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Der Teufel in mir - Spiritus Rector
Ich spürte seine Knarre im Nacken. Mein verkokstes Herz pochte noch stärker.
„Am liebsten würd’ ich dich abknallen, du Schwein!“, schrie der Bulle und drückte das bedrohliche Eisen noch fester in mein Genick. Kalter Angstschweiß durchtränkte mein T-Shirt.
René und die anderen beiden Glatzen — deren Namen ich längst vergessen hatte — wurden brutal auf die Motorhaube meines noch nicht abbezahlten BMW gedrückt.
Das hektische Getümmel und die aufzuckenden Blaulichter hatten die düstere Nacht in eine bizarre Freilichtdisco verwandelt. Nur, dass ich nicht wie sonst von den dumpfen Bässen getrieben wurde, und ich verdammt noch mal aufpassen musste, nicht wie ein ängstlicher Idiot in die Hose zu pissen.
Unser Trip war beendet.
Der Spiritus Rector, wie mich später die BILD und die Mitteldeutsche Zeitung nennen sollten, war nach einer wilden Verfolgungsfahrt durch Magdeburg geschnappt worden.
Mit ihm seine Helfer, drei polizeibekannte, arbeitslose Skinheads. Raub, räuberische Erpressung, Körperverletzung, Nötigung und Bedrohung sowie Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz.
Zehn Stunden zuvor war ich in unserem Büro eingetroffen, das aus zwei Schreibtischen, zwei Telefonen, einem Faxgerät und einem Klo mit kaputter Spülung bestand.
Später Nachmittag, die richtige Zeit, um unsere Zielgruppe am Telefon zu ergattern: Selbständige Handwerksmeister, die von ihren Baustellen zu Hause eintrudelten.
Nachdem wir in den Wendejahren halb Sachsen-Anhalt mit Versicherungen aller Art überschwemmt hatten und nichts weiter zu holen war, kamen wir auf unsere neue Geschäftsidee: Handwerkern Dübel, Schrauben und sonstiges Material aufzuschwatzen. An und für sich ein lohnendes Geschäft, bloß dass die Zahlungsmoral immer schlechter wurde.
Ich schlug die Gelben Seiten von Magdeburg an der Stelle auf, wo ich tags zuvor aufgehört hatte, steckte mir ‘ne Kippe an und schaute aus dem Fenster. Matze, mein alter Schulfreund aus dem Westen und jetziger Kompagnon, traf ein und parkte sein Auto neben meins.
Wie sehr liebte ich diesen Kontrast, wie unsere beiden protzigen, tiefschwarzen und stets gewienerten BMW 735i wie eineiige Zwillinge vor dem schäbigen Haus standen, an dem der weiße Anstrich abblätterte.
Matze grüßte mich, reichte mir die BILD-Zeitung, die er am Kiosk geholt hatte und zog ein frisches Branchenbuch aus dem Stapel heraus.
Als ich vom Klo zurückkam, wo ich das Revolverblatt überflogen hatte, schnüffelte ich noch verträumt an der Druckerschwärze. Ich schnüffelte schon immer gerne. An allem. Egal ob an Klebern, Farben, Lösungsmitteln oder Muschis. Dann warf ich noch einen letzten Blick auf die Liebe ist …-Karikatur in der BILD. Wer hätte gedacht, dass zwei Tage später neben dem süßen Komik-Pärchen in fetter Aufmachung von der Entlarvung eines ehrbaren Unternehmers als Räuber berichtet werden sollte?
Ich schaute auf die Uhr, kramte noch einen kleinen Wachmacher aus der Schublade und wunderte mich über Matze, der auf den Tasten seines Telefons herumhämmerte. „Was ist los?“, fragte ich ihn.
„Geht dein Telefon auch nicht?“
Rasch kippte ich den Schnaps hinunter und lauschte am Hörer. „Verdammt! Die haben uns die Leitung stillgelegt!“ Zuletzt hatte es mehrere Tage gedauert, bis wir wieder telefonieren konnten, und Handys gab es zu der Zeit noch nicht.
Drei Straßen weiter in unserer Garage lagerten unzählige Kartons, fünftausend Mark, aus denen wir ein Vielfaches machen wollten. Außerdem schob jeder von uns noch knapp Hunderttausend Miese vor sich her. Wir lebten gut. Heute würde ich sagen, über unsere Verhältnisse.
