- Zuletzt von einem Teammitglied bearbeitet:
- Kommentare: 5
Der Tannenbaum - Erlebnisse eines Weihnachtsbaums
1. Geburt
Dies ist die Geschichte eines kleinen Tannenbaums.
Er war nicht anders als jeder andere Baum.
Er war nicht seltsam und auch nicht besonders.
Aber er war ein kleiner Baum der ein schweres Schicksal zu tragen hatte.
Davon möchte ich berichten:
Der kleine Tannenbaum wurde in einem kleinen Wäldchen in der nähe eines Baches geboren.
Es war ein sehr entlegener Waldteil.
Langsam und vorsichtig streckte der kleine Tannenbaum einen Zweig nach dem anderen aus dem Boden und an die frische Luft. Er hatte lange in der Erde geschlafen. Es war warm und friedlich dort unten gewesen. Seine Instinkte hatten ihm jedoch gesagt, dass es noch mehr im Leben gab, als diese mollige Wärme und so hatte er begonnen zu wachsen.
Zum ersten Mal bekam er die Luft zu schmecken. Sie war angenehm kühl und das Atmen verursachte ein angenehmes prickeln auf seinen Zweigen. Dann schaute er sich um:
Es war ein herrlicher Frühlingstag.
Um ihn herum wuchsen kleine Blümchen und er selbst war kaum größer, als ein zaghaftes Blümchen neben ihm. Er sah es an und war entzückt von seiner Schönheit und der Eleganz mit der es sich im Wind wiegte.
Da erfasste auch ihn einen Windböe. Sie schien ihn sanft zu umarmen, brachte ihn zum schwingen und zum tanzen. Der kleine Baum jauchzte vor Glückseligkeit und die Bäume um ihn herum lachten über seinen jungen Übermut, wo er doch kaum mehr als drei Zweige besaß.
Doch er merkte bald, dass die Bäume um ihn herum alle sehr freundlich waren und er fühlte sich wohl in ihrer Gemeinschaft. Direkt in seiner Nähe wuchs auch eine kleine Buche, die kaum älter war als er.
Die beiden so verschiedenen Bäumchen freundeten sich schnell an. Sie spielten viel miteinander. Sie gaben sich gegenseitig Rätsel auf und versuchten schneller zu wachsen als der andere, bis sie merkten, dass dies ein sinnloses Unterfangen war,
da sie darauf keinen Einfluss hatten. Über diese Erkenntnis mussten sie lachen und hatten noch lange ihren Spaß daran.
Doch am liebsten spielten sie zu dritt. Mit dem Wind konnte man am besten spielen. Sie ließen sich von ihm hin- und herschaukeln und wetteiferten wer der bessere Tänzer war.
Der kleine Baum liebte den Wind. Von selbst konnte er sich ja nicht bewegen aber mit ein bisschen Wind schien alles möglich zu sein. Er konnte schwingen, tanzen und sogar fliegen wie die Vögel – zumindest kam ihm das oft so vor.
Er hatte auch oft den Eindruck der Wind flüstere ihm sanfte Märchen und Geschichten zu oder berichtete ihm von Geschehnissen, die fernab seines kleinen Wäldchens passierten. Besonders abends, wenn die Sonne unterging und alles um ihn herum still wurde lauschte er den sanften Zuflüsterungen und lies sich in den Schlaf wiegen.
An manchen Tagen jedoch schien der Wind traurig zu sein.
Sein Wehen schien kraftlos und dieses berauschende Gefühl, dass der kleine Baum jedes Mal bekam wenn er mit dem Wind tanzte, fehlte an diesen Tagen gänzlich.
Und dann fragte sich der kleine Baum, was den Wind so traurig machte. Was hatte er auf seinen Reisen gesehen?
Die Welt ist doch ein so schöner Ort, dachte der kleine Baum, oder sieht es da draußen etwa ganz anders aus als hier?
Er kannte ja nur den kleinen Bach, die Buche, die Blumen und eben alles was um ihn herum wuchs. Das war seine Welt, in der er lebte und die er liebte.
