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Der Taschendieb
Das laute Geratter eines vorbeifahrenden Zuges schreckte Dawn aus ihren Träumen auf. Sie griff hektisch nach ihrem Rucksack. Viel besaß sie nicht, doch das wenige, was sie ihr Eigen nennen konnte, hütete sie wie ihren Augapfel. Nur ein paar Dinge, die sie an ihr früheres Leben erinnerten.
Ein Blick auf die Bahnhofsuhr verriet ihr, sie hatte wieder den halben Vormittag verschlafen. Dawns Magen knurrte, während sie in die Halle des kleinen Bahnhofes trat. Der Geruch von Hot Dogs zog ihr in die Nase, worauf sich ihr Magen erneut meldete. In ihrer Hosentasche fand sie etwas Kleingeld und schlenderte auf den Hot Dog Stand zu. Plötzlich spürte sie einen Ruck von hinten und Dawn fand sich auf dem Boden wieder. Sie konnte gerade noch sehen, wie eine schmächtige Gestalt in Richtung Hinterausgang rannte. Ihr Rucksack! Dawn wurde ganz schlecht vor Panik, während sie dem Dieb nachlief. Weit konnte er noch nicht gekommen sein.
»Hey!« Dawn fand den Dieb hinter dem Bahnhofsgebäude. Erschrocken fuhr er herum. Schnell rannte er über die Schienen und verschwand zwischen dem dichten Gestrüpp am Rand der Gleise. »Bleib sofort stehen!« Fluchend verfolgte sie ihn, doch er war einfach zu schnell für sie. Dawn irrte durch das Gestrüpp, ihr Gesicht war schon ganz zerkratzt und überhaupt wusste sie nicht, in welche Richtung er verschwunden war. Sie ließ sich auf die Knie fallen, ihr Herz raste und Tränen rannen ihr über die Wange. Ihr ganzes Leben war in dieser Tasche und jetzt war es weg. Schluchzend vergrub Dawn ihr Gesicht in ihren schmutzigen Händen.
Sein Puls raste, mit Leichtigkeit hatte er sie abgehängt. Es war so einfach einem Mädchen die Tasche zu klauen. Als er sicher war, dass er sie auch wirklich abgeschüttelt hatte, lehnte er sich an einen Baum und öffnete den Rucksack, um seine Beute zu begutachten. Ein Foto fiel auf den feuchten Waldboden. Er hob das Bild auf um es zu betrachten. Er erkannte darauf das Mädchen, das er soeben beklaut hatte. Er musste zugeben, hübsch war sie ja. Sie hielt eine Frau im Arm, die ihr sehr ähnlich sah, wahrscheinlich ihre Mutter. Er durchsuchte die Tasche nach Geld oder irgendwas, was er zu Geld machen konnte. Nichts. Ein Buch, Fotos und ein paar andere Dinge, die ein Mädchen so braucht. Warum hatte sie so einen Aufstand gemacht? Obwohl er nicht lesen konnte, blätterte er in dem Buch. Es war komplett voll geschrieben und er fragte sich, was wohl darin stand. Bis auf das Foto packte er wieder alles in den Rucksack und warf ihn sich über die Schulter. Das Foto steckte er in seine Hosentasche und machte sich auf den Weg zurück zum Bahnhof.
Dawn saß auf einer Bank am Bahnsteig, den Blick starr auf die Stelle gerichtet, an der sie den Dieb aus den Augen verloren hatte. Als wenn das helfen würde, dachte sie immer wieder. Sie schreckte hoch, als ihr jemand einen Rucksack auf den Schoß schmiss. Nein, das konnte doch nicht sein! Sie sah auf und blickte in ein Paar schwarze Augen, die verlegen zu Boden schauten, sobald sich ihre Blicke trafen. »Du!« Dawn sprang dem Dieb entgegen und wollte ihm eine Backpfeife geben, doch er hielt ihr Handgelenk fest. »Na du hast ja Nerven! Erst beklaust du mich und dann tauchst du aus dem Nichts auf und-«
»Und bringe dir deine Sachen zurück.«, beendete er ihren Satz. »Was aber wohl ein Fehler von mir war, so wie du dich hier aufführst.«
Fassungslos starrte sie ihn an. »Wie ich mich aufführe? Erst beklaust du mich und dann willst du einen Dank dafür, dass du mir meine Sachen wiederbringst?« Am liebsten hätte Dawn laut losgelacht. Sie befreite sich aus seinem Griff und schnappte sich ihren Rucksack. »Warte, bitte.« Er hielt sie an der Schulter fest. »Warum trägst du so viele Fotos mit dir herum und was ist das für ein Buch?« Dawn wandte sich wieder dem Dieb zu. »Du hast dir meine Fotos angeschaut?« Langsam verlor sie die Geduld. Konnte er nicht einfach abhauen und sie in Ruhe lassen? »Und was geht es dich an, was in meinem Buch steht? Hattest doch die Chance darin zu lesen.«
»Nein, weil ich nicht lesen kann.« Scheinbar bereute er seine Worte, denn er schaute verlegen auf den Boden. Dawn musste lachen.