Mein Bruder hatte sich erst kürzlich geweigert, auf eine Bürgschaft über Zehntausend einzugehen. Er hatte eine Familie gegründet, studierte nebenbei, das zweite Kind war unterwegs. Kein Verlass auf den Versager. Und meine Eltern wollte ich nicht weiter anpumpen; viel zu holen war da eh nicht. Außerdem passte das so gar nicht zum Bild des erfolgreichen Geschäftsmannes. Sie sollten stolz auf mich sein.
Voller Wut schmiss ich den Hörer auf den Schreibtisch und traf den Aschenbecher, der im hohen Bogen auf den Boden flog. Die in ihm liegende, noch glimmende Kippe verursachte ein weiteres Brandloch im Teppich. „Wie viel Kohle hast du noch, Matze?“
„Ich hab den Rest gestern für den Shit ausgegeben.“ Matze deutete auf seinen Joint und das kleine Tütchen. „Das reicht noch für ein paar Tage.“ Er grinste und inhalierte einen kräftigen Zug.
Ich liebte diesen süßlichen Duft, der mich daran erinnerte, noch etwas Cannabis für unsere Bong besorgen zu müssen. Dann kam mir die Idee. „Wir sollten unsere Kunden einfach mal besuchen. Vielleicht können die Anzahlungen machen oder wir bieten ihnen Ratenzahlungen an.“
„Meinste? Wir sollten dann aber den René mitnehmen, so zum Einschüchtern.“
„Hm. Kann nicht schaden“, stimmte ich zu.
René kannten wir vom Bahnhof. Ein doofer, muskelbepackter Skin, der als Schläger bekannt war und uns ab und an Shit besorgte. Ein ganz netter Kerl.
Am nächsten Morgen hatte ich eine Route geplant, um möglichst viele Kunden auf einmal abzugrasen. Nicht so, wie man das heute kennt, mit Navi, Google Maps oder so. Nein, damals musste man noch Karten lesen können und mit einem bunten Textmarker die Strecke kennzeichnen. In Linienziehen war ich ein As. Der Filzstift roch gut.
Matze kam nicht. Er musste kurzfristig auf seine kleine Göre aufpassen. Aber René war zur verabredeten Zeit im Büro und brachte zur Verstärkung zwei weitere Glatzen mit. Ich versprach ihnen Freibier und einen Anteil.
Bevor sich die Drei nach hinten setzen durften, mussten sie sich noch die Springerstiefel abklopfen und ihren dickflüssigen Raucherhusten ausspucken. Ich schmiss den Dreien ein paar Sixpacks auf die Rückbank und gab Gas.
Nach einer halben Stunde hielt ich vor einem runtergekommenen Haus in einer ruhigen Seitenstraße an. Einer der Glatzen döste vor sich hin, zwei Sixpacks waren leer.
Ich schaute auf das verblasste Schild an der Tür, hinter dem sich das Büro befand. Mein erster Kunde für heute.
Das kleine Firmengebäude, bestehend aus einer Werkstatt und dem Büro, grenzte an einem schmucken, scheinbar frisch renovierten Häuschen an. Offenbar das private Anwesen meines Schuldners, der mit siebenhundertneunzig Mark bei uns in der Kreide stand.
Im Garten sah ich einen älteren Mann in Hosenträgern, der neugierig dreinschaute.
„Bleibt ihr im Auto“, sagte ich. „Und macht das Fenster auf, das stinkt ja erbärmlich!“ Die eingedöste Glatze wurde durch mein Türschlagen wach, eine andere ließ die Scheibe herunter.
„Guten Tag. Ich suche Herrn Fiebig. Können Sie mir sagen, wo ich ihn finde?“, rief ich über den Gartenzaun.
Der Alte wirkte nervös. „Nein. Keine Ahnung“, sagte er kleinlaut, drehte sich um und verzog sich mit immer schneller werdenden Schritten in sein schickes Häuschen.
Der verpisst sich.
Ich deutete den Glatzen mit einem kurzen Wink, auszusteigen.
Die Tür des Büros war nicht abgeschlossen. Ich ging als erstes rein, die drei Grinsebacken im Schlepptau. Kein Schwein da. Alle waren ausgeflogen.
Ich durchwühlte Schubladen nach Geld und Wertgegenständen. Dann fand ich Goldschmuck und steckte ihn heimlich ein. Mehr war nicht zu holen.
Wir dampften ab.
