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Der Tempomacher
»Wir sind im Arsch!«, Lars warf einen verzweifelten Blick in die Runde. Seine buschigen Augenbrauen warfen große Schatten, seine Augenringe wirkten dadurch noch etwas größer. Die letzten Tage hatte er wenig geschlafen.
Ben wusst, dass er recht hatte. Tom, der morgen laufen sollte, kam heute humpelnd in den Teambus.
Sein linkes Knie war geschwollen und dunkelblau.
»Was sollen wir jetzt machen?«, fragte Tom. Hilfesuchend blickte er sich um.
»Das wars, wir sind raus. Der Megathlon ist gelaufen«, sagte Fin. Seine verschwitze Raddress
klebte noch an seinem Körper, der Geruch nach Schweiß machte die Luft im Teambus fast unerträglich.
Susi begutachtet das Knie. Vorsichtig beugte sie es. Tom stöhnte auf. Ben wusste, dass er mit einem verletzen Knie die 100 Kilometer nicht laufen konnte. Alle Schmerzmittel, die sie dabei hatten, würden nichts helfen. Er war selbst Läufer, und sollte die letzten 20 Kilometer als Tempomacher für Tom laufen.
Lars ging aufgeregt im Bus auf und ab. Als Trainer lag viel Verantwortung auf seinen Schultern.
Seine ruppige Art verursachte manchmal Stress, dennoch lag ihm jedes Teammitglied am Herzen.
Ben fühlte Enttäuschung, dass er nicht laufen könnte und doch war auch ein Funken Erleichterung
dabei. Erst vor zwei Tagen kam Lars zu ihm und fragte, ob er als Tempomacher laufen wollte.
Ben zögerte am Anfang. Die Verantwortung, die ein Tempomacher hatte, fühlte er sich nicht
gewachsen. Trotzdem sagte er Ja, er hoffte dadurch Susi näher zu kommen. Wegen seiner
Schüchternheit fiel es ihm schwer mit ihr ins Gespräch zu kommen und das, obwohl er die Teamärztin schon vier Jahre kannte.
»Warten wir bis morgen ab, vielleicht wird das Knie noch. Die anderen Teams dürfen davon
nichts erfahren!«, sagte Lars.
»Nein, bist du verrückt«, sagte Susi. »Auf keinen Fall. Ich kann nicht verantworten, dass Tom
läuft, das wäre das Ende seiner Karriere.«
Lars stöhnte auf. »Und was nun? Wir sind raus. Die 40 Kilometer Schwimmen von Michael und
die 250 Kilometer Radfahren von Fin waren also für´n Arsch?«
»Beruhige dich erst mal«, sagte Michael. »Mir hat es auch so Spaß gemacht.«
»Komm schon Michael! Wir brauchen die Punkte, sonst ist die Saison gelaufen!« Wütend
schlug Lars mit der Faust auf den Tisch.
Ben spürte den Blick von Susi.
»Ben soll laufen.«
»Ben?«, fragte Lars und Tom gleichzeitig.
»Ja, er ist ein Teammitglied. Die Regeln sagen, dass innerhalb eines Teams die Disziplinen getauscht werden können. Ich weiß, dass er auf 80 Kilometer eine gute Zeit laufen kann.«
»Das ist eine gute Idee«, sagte Tom, sichtlich erleichtert, dass sein Team noch eine kleine Chance
hatte. Mühsam richtete er sich auf, bedacht, dass er das linke Bein nicht bewegte. »Ben, traust
du dir das zu?« Der Tempomacher blickte in Susis braune Augen, die erwartungsvoll leuchten.
»JA«
Noch 15 Minuten bis zum Start. Langsam wurde ihm das Ausmaß seines Vorhabens bewusst.
Was hatte er sich nur eingebrockt?
30 andere Läufer standen mit ihm am Start. Aufregung erfüllte die Luft. Laute Rockmusik hallte
durch das kleine Tal. Die Sonne versteckte sich noch hinter den Bergen, musste aber jeden Moment aufgehen. Ben spürte wie sich die feinen Härchen auf seinen Unterarm aufstellten. Die
Stimmung war elektrisierend. Die wenigen Zuschauer die so früh schon auf waren blickten erwartungsvoll auf die Athleten.
Susi stand keine zehn Meter von Ben entfernt. Gemeinsam mit Lars schrien sie Ben aufmunternde
Worte zu.
Noch fünf Minuten bis zum Start. Bens Gedanken drehten sich im Kreis. Immer wieder ging er die
Strecke im Kopf durch. Wenn du die 80 hast, musst du nur noch 20 Kilometer laufen. Was sind
schon 20 Kilometer? Das schaffst du, sagt er sich immer wieder.