2. Licht und Schatten
Der Lichtstrahl, der den kleinen Tannenbaum wachsen ließ war eines Tages verschwunden.
Das Blätterdach über ihm hatte sich, während er seinen dritten Baumring bekam, geschlossen.
Wasser hatte er genügend, denn direkt in seiner Nähe floss ja der unermüdlich gurgelnde Bach.
Die kleine Buche hatte mehr Glück. Ein kleines Loch im Blätterdach ließ genügend Licht für sie hindurch, aber der Tannenbaum bekam davon nichts ab.
Doch Tannenbäume sind zäh, das wusste er.
Während andere Bäume ohne Licht absterben, würde er eine Art Winterschlaf halten. Und genau das tat er:
Er wuchs nur noch in die Horizontale, um so auch den kleinsten Lichtstrahl aufzufangen. Alle seine Lebensfunktionen reduzierte er auf ein Minimum und seine nächsten Baumringe waren nur schmale, kaum wahrnehmbare Linien.
Auf diese Weise hätte er 100 Ringe überleben können, dass wusste der kleine Baum, instinktiv.
Der kleinen Buche gefiel das gar nicht. Aber es half nichts. Sie schaffte es nicht ihren Freund aufzuwecken, egal wie hartnäckig sie es versuchte.
Von all dem bekam der kleine Baum kaum etwas mit. Die Spiele mit der kleinen Buche reizten ihn nicht mehr und er wollte nur noch eins: Schlafen. Er merkte kaum wie die Zeit an ihm vorüber strich. Er war so müde und träge. So verschlief der kleine Baum zwei seiner Baumringe.
An diese Zeit hatte der kleine Baum nur wenige Erinnerungen. Es war alles wie ein leichter benebelnder Schlummer. Wie Träume, die man im Halbschlaf hat, kurz vorm Aufwachen, aus denen man jedoch nicht erwachen will, weil sie so schön sind.
3. Der Sturm
Als der kleine Baum schließlich jenen fünften Baumring bekam, geschah es:
Eines Nachts tobte ein schrecklicher Sturm. Es hagelte, regnete, blitze und donnerte ganz fürchterlich. Der Sturm riss an ihm. Dieser Wind war ganz und gar nicht freundlich.
Dieser Wind war wütend.
Angst und Panik überkamen ihn. Er hatte alle Mühe sich in der Erde festzuhalten um nicht umzustürzen. Hilflos wurde er von einer Seite zur anderen geschleudert. Ihm wurde schlecht und schwindlig. Die Nacht war stockfinster und dieser böse Wind bereitete ihm schreckliche Angst. Immer wieder trafen ihn umher fliegende Blätter und Äste. Blitze tauchten den Wald in grelles Licht und zeigten dem kleinen Baum nur weitere Schrecklichkeiten. Die Bäume um ihn herum waren viel zu weit gebogen. Sie mussten furchtbare Schmerzen haben. Überall Knarrte und Knackte es. Plötzlich krachte es ganz laut in seiner Nähe und die Erde erbebte, als direkt neben ihm etwas auf den Boden krachte. Der kleine Baum wusste nicht woher das Geräusch kam oder wovon es verursacht wurde. Mit all seiner Kraft versuchte er nur dem schmerzhaften Reißen und Zerren des Windes stand zuhalten, um nicht entwurzelt zu werden. Die Nacht schien kein Ende nehmen zu wollen. Die Erde wurde immer weicher und der kleine Bach trat über die Ufer. Es wurde immer schwieriger sich in dem weichen Boden festzuhalten…
4. Leben und Tod
Irgendwann spät in der Nacht hatte es schließlich aufgehört zu Stürmen. Als das Morgenlicht sich ausbreitete fiel noch immer ein leichter Nieselregen vom Himmel. Noch nie in seinem Leben hatte sich der kleine Baum so schwach und erschöpft gefühlt.
Er sah sich um und sah mit erschrecken, welche Verwüstung der Sturm verursacht hatte. Der Wald war kaum wiederzuerkennen überall lagen Äste und Blätter - und direkt neben ihm lag ein riesiger Baum!
