt nun mal zu Monopolen geworden. Da hätte er wohl schon vor 200 Jahren schalten müssen. Er grübelte weiter. Wenn er einfach über die Welt fliegen würde, würden ihn die Menschen nicht sehen können, wenn sie nicht an ihn glauben. Und besondere Supermächte hatte er auch nicht mehr. Die hatte ihm die Mutter Natur Stück für Stück gestrichen, im Einklang mit dem, was die Menschen halt glaubten. Es musste doch eine Lücke im Naturgesetz geben! Irgendetwas Kleingedrucktes oder Vergessenes, wodurch er wieder die Aufmerksamkeit auf sich ziehen könnte. Plötzlich fiel ihm sein Onkel ein. Der hatte mal über Russland einen Spiegel geschleppt, weil er seine Wohnung mal dekorieren wollte. Da fiel ihm der Spiegel aus den Hufen und wurde zu Seen rund ums Uralgebiet. Damals passierte sowas halt noch. Und es passierte auch nur ein Mal irgendwo im Nirgendwo. Vielleicht hat die Natur ja vergessen, diese Supermacht aus den Büchern zu streichen? Einen Versuch war es wert.
Aufgebracht von seinem genialen Einfall, sprang Teufelchen auf und machte sich auf die Suche nach Spiegeln. Leider war er nicht mit außerordentlicher Schönheit gesegnet, wodurch er nicht sehr viele Spiegel haben wollte. Im Bad wurde er schließlich fündig. Sein einziger Spiegel. Schließlich muss auch Teufelchen mal die Zähne putzen. Er atmete tief durch und drückte sich die nicht vorhandenen Daumen. „Wird schon schiefgehen!“, dachte er, „selbst die Natur ist nicht perfekt.“ Und mit diesem Gedanken stieg er hoch in die Luft hinauf. Ach, wie lange war er nicht mehr über der Welt unterwegs! Diese Luft der Städte und Dörfer, dieses Gemurmel der Menschen, diese Bewegung! Es ist alles schneller geworden, hektischer, aggressiver. Aber es war Leben! Dieser unvergleichliche Menschengeruch, der ihm in die Nase stieg, roch ein wenig ledrig, ein wenig säuerlich, ein wenig abgestanden. Er inhalierte es und er liebte es so sehr. Nun wurde es langsam Zeit, sich für einen Ort für ein paar nette Seen zu entscheiden. Er flog etwas höher, um sich ein besseres Gesamtbild zu machen. Er war wohl gerade über Deutschland. Nun gut, warum nicht das Land der Dichter und Denker? Die Goethe-Universität? Ach wie passend! Teufelchen freute sich, es schien alles perfekt. Er flog noch etwas höher, damit der Spiegel auch in viele, viele kleinere Seen zersplittern würden. Diese Wissenschaft war ja auch so anstrengend, die kleinen Studenten würden sich bestimmt über ein bisschen See und Sonne freuen. Blöd zwar, dass noch Dezember war, aber der Sommer kommt ja auch irgendwann nach Deutschland. Teufelchen zielte genau. Er fixierte das IG-Hauptgebäude. Seine Hufen fühlten noch ein letztes Mal die glatte, kühle Oberfläche des Spiegels. Er sog die eiskalte Luft ein und ließ los. Der Spiegel zischte zu Boden. Tiefer und tiefer. Bald würde er den Boden erreichen und zersplittern, bald würde die ganze Welt wieder einen Beweis für seine Existenz haben! Doch es schob sich ein Flugzeug zwischen den Spiegel und die Erde. Der Spiegel zerbrach, das Flugzeug wackelte ein wenig. Nur ein paar Turbulenzen, dachten die Passagiere. Der Spiegel zersprang in Milliarden Tropfen. Nur der Teil, der auf dem Flugzeug aufkam, blieb ein einzelner Spiegelsplitter. Die eiskalte, winterliche Luft verwandelte das Süßwasser im Handumdrehen in Schnee und die Erde wurde bedeckt mit weißen Flocken.
+++Eilmeldung: An der Goethe-Universität Frankfurt hat man nachweisen können, dass unter bestimmten Witterungsverhältnissen, Spiegel unter dem Schnee entstehen können. Der Vorsitzende des Spiegel-Vereins und co. GmbH Deutschland meint, dass diese Erkenntnis die Spiegelindustrie revolutionieren wird.+++