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Der Teich
„Zieh dich gut an, Hugo, es ist kalt draußen.“
Der Junge seufzte. Das hatte seine Mutter ihm inzwischen bestimmt fünf Mal gesagt.
„Nun beeil dich! Herr Horstmann mag es nicht, wenn ich zu spät komme. Du weißt, es ist Erntezeit, und der Bauer weiß gar nicht mehr, wo ihm der Kopf steht.“
Hugo seufzte wieder. Auch das hatte er schon zig Mal gehört. Endlich hatte er es geschafft, in seine widerspenstigen Schuhe zu schlüpfen. Es gelang ihm sogar, sie alleine zuzubinden. Aber er war ja auch schon groß. Fast fünfeinhalb Jahre, da musste man das ohne Hilfe können.
„Ah, Frau Badinski, tauchen Sie endlich auf?“, wurde die Magd vom mürrischen Bauern begrüßt.
„Tut mir wirklich sehr Leid, Herr Horstmann, aber Hugo hat beim Anziehen so rumgetrödelt.“
Der Bauer schaute den Jungen finster an. Hugo blickte ein wenig ängstlich zurück. Er wurde rot im Gesicht. Nur seinetwegen bekam seine Mutter jetzt Ärger.
„Na gut, dann mal an die Arbeit. Hugo kann mit Karl spielen, der hat schulfrei bekommen für die Erntezeit, aber heute Morgen würde er bloß im Weg rumstehen.“
Der Bauer führte Hugos Mutter zum Feld und erklärte ihr, was sie zu tun hatte. Der Junge schaute den beiden nach und blieb einen Moment stehen, weil er nicht recht wusste, was er jetzt machen sollte.
„Hallo, Hugo!“, rief eine Stimme hinter ihm.
„Karl!“ Hugo grinste seinen Kumpel an.
„Musst du deinem Papa heute nicht helfen?“, wollte der Junge wissen. Karl schüttelte den Kopf.
„Der hat so viel zu tun, er meint, ich würde ihn bloß stören. Macht aber nichts. Wenn ich groß bin, will ich eh kein Bauer werden. Lieber Millionär oder so. Wollen wir was spielen?“, fragte Karl.
„Klar“, meinte Hugo. „Aber was?“
„Kennst du unseren Teich schon? Da drin waschen die Mägde immer die Wäsche. Und da sind Fische drin. Vielleicht fangen wir welche.“
„Braucht man dazu keine Angel?“, fragte Hugo.
„Nee, ich hab schon mal welche mit dem Stock gefangen. Aber da war ein Wurm dran. Als Köder.“
„Iiieh, Würmer! So was mögen die Fische?“ Hugo schüttelte sich.
„Klar, Würmer fressen die am liebsten. Komm mit.“ Karl rannte los, Hugo hinterher.
„Fang mich!“, rief Karl und wurde schneller. Er lief durch die große Scheune, wobei er fast mit seiner Mutter zusammengestoßen wäre. Sie schimpfte, doch die beiden Jungen waren längst aus der Hintertür des großen Gebäudes geschlüpft und stürmten durch den Gemüsegarten, vorbei an den vielen leeren Beeten, die bereits abgeerntet worden waren.
Schließlich kamen sie durch ein Tor im Gartenzaun und standen vor dem großen Teich. Karl hielt schnaufend auf dem Holzsteg inne, auf dem immer die Wäsche gewaschen wurde, und wartete darauf, dass Hugo ihn einholte. Nur wenige Sekunden später kam auch er durch das Tor gerannt und lief auf Karl zu.
„Vorsicht, der Steg ist rutschig“, sagte Karl, doch es war bereits zu spät.
Hugo rutschte auf den glitschigen Brettern aus und fiel kopfüber in das kalte Wasser, wo er hilflos herumplantschte. Karl lachte, weil Hugos Kopfsprung einfach zu komisch ausgesehen hatte, doch plötzlich merkte er, dass Hugo um Hilfe rief und hörte auf zu lachen.
„Karl!“, prustete Hugo. „Hilfe! Ich kann nicht schwimmen!“
Karl rutschte das Herz in die Hose. Er hatte keine Ahnung, was er tun sollte. Er hätte seine Mutter holen können, aber die hätte sicherlich geschimpft, denn eigentlich durfte er nicht alleine an den Teich gehen.