Angsterfüllt starrte er zu dem Baum hinüber.
Es war eine alte Fichte, die in seiner Nähe gestanden hatte. Sie war immer freundlich zu ihm gewesen und hatte ihm oft Geschichten aus ihrem Leben erzählt. Sie war alt und weise. Doch anscheinend war sie zu alt gewesen, denn sie hatte den Sturm nicht überstanden.
Und dann erst entdeckte er die kleinen Zweige, die unter der Fichte herausragten.
Zweige mit Buchenblättern.
Die Fichte hatte die kleine Buche unter sich begraben. Das kleine Bäumchen war aufs brutalste zersplittert worden. Überall lagen ihre Äste und Blätter.
Stumpf sah er das grauenhafte Bild vor sich und konnte es doch nicht begreifen. Die Realität schien in weite Ferne gerückt zu sein.
Da nahm er die kleine Lebensflamme in der Buche wahr.
Sie lebte noch!
Das kleine Flämmchen flackerte jedoch nur noch schwach. Er rief nach der Buche und versuchte sie aufzuwecken, doch er bekam keine Antwort. Es gab keine Hoffnung das wusste er und doch rief er weiter. Er rief, bis er verzweifelt spürte wie das kleine Flämmchen erlosch.
Nichts! Er spürte sie nicht mehr. Plötzlich war da gar nichts mehr!
Der kleine Baum war in einer Art Schockzustand. Er wollte dieses grauenhafte Bild nicht sehen, aber er konnte auch nicht wegschauen. Er starrte und starrte und die Zeit verstrich. Er konnte später nicht mehr genau sagen, wie lange er in diesem Zustand verharrte.
Als es ihm endlich gelang sich von dem Anblick zu lösen,
bemerkte er, dass überall um ihn herum die Zerstörung zu sehen war.
Nicht nur hier waren Bäume umgefallen. Wohin der kleine Baum auch blickte, überall sah er sie liegen. Umgeknickt wie Streichhölzer und überall lagen abgebrochene Äste auf dem Boden.
Das Leben hatte seinen Reiz verloren. Der kleine Baum tanzte nicht mehr, er lachte nicht mehr und nahm seine Umgebung kaum noch wahr.
Er trauerte.
Die Fichte hatte er gern gehabt, aber die kleine Buche war, neben dem Wind seine beste Freundin gewesen.
Und nun waren beide fort und sollten nie wieder kommen.
Er würde die kleine Buche nie wieder sehen. Nie wieder mit ihr spielen oder tanzen können. Sie sollte einfach so fort sein.
In einer einzigen Nacht, von einem Moment auf den Anderen, hatte sich alles verändert und die Buche war aus dem Leben verschwunden.
Das konnte der kleine Baum nicht verstehen und er begann über den Tod nachzudenken.
Warum lebt man wenn man sterben muss?
Werde ich sie jemals wieder sehen?
Und was passiert wenn man stirbt?
All dies beschäftigte den kleinen Baum lange. Er wurde still und zurückgezogen und verbrachte die meiste Zeit des Tages stumm.
Das kleine Bäumchen hatte zuvor nie so richtig über den Tod nachgedacht. Der Tag seines Todes schien ihm immer unglaublich fern, doch jetzt wusste er, dass man immer damit rechnen musste. Und er bemerkte, dass er Angst hatte.
Er hatte große Angst vor dem Tod.
5. Neuanfang
Es dauerte noch viele Sonnenumläufe, bis das letzte bisschen Leben in der alten Fichte erlosch. Es pulsierte unendlich schwach und der kleine Baum konnte den Schmerz der Fichte fühlen. Schließlich erlosch es, wie eine winzige Flamme auf die ein Tropfen Wasser fällt.
Die kleinen Äste des Buchenbäumchens die unter der Fichte herausschauten begannen bereits zu verdorren und herunterzufallen.
Die Zeit verging und der kleine Baum hing seinen trüben Gedanken nach. Immer noch konnte er den Blick kaum von der umgestürzten Fichte wenden. Irgendwann aber geschah etwas, das sein Interesse weckte. Es geschah langsam, verbreitete sich aber stetig. Mit wachsendem Staunen beobachtete der kleine Tannenbaum das Geschehen.
