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Der Taube
Dies war im Original eine Hausaufgabe.
Die Aufgabe war:
Schreibe eine kurze Geschichte mit dem Titel "Der Taube"
(Bemühungen, den Titel "die Taube" verwenden zu dürfen, schlugen leider fehl )
Und da Schule im Allgemeinen ziemlich seltsam ist, hab ichs in "Seltsam" gepostet...
Er ist taub.
Er war nicht immer taub.
Früher konnte er sehr gut hören.
Früher.
Jetzt ist er taub.
Früher war er munter, fröhlich, strahlend wie ein wolkenloser Hochsommerhimmel,
immer bereit den anderen zuzuhören,
immer bereit, bei Bedarf auf sie zu hören,
immer bereit, sich bei seinen Entscheidungen unterstützen zu lassen,
immer bereit, bei guten Gegenargumenten einen anderen Beschluss zu fassen,
doch nun
ist er taub. Taub.
Es war nicht seine Schuld.
Die Schildkröte hat sich in ihren Panzer zurückgezogen.
Aus Angst vor der Kälte.
Der eisigen Kälte, gespeist durch die Ablehnung in der Gesellschaft.
Und dabei war es doch nicht seine Schuld.
In einen Panzer aus Vorurteilen,
dem Unvermögen den anderen zuzuhören,
seine Meinung zu überdenken,
Sicher, dass es nicht seine Schuld war?
in einen Panzer aus blankem Hass, Engstirnigkeit und Intoleranz.
War es nicht doch seine Schuld?
Er war doch so jung.
Und so glücklich.
Aber das war früher.
Genau so wie ein Igel sich gegen ankommende Autos zu schützen versucht,
versucht er sich vor den anderen zu schützen,
doch genau so vergeblich ist es.
Früher musste er so etwas nicht.
Früher wusste er von so etwas nicht.
Früher hörte er besser.
Verdammt, er war so jung! Es war bestimmt nicht seine Schuld.
Wer ist schuld?
Dass er jetzt hier sitzt, genau 4 Jahre, nachdem er auf einer Party nicht zu taub war,
auf den Ratschlag eines „Freundes“ zu hören.
Nicht zu taub, sich dann, diesem guten Rat nach, eine Nadel in die Vene im linken Unterarm zu bohren.
War es doch seine Schuld?
Dass er jetzt hier sitzt, sein ständiger Begleiter seit jenem Abend auf einem hölzernen Beistelltischchen links neben ihm verloren liegt.
Es war seine Schuld!
Dass er jetzt hier sitzt, einen geladenen Revolver an seine rechte Schläfe schmiegt.
Seine blutunterlaufenen, ehemals wunderschönen, Augen.
Sein blasses Gesicht.
Sein ganzer Körper,
fühlt sich an, als ob er das doppelte wiegt.
Überzogen mit einer nassen Schicht aus Schweiss.
Ihm ist heiß.
Er ist schuldig!
Er hat sich seitdem geschworen,
nie mehr so leichtsinnig zu sein,
nie mehr auf jemanden zu hören.
Er hat angefangen, mit dem Hören aufzuhören. Taub zu werden.
Schuldig.
Noch wenige Minuten und er wird mit Sicherheit keine Gelegenheit mehr haben, diesen Schwur zu brechen.
Es war seine Schuld,
und Schulden müssen bezahlt werden.
Egal wie.