Außerdem wusste er nicht, wie lange Hugo sich noch über Wasser halten konnte. Panisch schaute er sich um, ob nicht vielleicht irgendwo zufällig ein Knecht vorbei kam. Doch weit und breit war niemand zu sehen. Da fiel Karls Blick auf einige Bohnenstangen, die an einen Kirschbaum gelehnt waren und auf den nächsten Frühling warteten. Karl rannte zu dem Baum hinüber, schnappte sich eine der Bohnenstangen und rannte zurück auf den Steg, wobei er selbst fast ausgerutscht wäre.
„Hier, halt dich daran fest!“, rief Karl dem Jungen zu, der panisch auf das Wasser einschlug.
Irgendwie gelang es Hugo, die Stange zu erwischen. Karl benutzte all seine Kraft, um den Jungen herauszuziehen. Schließlich saßen die beiden keuchend auf dem Steg.
„Mir ist kalt“, sagte Hugo und zitterte.
„Aber wir können jetzt nicht ins Haus“, meinte Karl. „Meine Mama hat mir verboten, an den Teich zu gehen. Das gibt bestimmt Ärger, wenn die das sieht.“
Karl überlegte, was er tun könnte. Dann hatte er plötzlich eine Idee.
„Komm, wir gehen in die Gartenlaube. Da können wir warten, bis du trocken bist.“
Hugo nickte erschöpft.
Fünf Minuten später saßen sie in der Laube. Hugo schniefte.
„Ich will zu meiner Mama“, heulte er.
„Komm, sei kein Baby“, meinte Karl, „wenn du trocken bist, können wir ja reingehen. Aber jetzt gibt das Ärger, wenn dich meine Mama so sieht. Und deine Mama mag das sicher auch nicht.“
Hugo seufzte, sah aber ein, dass Karl recht hatte. Er wollte auch keinen Ärger mit seiner Mutter bekommen. Und so warteten sie weiter, bis sie plötzlich eine Stimme zusammenzucken ließ.
„He, was macht ihr zwei da?“
Ein junger Mann kam auf die Laube zu und steckte seinen Kopf durch den Eingang. Karl erkannte ihn. Es war Johannes, einer der Knechte seines Vaters.
„Karl, du bist das also“, sagte der Knecht. „Und dich kenne ich auch. Du bist doch der Sohn von Frau Badinski.“
Erst jetzt bemerkte er, dass Hugo klatschnass war.
„Sag mal, was ist denn mit dir passiert?“, fragte Johannes.
„Ich bin in den Teich gefallen“, antwortete Hugo kleinlaut.
„Geh bloß ins Haus, du holst dir sonst noch den Tod bei der Kälte hier draußen“, meinte der Knecht und packte die beiden Jungen am Arm.
„Aber meine Mama ...“, sagte Karl und riss sich los.
„Keine Angst, ich rede mit ihr. Dein Freund hier muss unbedingt vor den warmen Ofen“, sagte Karl und lief mit Hugo an der Hand zu dem großen Fachwerkhaus, in dem der Bauer mit seiner Familie wohnte.
Karl trottete hinterher.
Schließlich saßen die Jungen am Esstisch in der großen Küche, die vom Herdfeuer gewärmt wurde. Hugo war in eine dicke Decke eingewickelt und die beiden Jungen tranken heiße Milch.
„Ihr macht vielleicht Sachen“, sagte Frau Horstmann kopfschüttelnd.
„Hugo hätte tot sein können!“, schimpfte Hugos Mutter. „Was hast du dir nur dabei gedacht?“
„Ich wollte ja nicht, dass das passiert“, schluchzte Karl.
„Kein Wort mehr! Wir sprechen uns noch!“, schrie Karls Mutter ihren Sohn an. Der Junge blickte auf seine heiße Milch und schniefte vor sich hin.
„Nehmen Sie ihn bitte nicht so hart ran“, sagte der Knecht, der ein wenig abseits auf einer Holzbank saß und bisher nur zugeschaut hatte. „Ich glaube, die beiden haben ihre Lektion gelernt.“
O ja, das hatten sie.