Hellgrünes, zartes Moos begann sich über den gefallen Baum zu spannen. Baumpilze siedelten sich an, und eine Mäusefamilie fand ein Zuhause in dem, inzwischen morschen Holz. Überall krabbelten Käfer und Raupen und andere Insekten über den Baum.
Da begriff das Bäumchen:
Das Leben ging weiter. Die Buche und die Fichte lebten weiter. Um sie herum, in ihnen und durch sie pulsierte überall Leben.
Man kann gar nicht sterben, dachte er.
Es gibt kein Ende. Es ist ein Kreislauf, begriff der kleine Baum. Aus jedem erlöschenden Leben entsteht wiederum neues Leben. Ohne diesen Kreislauf wäre auf dieser Welt überhaupt nichts, und dies wäre ein trostloser Ort.
Der Tod der kleinen Buche war grausam gewesen. Dennoch lebte sie weiter.
Vor dem Tod musste man also keine Angst haben, denn er ist Bestandteil des Lebens.
So gesehen, ist es gar nicht schlimm zu sterben, dachte der kleine Baum.
6. Tanz
Dennoch plante der kleine Tannenbaum etwas älter zu werden als die kleine Buche.
Deshalb wollte er eben seine verbleibende Zeit nutzen und das Leben genießen.
So begann der kleine Baum wieder zu leben.
Und er bemerkte voller Staunen, dass die alte Fichte ihm geholfen hatte. Denn direkt über ihm war nun ein großes Loch im Blätterdach, sodass sich der kleine Baum fortan um Licht keine Sorgen mehr machen brauchte.
In seiner Trauer hatte er dieses Loch gar nicht bemerkt.
Und er bemerkte erst jetzt, dass er aus seinem träumerischen Halbschlaf schon lange erwacht war.
So stürzte er sich mit neuem Enthusiasmus ins Leben.
Er kostete alles aus. Jeder kleine Windstoß, wurde zum Tanz, den er wilder und wilder zu tanzen pflegte, je mehr Wind aufkam.
Und dieses sanfte, leise Klackern, wenn seine Tannennadeln gegeneinander stießen -
Warum hatte er diesem Geräusch nur vorher keine Beachtung geschenkt?
Das Klackern begleitete seine Tänze und bildete die dazu grundlegende Melodie.
Die Bäume um ihn herum stimmten mit ihm in das Orchester ein und obwohl dass Rauschen von Blättern ungleich Kraftvoller war, so war er doch der Meinung, dass seine Musik die Schönste war.
Er liebte diese Tänze. An solchen Sonnenumläufen kam es ihm vor als ob der ganze Wald in das Orchester mit einstimmen würde und die Musik jedes einzelnen klang anders, und doch hatte jeder auf seine Art die Fähigkeit wunderschön zu spielen.
Und alle tanzten sie mit ihm.
Oder tanze er mit ihnen?
Es machte keinen Unterschied. Diese unglaubliche Ekstase ging auf ihn über und all seine Sinne verschärften sich nur auf diesen Tanz, der manchmal dutzende von Sonnenumläufen andauern konnte.
Das waren dann stets Sonnenumläufe, an denen der Wind kraftvoll und glücklich sie umwehte. Er schien mit einzustimmen und sein Rauschen und Pfeifen verlieh dem Lied den letzten Schliff.
Der Wind schien wie eh und je sein bester Freund zu sein. Er schien ihn stets so sanft zu umarmen.
Und so war schnell all das Grauen an den nächtlichen Sturm vergeben.
War das überhaupt derselbe Wind gewesen?
Der Wind in jener Nacht hatte ihm solche Angst bereitet.
Er schien unendlich wütend gewesen zu sein und hatte so rein gar nichts mit dem freundlichen sanften Wind gemein, der den kleinen Baum jeden Sonnenumlauf aufs Neue umarmte und wiegte.
Was hatte diesen Wind so erzürnt?
7. Das natürliche Gleichgewicht
Es war ein friedliches Leben, das der kleine Baum führte.