Bei den nächsten drei oder vier Kunden rückte keiner Asche raus. Sie sprachen von schlechter Auftragslage und beteuerten, kein Bargeld oder sonstiges bei sich zu tragen. Und das, obwohl die Glatzen immer ein paar Meter hinter mir standen und grimmige Visagen machten.
Alles entpuppte sich als eine große Pleite.
Es war eine Scheißidee.
Draußen wurde es immer dunkler und wir trafen an den beiden letzten Adressen niemanden mehr an. Wir machten uns auf den Heimweg.
Das Bier war alle. Da wir noch genug Hasch hatten, war die Stimmung im Auto nicht gänzlich schlecht.
„Wir müssen bald tanken“, rief ich den dreien zu, die sich einen nächsten Joint teilten. „Hat einer von euch Kohle?“
„Ey, sachma, spinnste?“ René blickte sauer drein. „Wir ham nix.“
An der nächsten Straßenecke sah ich einen Geldautomaten. Ich hielt an. „Wartet kurz.“
Kurz darauf kam ich zurück. „Der scheiß Automat spuckt nichts aus!“ Ich haute auf das Lenkrad. „Mistdreck!“
„Ey. Alder. Lass uns das Geld auf der Straße holen“, schlug René vor. Er schaute seine beiden Glatzenbrüder an. „Das haben wir schon öfters gemacht.“ Die Drei freuten sich wie die Schneekönige.
Warum nicht?, dachte ich. Irgendwie mussten wir ja heil nach Hause kommen.
Im gemäßigten Tempo fuhr ich weiter und warf dabei immer wieder einen prüfenden Blick auf die Tanknadel. Schließlich erreichten wir den Stadtrand Magdeburgs. Wir schauten uns um. Abbruchreife Häuser, kaputte Straßen, die Schaufensterscheiben eines HO-Ladens waren zugenagelt. Opfer der freien Marktwirtschaft. In dieser abgefuckten Gegend wollte ich nicht tot im Graben liegen.
„Da! Den krallen wir uns!“ René zeigte auf einen jungen Hänfling, der ahnungslos den Bürgersteig entlang ging.
René hatte einen geübten Blick für Opfer.
Ich hielt an, die drei Glatzen sprangen raus. Einer stieß sich dabei noch die Birne am Türrahmen.
Als die Springerstiefel aufstampften, drehte sich der Jugendliche erschrocken um. Er versuchte noch wegzulaufen, wurde aber schnell gestellt.
Zwei Glatzen hielten ihn fest, eine andere bedrohte ihn erst mit Schlägen und schlug dann zu. Ich blieb schön brav im BMW sitzen und könnte nicht sagen, wer was gemacht hatte. Von hinten sahen die Skins alle gleich aus.
Dreißig Mark. Zum Tanken hatte das fürs erste gereicht.
Diese simple Art der Geldbeschaffung wiederholten wir ein paar Straßen weiter. Diesmal stiegen die Drei nicht so martialisch aus dem BMW und sprachen die zwei Männer unter einem Vorwand an.
Einer der beiden Männer roch beim Anblick der Glatzen Lunte und gab Fersengeld. Den anderen drückten die Skins gegen einen Brückenpfeiler und forderten ihn auf, die Brieftasche rauszurücken.
Abenddämmerung, einsame Gegend. Die Bösen nahmen es sich von den Guten — eine filmreife Szene wie aus einem Mafiastreifen, an der ich Gefallen fand. Ich legte mein Jackett auf den Beifahrersitz ab und stieg aus, um mich einzubringen.
Mit einem Kopfstoß bekräftigte ich Renés Aufforderung, bis er ihm die Geldbörse aus der Tasche zog. Der Bursche fuchtelte noch immer wild herum. Ich bekam selber ein Hörnchen. Scheißegal — ich spürte keinen Schmerz. Shit sei Dank.
Wieso stellte sich der Bursche so an? Die Welt ist ungerecht. Mich hat das Leben auch gefickt.
Von der Kohle tankte ich voll und besorgte uns Hasseröder.
Das erfolglose Geldeintreiben bei den Handwerkern war längst vergessen und die Stimmung im süßlich duftenden Auto wieder vergnüglich.
Nach ein paar Minuten fanden wir unsere nächsten Opfer.
Während die Glatzen die beiden Memmen festhielten, forderte ich sie auf, uns ihr Geld zu geben. Einer kam unserer Bitte nach. Er durfte anschließend verschwinden.