»Du kannst nicht lesen? Wer soll dir denn das abkaufen! Wie alt bist du? Fünfzehn bestimmt. Lass mich einfach in Ruhe. Danke, dass du meine Sachen zurück gebracht hast und jetzt hau ab!«
Er sah ihr nach, als sie im Bahnhofsgebäude verschwand. Wieso hatte sie ihn ausgelacht? Lesen füllte nicht seinen Magen, wozu brauchte er es also? Dumme Gans! Hübsche dumme Gans. Fast hatte er seinen Hunger vergessen, doch jetzt knurrte sein Magen wieder und er schaute sich um, wem er um etwas Geld erleichtern konnte. Der Bahnsteig war fast menschenleer, also ging er in die Halle. Er entdeckte eine ältere Frau, die suchend vor dem Fahrplan stand. Er schlenderte an ihr vorbei, schaute sich unauffällig um, ein schneller Griff in die Handtasche und er verschwand hinter einem Zeitungsstand.
»Soso, scheinbar kannst du nur Mädchen und alte Frauen berauben.« Erschrocken drehte er sich um. Da stand sie wieder und grinste ihn an. Diese wunderschönen grünen Augen.
»Ihr werde ich es aber nicht zurück geben, falls du darauf hinaus willst.« Schnell verstaute er das Geld in seiner Hosentasche und schmiss die Geldbörse weg.
»Keine Sorge. Ich hab nur gedacht, du könntest vielleicht einem hungrigen Mädchen etwas zu essen besorgen.«
»Dir? Du wolltest mich gerade noch schlagen! Ausgelacht hast du mich auch. Ich kenn nicht einmal deinen Namen.«
»Dawn. Mein Name ist Dawn.« Sie hielt ihm ihre zerkratzte Hand hin. Er schüttelte sie, vielleicht etwas zu grob. Mit Mädchen hat er ja sonst nichts zu tun.
»Rafi.«
»Was ist denn das für ein Name?«
»Was ist Dawn für ein Name?«
»Okay, okay! Also?« Sie schaute ihn fragend an. Fast schon ein wenig herausfordernd. Sollte er ihr den Gefallen tun?
»Wenn du mir sagst, was in deinem Buch steht?« Er grinste sie an. Es machte ihm Spaß mit ihr zu streiten.
»Du kannst echt nicht lesen?« Ungläubig starrten ihn die grünen Augen an. Wieder sah er etwas verlegen drein. Musste sie immer darauf anspielen? Wieso hatte er ihr überhaupt davon erzählt?
»Nein. Ich hatte es bis jetzt auch noch nie gebraucht! Lass uns was essen.« Trotzig stapfte er and Dawn vorbei zu dem Hot Dog Stand, an dem er sie vorhin noch überfallen hatte.
Dawn schlang ihren Hot Dog hinunter, es tat gut wieder etwas warmes zu essen. Rafi hockte neben ihr auf der Bank. Seine kurzen schwarzen Haare sahen aus, als würde er sie selber und ohne Spiegel schneiden. Seine dunkle Haut war, wie ihre auch, übersäht mit Kratzern aber am meisten faszinierten sie seine schwarzen Augen. Er sah zu ihr rüber und sie wandte schnell ihren Blick ab um den letzten Bissen ihres Hot Dogs zu verschlingen.
»Also? Was ist das für ein Buch? Wieso trägst du Fotos mit dir herum?« Seine schwarzen Augen schauten sie ungeduldig an.
»Meine Familie. Nachdem meine Mutter starb, fing mein Vater mit dem trinken an. Das Buch gehörte ihr.« Sie holte es aus ihrem Rucksack und strich mit der Hand über den Einband. »Es ist ihr Tagebuch, wenn ich es lese, ist es, als sei sie bei mir.« Eine Träne lief ihr über die Wange.
