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Der Teufel in mir - Armer Witwer
Meine Frau war natürlich nicht gestorben — ich war nie verheiratet — und meine Firma musste ich auch nicht auflösen, doch die dummen, raffgierigen Ossis fielen immer wieder auf meine unverbrauchte Variante herein.
„Spreche ich mit Herrn Manfred Kämmer? Schön, dass ich Sie erreicht habe“, begrüßte ich freundlich den Handwerksmeister, nachdem ich mich mit Namen und der aktuellen Firmenbezeichnung vorgestellt hatte.
Regelmäßige Firmenauflösungen und Neugründungen mit wechselnden Eigentümern waren von Vorteil, wenn es um Finanzämter oder sonstigen neugierigen Behörden ging. Mal war ich als Inhaber aufgeführt, ein andermal Matze oder seine Schnalle, die wir erst noch überzeugen mussten. Freie Marktwirtschaft war für das Mädel noch relativ neu.
„Ich hoffe, Sie hatten einen erfolgreichen Tag, Herr Kämmer“, begann ich meinen Spruch, den ich zusammen mit Matze tagelang geübt hatte und den ich — auch dank eines Schnäpschens — mittlerweile leicht über die Lippen brachte.
Ich war nicht immer besonders gut in Sprache, Ausdruck und Auswendiglernen, wenn ich an meine Hauptschulzeit zurückdenke. Jetzt war es anders und ich benötigte den kleinen Zettel auch nicht lange, auf dem ich Stichworte und Ablauf notiert hatte. Meine Lehrerin wäre stolz auf mich gewesen.
Wichtig für das Telefonat war, nicht allzu jung zu klingen und den Namen des Gesprächspartners oft zu wiederholen. Vor allem galt es, sich in die Gedanken und Gefühlswelt des armen Mannes hineinzuversetzen, in dessen Rolle man für einen Moment schlüpfte.
Je nach Verlauf konnte es nicht schaden, ein wenig nachzulegen, um trauriger oder gebrochener zu wirken. Schließlich kostete es viel Kraft und Überwindung, einem wildfremden Menschen von seinem schweren Schicksalsschlag zu erzählen.
„Ich habe gemeinsam mit meiner Frau erst kürzlich einen kleinen Handelsbetrieb gegründet. Hier in Magdeburg. Dübel, Schrauben, Werkzeuge, Maschinen und so weiter.“
Magdeburg entsprach in diesem Fall der Wahrheit. Es war von Vorteil, so etwas wie Verbundenheit durch örtliche Nähe aufzubauen.
Ich war da flexibel. Sobald ich mit dem Branchenbuch von Magdeburg durch war und mir das nächste vornahm, passte ich im Gespräch den Firmensitz halt an. Auf den Papieren erschien der Ort nicht, und die Telefonnummer wurde unterdrückt.
Vor allem sollte beim potentiellen Käufer ein Interesse an der angebotenen Ware bestehen. Dazu benötigte man ein wenig Erfahrung oder Fachwissen. Mir kam zugute, früher oft in der kleinen Kellerwerkstatt von Papa herumgebastelt zu haben.
Dann kam der schwierige Teil des Telefonats, der höchste Konzentration erforderte.
„Doch jetzt, nach dem plötzlichen Tod meiner Frau, bin ich nicht in der Lage, das Geschäft weiterzuführen und muss leider alles aufgeben. Der Krebs. Es ging alles so schnell.“
An dieser Stelle machte ich eine kurze Pause, in der mein Gesprächspartner alles sacken lassen konnte, während ich mir das bereitliegende Taschentuch schnappte und die Nase putzte. Nicht so geräuschvoll, um nicht zu übertreiben und weiterhin mit einem Ohr am Hörer lauschen zu können.
Das war der Moment, in dem klar wurde, ob er anbeißen würde oder nicht. Der Moment, in dem ich Matze ein Daumen hoch oder runter signalisierte.
„Ich kann den Großteil der Ware nicht zurückschicken, weil es Sonderposten sind. Wir haben unser ganzes Geld investiert, auch in teure original Bosch-Bohrmaschinen und Kabeltrommeln von Brennenstuhl, die ich — notfalls unter Wert — abgebe, weil das Lager geräumt werden muss. Der Pachtvertrag läuft noch zwei Monate. Ja, und unsere Tochter sollte eigentlich nächstes Jahr studieren, damit es ihr später besser geht …“
Wieder eine kurze Pause, die ich zum Schnäuzen nutzte. Dann schnappte die Falle zu.