Er schloss Freundschaften mit anderen Bäumen in seiner Nähe, auch mit ein paar Tannenbäumen, denn er war keinesfalls der einzige Tannenbaum an diesem Waldfleck. Auch ein paar Tiere wurden so etwas wie Freunde für ihn.
Die Mäusefamilie war inzwischen noch weiter gewachsen und einer ihrer Tunnel reichte bis an seien Stamm. Er liebte es den kleinen Tierchen bei ihrem fröhlichen Treiben zu zusehen. Sie huschten hin und her, suchten nach Leckereien und im Frühling konnte er den Mäusejungen beim Raufen und Spielen zusehen.
Manchmal war er etwas neidisch auf sie. Er konnte sich nicht frei bewegen, sondern war fest im Boden verankert.
Doch im Großen und Ganzen war er mit seinem Leben zufrieden.
Er lauschte wie immer den Geschichten des Windes, die im Rauschen seiner Zweige verborgen lagen.
Nur wusste er jetzt, dass es auch andere Winde gab, die stürmisch und reißend waren. Jedoch konnte er den Sturm der die Fichte zu Fall gebracht hatte, nicht als böse bezeichnen. Stürme und Gewitter gehörten zum natürlichen Lauf der Dinge und auch sie trugen zum Fortbestand des Lebens bei. Außerdem war es mit Wind und Sturm wie mit den kleinen Mäusen unter ihm. Die Mäuse waren liebe Tierchen, doch manchmal nagten sie an seinen Wurzeln, um neue Gänge zu graben, was recht schmerzhaft für ihn war. Böse waren die Mäuse deshalb nicht!
Nichts in der Welt ist böse, dass erkannte der kleine Baum nun.
Es gab vielleicht böse Taten, aber nichts auf der Welt war von Natur aus böse.
Somit akzeptierte er das Leben, mit all seinen Launen, denn alles war ein Bestandteil im natürlichen Laufe der Zeit.
8. Menschen
Er war kurz davor seinen achten Baumring zu bekommen, als nun wieder etwas geschah, was seine Ruhe störte.
Er war in den vergangenen zwei Ringen gewachsen. Er hatte kräftige und schöne Zweige bekommen, auf die er besonders stolz war.
An jenem Tag ging ein ängstliches Raunen durch seine entlegene Waldgegend. Die Tiere wurden unruhig und verkrochen sich. Die Vögel flogen auf höher gelegene Äste und eine drückende Stimmung machte sich breit.
Und dann konnte er sie sehen.
Es waren seltsame Wesen, die da auf ihn zukamen. Zwei Stück waren es. Sie liefen aufrecht, waren äußerlich seltsam bunt und gaben seltsame Laute von sich.
Was ist das? Fragte sich der kleine Tannenbaum und betrachtete die Wesen voller Neugier. Es schienen Tiere zu sein, doch es waren die seltsamsten Tiere die er je gesehen hatte. Aber was sollte sie sonst sein?
Sie waren etwa so groß wie er. Ihr seltsames Äußeres war wirklich schön bunt, manche dieser Farben hatte er bislang nur am Regenbogen gesehen, den er erst kürzlich am Himmel bestaunt hatte.
Menschen! raunte es durch die Reihen der Bäume.
Menschen? Was sind Menschen? Fragte sich der kleine Baum und blickte ratlos auf die seltsamen Wesen.
Davon hatte er noch nie gehört. Sie gaben wieder diese seltsamen Laute von sich, liefen hin und her, dann rauften sie sich, wie die kleinen Mäuse und wie es alle Tierjungen taten und der kleine Baum beobachtete sie voller Freude. Sie schienen doch ganz nett zu sein, diese Menschen.
Doch dann geschah es: Die Menschen hielten in ihrem Spiel inne und einer der Menschen kam direkt auf ihn zu.
Er packte einen seiner Äste und riss daran. Er riss, knickte und zerrte um den Ast gewaltsam abzureißen. Und als dies nicht wirkte begann er den schon halb abgerissenen Ast hin und herzudrehen. Flüssiger Saft und Harz traten aus. Dem kleinen Baum wusste gar nicht wie ihm geschah. Schmerz durchzuckte ihn bis tief in die Wurzeln. Ihm wurde schwarz vor Augen. Schließlich riss der Ast ab.