»Bist du weggelaufen?«
»Mein Vater wollte mich nicht mehr. Nachdem meine Mutter starb, hörte er auf sich um mich zu kümmern. Er trank den ganzen Tag und wenn ich ihn trösten wollte, schrie er mich an. Dann kamen Leute, die mich mit in ein Heim nahmen. Da hab ich es nicht lange ausgehalten.«
»Wo willst du jetzt hin?« Er wischte ihr die Träne mit dem Handrücken weg.
»Das weiß ich nicht, ich wollte nur weg.«
»Wenn du willst, kannst du bei mir bleiben. Ich habe zwar kein Haus aber ich weiß wie man satt wird und wie man nachts nicht erfriert.« Er legt seinen Arm um Dawns Schulter und schaute ihr, auf eine Antwort wartend, in die Augen.
»Ich würde sehr gerne bei dir bleiben.« Sie wischte sich die restlichen Tränen aus dem Gesicht und fühlte wie ihr Magen wieder knurrte. Oder war es ein Kribbeln?
Sie würde bei ihm bleiben! Er nahm Dawn an die Hand und rannte mit ihr über die Gleise, hinüber zu einem alten Schuppen. Es wurde bereits dunkel und sie sah müde aus. Eine Lampe gab es nicht, deshalb machte er ein kleines Feuer auf dem Boden. Ob er sie wohl im Arm halten durfte während sie schlief? Dawn setzte sich ans Feuer und schaute sich in dem Schuppen um. Er hatte schon des öfteren hier übernachtet aber meistens schlief er unter freiem Himmel. Vielleicht würde sie das auch bald mit ihm machen, dann könnte er ihre Hand halten und ihr die Sterne zeigen. Ihre echten Namen wusste er nicht, deshalb hatte er ihnen eigene Namen gegeben. Oh ja, er hoffte sie würde immer bei ihm bleiben. Sie könnte ihn auch das Lesen bei bringen, wenn sie das für so wichtig hielt. Ein Lächeln stahl sich auf sein Gesicht.
Er setzte sich neben Dawn und sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Er wollte sie küssen. Würde sie das erlauben? Rafi strich ihr über das braune Haar. Sie roch gut.
»Hast du keine Familie?« Dawn riss ihn mit dieser Frage aus seinen Gedanken. Sie blickte zu ihm auf.
»Irgendwo bestimmt. Ich weiß nicht.« Er zuckte mit den Schultern und strich ihr über die Wange. »Mein Bruder war immer für mich da. Wir sind zusammen durch die Städte gezogen. Irgendwann haben sie ihn beim klauen erwischt und eingesperrt. Seitdem bin ich alleine. Ich vermisse ihn aber nicht, er hat mich immer geschlagen.« Sie schien kurz zu überlegen ob sie etwas dazu sagen sollte, entschied sich dann aber wohl doch zu schweigen. Sollte er sie jetzt küssen? War das der richtige Augenblick? Bevor ihn der Mut verließ, beugte er sich zu ihr, nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände und gab ihr einen Kuss. Sie wehrte sich nicht und schien den Kuss zu erwidern. Rafi hatte noch nie jemanden geküsst, es fühlte sich toll an, das würde er jetzt öfter machen. Er schaute sie an und bemerkte ihre roten Wangen. Rafi lächelte und sie kuschelte sich an ihn. Ja, das gefiel ihm. Beschützend legte er seinen Arm um sie und lauschte ihrem Atem, während sie einschlief.
Am nächsten Morgen wachte Rafi frierend auf und wollte sich näher an Dawn kuscheln. Als er bemerkte, dass sie nicht da war, sprang er auf und lief aus dem Schuppen hinaus. Draußen war auch nichts von ihr zu sehen. Hatte er das alles nur geträumt? Rafi griff in seine Hosentasche und holte ihr Foto heraus. Nein, geträumt hatte er nicht. Scheinbar wurde diesmal der Dieb beraubt. Er würde seinem Herzen aber nicht nachtrauern. Es fühlte sich gut an, wenn mal jemand anderes darauf aufpassen würde. Er rannte in die Bahnhofshalle. Vielleicht war sie ja noch nicht weg und er konnte sich wenigstens bei ihr verabschieden.
»Hey, hast du Hunger?« Grinsend drehte Rafi sich zu ihr um. Ein paar wunderschöne grüne Augen strahlten ihn an. Sie wedelte mit einem Geldschein und er küsste sie.