„Ach, ich würde die Bohrmaschinen oder Kabeltrommeln am liebsten einfach so zu den Dübeln und Trennscheiben beipacken, die ich natürlich zum Einkaufspreis abgebe.“
Einkaufspreis, bah! Wir besorgten uns die China-Ware palettenweise und so billig von einer Importfirma aus Halle, dass selbst ein fünffacher Verkaufspreis noch als guter Einkaufspreis durchging. Und die schöne Mitleidsnummer gab es nur gratis dazu, damit wir uns von der Konkurrenz unterscheiden konnten, die mittlerweile schon recht groß war.
Handel ist Wandel. Das hatte ich in meinen Büchern gelernt, geschrieben von internationalen Wirtschaftsmagnaten.
„Und dann habe ich einfach die Gelben Seiten aufgeschlagen und bin auf Sie gestoßen, Herr Kämmer.“ So schloss sich der Kreis.
Ein gutes Geschäft für mich und Handwerksmeister Kämmer, der zwischen Bohrmaschine und Kabeltrommel wählen durfte. Wollte er beide, musste er halt noch ein paar tausend Dübel mehr abnehmen.
Und wenn nicht Meister Kämmer der Glückliche wurde, dann der nächste im Alphabet. Meister Kämmerling, Kämper, Kämpfe oder Kämpfert.
Natürlich kamen nicht die besten oder neuesten Modelle der Markengeräte zur „kostenlosen“ Auslieferung. Versprochen hatte ich lediglich 600 Watt bei den Bohrmaschinen und 50 Meter bei den Kabeltrommeln. So stand es anschließend auf dem Fax, das ich als Auftragsbestätigung hinterherschickte. Alles ohne konkrete Typenbezeichnungen. Schwarz auf weiß.
Außerdem: Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul.
„So, Matze“, sagte ich, während das Faxgerät noch den Sendebericht druckte. „Die nächsten Achthundert. Wir können heute Pakete packen und zur Post bringen. Wie weit bist du für diese Woche?“
Eigentlich waren es siebenhundertneunzig Mark, optisch abgerundet. So wie es die ehemaligen HO-Supermärkte taten, die diesen psychologischen Trick wiederum den großen Ketten aus dem Westen abgekupfert hatten. Aber Achthundert klang für uns schöner und damit ließ sich einfacher rechnen.
Matze zog an seinem Joint und blätterte die Durchschläge des Auftragsbuches durch. „Drei Achthunderter, vier Dreihunderter. Müssen wir noch zum Baumarkt und Bohrmaschinen oder Kabeltrommeln besorgen?“
„Ne, die sollten reichen“, erwiderte ich. „Lass uns vorher noch zur Bank. Ich will Auszüge ziehen. Und danach noch kurz zum Kaufhof.“
Im Warenhaus ging ich seit Tagen auf die Toilette, solange die Spülung auf unserem Klo noch kaputt war, und außerdem wollte ich noch ein paar teure Düfte in der Parfümabteilung ausprobieren.
Ich schmiss mir meine Jacke über und nuckelte am Flachmann, der in der Innentasche auf mich wartete.
Matze musste fahren. Nicht, weil ich etwas intus hatte, sondern abermals keinen Führerschein besaß und ich mir meine MPU nicht versauen wollte, falls ich erwischt würde. Mein eigener 735 i sollte bald wieder Tageslicht sehen. In der Garage versauerte er nur.
Alleine der Moment, in dem ich die Kontoauszüge in Händen hielt, entschied über meine Stimmung für den Rest des Tages. Wenn alles gut war, gab es kühles Bier vom REWE oder frisches Cannabis für unsere Bong vom René am Bahnhof. Wenn nicht, musste der Papierkorb vor der KKB Bank dran glauben.
Zu der Zeit hatte der schon einige Beulen und ich noch ein eigenes Konto. Die Pfändungen begannen erst später. Da musste dann Papa einspringen, der auf seinen Namen ein Bankkonto mit einer Vollmacht für mich einrichtete. Mama schimpfte immer, so dass Papa es diesmal ohne ihr Wissen getan hatte.