Susis Augen leuchteten. Sie trug eine blaue Wollmütze. Ihre braunen Haare umrahmten ihr feines
Gesicht. Sie schaute ihn begeistert an. Für sie würde er gewinnen.
Ein Schuss ertönte.
Die Läufer setzten sich in Bewegung. Ben lief los. Die Lichter des Dorfes wurden kleiner. Die
Lichtkegel der Stirnlampen durchschnitten die Nacht. Der gleichmäßige Rhythmus der Schritte
hallte dem Berg entgegen. Es gab kein zurück mehr.
***
Die Nacht war wieder über die Läufer hergefallen. Bens Laufstil spiegelt die Erschöpfung des
vergangenen Tages wieder. Vom einst leichten Schritt, war ein müdes Schlürfen übrig geblieben.
Seine Welt bestand nun wieder aus einem zwei Meter großen Lichtkegel. Ben führte,
nie hätte er das für möglich gehalten.
Die letzten paar Stunden waren hart. Ben´s Energiereserven waren geschrumpft. Laktat strömte durch seinen Körper und füllte die Muskeln. Der Schmerz hatte von den Muskeln direkt in die Knochen verlagert. Sein Atem ging stoßweise.
Bei Kilometer 81 musste er das erste Mal wegen Erschöpfung stoppen. »Kurz!«, dachte er.
Das Weiterlaufen brannte wie die Hölle. Kurz später musste er wieder stehen bleiben und sich
setzten. Er konnte nicht das Wunder vollbringen. Vom Tempomacher zum Sieger. Das gab es nur
in Filmen. Die Realität fühlte sich schmerzhafter an. Er war kein Held. Seine Gedanken drehten
sich im Kreis. Was sollte er nun tun? Plötzlich hörte er Schritte. Sein erster Verfolger überholte
ihn. John, der Favorit der Tagesetappe, nickt kurz und verschwand wieder in der Dunkelheit.
Kurze Zeit später hörte er wieder Schritte.
Ben musste an Susi denken. Ihr enttäuschtes Gesicht, wenn der Sprecher verkünden würde das Ben
aufgegeben hatte.
Der erste Platz war nicht erreichbar, aber musste er überhaupt gewinnen? Wieso nicht doch weiterlaufen, dachte er. Dem Tempomacher wurde klar, dass es egal ist, ob er gewinnen würde oder
nicht. Er konnte auch einfach aus Spaß laufen. So wie früher, mit seinem Vater. Die Last des Siegens,
fiel von Bens Schultern. Sein Team würde auch Punkte bekommen, wenn er nur durchkam.
Die letzten 19 Kilometer konnte er im Notfall auch gehen. Er hatte noch 6 Stunden Zeit. Mühselig
richtete er sich auf. Vom Gehen ging er ins Traben über. Dann lief er. Nicht schnell, aber er
lief. Die Welt schrumpfte wieder auf einen zwei Meter Lichtkegel zusammen. Er lief der nächsten Versorgungsstation entgegen.
Immer lauter wurde die Musik, die aus dem Tal hallte. Nur noch fünf Kilometer. Ben rannte wie
auf Wolken. Neben ihm lief Susi. Sie hatte bei der letzten Verpflegungsstation auf ihn gewartet.
»Los gehts. Bringen wir es zu Ende«, rief sie. Drei Stunden hatte sie gewartet, bis er endlich an
gehumpelt kam. Wie ein Zombie war er aus dem Dunklen gewankt. Susi gab Ben neue Kräfte. Gemeinsam liefen sie dem Sonnenaufgang entgegen.
Links und rechts von ihnen thronten Bäume empor. Eine Allee schlängelte sich im Bogen um den
Berg herum. Kies knirschte unter ihren Schuhen. Es roch nach Gras.
»Siehst du die Lichter?«, fragte Ben.
»Ja, wunderschön.«
» Danke, dass du an mich geglaubt hast.« Er wischte sich eine Träne weg. Im Augenwinkel sah
er Susi lächeln. Als sie auf die Zielgerade einbogen wurden sie von einer jubelnden Menschenmenge
begrüsst. Die letzten Meter lief Ben wie in Trance. Der ganze Schmerz fiel von ihm ab. Er
sah die anderen die ihnen begeistert zuwinkten. Lars nickte anerkennend. Bens Beine liefen immer
weiter, bis über die Ziellinie. Das erste, an dass sich Ben wieder bewusst erinnerte, war der
Kuss von Susi. Er hatte es geschafft.