Der andere weigerte sich. Wir zerrten ihn in eine Einfahrt, schlugen ihn und traten ihm in die Fresse, als er schon am Boden lag. Mit den Rissen um sein linkes Auge war der Bundeswehrsoldat wochenlang dienstuntauglich, wie die Zeitung später schrieb. Warum musste er auch versuchen, den Helden zu spielen?
Insgesamt hatten wir uns in einer dreiviertel Stunde vierhundert Mark auf der Straße besorgt und konnten wenigstens mit einem Teilerfolg Richtung Heimat abdampfen.
Gar kein so schlechter Stundenlohn.
Wir waren noch nicht ganz aus Magdeburg raus und hatten keine vierzig Kilometer mehr vor der Brust, da kam uns auf der Straße ein Bullenwagen entgegen.
Ich hielt das Lenkrad fester und prüfte den Tacho, um bloß nicht wegen überhöhter Geschwindigkeit aufzufallen.
„Mist!“, schrie ich, als ich im Rückspiegel sah, dass der VW Passat gewendet hatte und uns folgte. Ich gab Gas und bog in die nächste Seitenstraße ab. Die Bullen blieben uns auf den Fersen. Die Glatzen hatten ihren Spaß, als sich noch eine weitere Bullenkutsche an uns hängte.
Ich hatte meinen Kick, fühlte mich an Formel Eins `98 auf meiner Playstation erinnert. Nur, dass nicht ich Schumi jagte, sondern die anderen mich.
„Mal sehen, was der Wagen hergibt!“ Ich gab Vollgas. Der bajuwarische Motor machte sich gut auf den Straßen Sachsen-Anhalts. Hundertfünfzig Sachen in der Stadt, Hundertzwanzig in den Kurven. Wir konnten den Bullen entfliehen.
Etwa eine Stunde lang blieben wir mit dem Wagen in einer kleinen Straße auf einem Hügel stehen. Von dort oben hatten wir einen wunderschönen Ausblick auf die Stadt. Über uns der stille, sanftmütige Mond, unten Blaulicht, das kreuz und quer durch die Straßen jagte.
Ganz großes Kino. Das Leben war schön. Ich genoss diesen Augenblick bei Dosenbier und Joint und wünschte mir, er würde nie zu Ende gehen.
Dann kippten wir unser letztes Bier runter, rülpsten laut auf und schmissen die leeren Dosen aus dem Fenster. Jetzt fühlten wir uns sicher genug und fuhren weiter.
Nach einigen Kilometern Fahrt auf einer öden Landstraße sah ich die Straßensperre. Überall Blaulicht.
Ich konnte nicht rechtzeitig wenden und wurde schließlich von sechs Autos umzingelt.
Wir wurden aus den Autos gezerrt. Mein Jackett wurde in Mitleidenschaft gezogen. Ich würde mir ein neues besorgen müssen.
Die Nacht verbrachten wir im Knast. Am nächsten Morgen kamen wir zum Richter. Da keine Fluchtgefahr bestand, setzte man uns wieder auf freien Fuß. Matze holte uns ab.
Ich sah meinen BMW nie wieder.
Zwei Jahre später kam es zur Verhandlung. Ich hatte Glück im Unglück. Da wir vier vor Gericht einen recht reuigen Eindruck machten, alles gestanden und betonten, wie sehr uns das alles leid tat, kamen wir recht glimpflich davon.
Ich bekam ein Jahr und zehn Monate auf drei Jahre Bewährung. Die Glatzen noch weniger. Schadensersatz für die Prügel musste ich aber auch zahlen.
Heute halte ich die beiden Zeitungsausschnitte in der Hand. „27-jähriger Geschäftsmann als Spiritus Rector berief sich auf Drogensucht zum Tatzeitpunkt“, steht in großen Buchstaben in der BILD.
Ich rieche an dem Papier. Es riecht muffig, nach Vergangenem.
Spiritus Rector, den führenden Geist haben sie mich genannt.
Ich bin nicht stolz darauf, weiß bis heute nicht, warum ich den ganzen Scheiß überhaupt ausgeschnitten und behalten habe.
Ich stecke die Papierschnipsel zurück in die Hülle und hefte sie im Order ab. Mit Tränen in den Augen stelle ich ihn wieder zurück auf das Regal, direkt neben der Bibel, die ich vom Pfarrer aus meinem ersten Entziehungsheim bekommen habe.