Ach ja, der Papierkorb. Tut mir Leid für ihn, ich war bereits als Kind jähzornig. Wenn ich das auseinandergenommene Radio oder den Kassettenrecorder nicht wieder zusammenbauen konnte, landeten die Einzelteile im weiten Bogen in der anderen Ecke des Kinderzimmers. Da war mir auch egal, dass mein Bruder dort hinten auf dem Teppich kniend in seinen Büchern schmökerte. Leseratte. Stubenhocker.
Mindestens zwei, wenn es sehr gut lief, vier Aufträge am Tag holte ich damals alleine rein, große oder kleine Aufträge. Das bedeutete mitunter fünfzig, sechzig Anrufe am Tag.
Es war kein Zuckerschlecken und wir spielten mit dem Gedanken zu expandieren, Aushilfen einzustellen. Rentner, die meine Story im authentischen Ost-Deutsch vortrügen.
Einmal haben wir das tatsächlich versucht. Es sollte kein tatteriger, sondern ein wortgewandter Rentner sein. Stattdessen wurde es Frau Hühnerbein. Sie stellte sich anfangs gar nicht so dumm an. Später wurde die Alte zu unserer Knechttüte, bis sie die Brocken hinwarf. Eine andere Geschichte.
Einen dieser Kontoauszüge von damals halte ich heute in Händen. Manfred Kämmer und andere hatten überwiesen. Insgesamt stand da ein fünfstelliger Betrag auf der Habenseite.
Ich muss mich damals wie ein Schneekönig gefühlt haben. Kenne das Gefühl gar nicht mehr.
Matze, der auf eigene Rechnung arbeitete, hatte in den letzten Monaten unserer Partnerschaft immer weniger Geld reingeholt. Er war fett und faul geworden, seit er sich von seiner Schnalle ein Kind hatte andrehen lassen und nicht mehr so oft im Büro erschien.
Er ist drüben geblieben. Ich habe keinen Kontakt mehr zu ihm und von anderen gehört, er solle clean sein.
Ich blicke aus dem Fenster. Am Kiosk gegenüber zieht jemand das eiserne Gitterrollo hoch. Ich bin nicht eingesperrt, ja sogar freiwillig hier, und es wäre eine Leichtigkeit für mich, zwischendurch rüberzuspringen. Aber ich bin standhaft geblieben.
Sehnsüchtig schaue ich einer jungen Frau hinterher, die einen Kinderwagen über den Bürgersteig schiebt. Verdammt noch mal! Sie hat sogar die gleiche rote Mähne wie Andrea!
Mit Tränen in den Augen rieche ich letztmalig am Kontoauszug. Heißt es nicht „Geld stinkt nicht“? Ich rieche Muff.
Dann hefte ich das Blatt in meinen Ordner der Erinnerungen ab.
Beim Durchblättern finde ich den heute wertlosen und illegalen Führerschein aus Tschechien und den kleinen Zettel wieder, auf dem ich den Verkaufsspruch notiert hatte. Armer Witwer steht da mit großen Buchstaben drübergekritzelt. Ich hatte schon immer Sinn für Humor.
Selbst eine der handgeschriebenen Auftragsbestätigungen, die ich damals gefaxt hatte, ist noch im Ordner. Unglaublich, wie das funktionieren konnte. Ich habe meine Chancen genutzt. Heute, mit Internet und Amazon, wäre das alles nicht möglich.
Ich schnappe mir einen Staublappen, möchte mein Zimmer sauber und aufgeräumt haben, bevor es zum Frühstücken in die Gemeinschaftsküche geht. Bevor mich mein Bruder besuchen kommt. Ich habe mir vorgenommen, ihm die ganze Wahrheit zu erzählen. Oder wenigstens einen Teil.
Weiß er eigentlich von den Zwillingen? Wie alt wären sie jetzt? Zwölf, dreizehn?
Der Lappen wirbelt Staub auf und es kratzt schon wieder so furchtbar in meinem Hals. Ganz furchtbar. Von ganz unten.
Ich huste und huste und spucke zähflüssigen, roten Schleim auf ein Taschentuch, hole mein Handy hervor und fotografiere die Sauerei.
Es ist mehr geworden. Ich habe noch so viel zu erzählen.