Der kleine Baum wurde durch den Ruck ein Stück zurück geschleudert und ein höllischer Schmerz breitete sich in dem Aststumpf aus.
Halb ohnmächtig vor Schmerzen sah er, wie der Mensch den Ast betrachtete und dann dem anderen Menschen ein bisschen damit im Gesicht rumfuchtelte. Schließlich warf er den Ast achtlos beiseite. Kurze Zeit später verschwanden die beiden Menschen wieder zwischen den Bäumen.
9. Ein Fehler?
Harz verschloss die Wunde des kleinen Baumes. Auch der pochende Schmerz, der ihn nächtelang wach hielt, hörte nach einiger Zeit auf.
Doch der kleine Baum war zutiefst erschüttert.
Er sah den Ast vor sich liegen. Seinen Ast. Es war einer seiner schönsten und ältesten Äste gewesen. Es hatte viele Baumringe gedauert, bis er so groß geworden war. An seiner Seite klaffte nun eine seltsame Leere und er fühlte sich aus dem Gleichgewicht gebracht.
Er wusste immer noch nicht was Menschen waren.
Doch eins wusste er: Er hasste sie, hasste sie mit jeder Faser seines Holzes.
Er erschrak wegen seiner Gedanken. Das war für ihn ein ganz neues Gefühl. Nie zuvor hatte er gehasst!
Er hatte viele Sonnenumläufe damit verbracht über das Ereignis nachzudenken. Doch er konnte einfach keinen Sinn darin erkennen.
Der kleine Baum hatte gelernt, dass alles was in der Natur geschah, Teil war eines großen und ganzen Systems. Nichts geschah ohne Grund.
Alles was in der Natur geschah hatte einen Grund und sorgte stets dafür, dass Tiere und Pflanzen das Nötigste fürs Leben erhielten.
Doch jetzt war es anders. Der Ast lag noch immer vor ihm auf dem Boden. Die Menschen konnten keinen Grund gehabt haben so etwas zu tun. Es war sinnlos.
Der kleine Baum verstand es nicht.
Warum haben sie das getan?
Hat der Mensch den Ast denn dringend benötigt?
Aber warum hat er ihn dann weggeworfen?
Was sind Menschen überhaupt?
Das war seine größte Frage, doch auf keine dieser Fragen fand er eine Antwort. Tiere waren es jedenfalls nicht, da war er sich nun sicher. Vielleicht waren sie eine einzelne, abgesonderte Rasse.
Menschen hielten sich nicht an das System und sie schienen nichts vom Ausgleich zwischen Geben und Nehmen zu verstehen. Sie schienen ihm ein Fehler zu sein.
Etwas was es gar nicht geben sollte.
Doch warum gibt es solche Fehler?
Und sie konnten so viel Schaden anrichten während er sich noch nicht mal wehren konnte.
Zum ersten Mal verfluchte der kleine Baum die Tatsache, dass er sich nicht Bewegen konnte und somit wehrlos war.
10. Idylle
Die folgenden Ringe des kleinen Baumes verliefen ohne besondere Ereignisse. Die Erinnerungen an jenes Ereignis verblassten, auch wenn sie nie ganz in Vergessenheit gerieten.
Ring folgte auf Ring. In seinem entlegenen Waldfleck herrschte wieder Ruhe und Frieden, als wäre all das Grauen nie geschehen.
Der Tannenbaum erlebte in den folgenden Ringen auch noch mehrere Stürme und Gewitter. Doch keines war so schlimm und so heftig, wie jenes, dem die Fichte zum Opfer gefallen war. Außerdem war er nun viel größer und kräftiger als damals.
Den Regen hatte er sowieso schon immer gemocht. Es war ein herrlich erfrischendes Gefühl, wenn der Regen über seine Zweige rann. An Regentagen fühlte sich der kleine Baum wie neu geboren. Er strotzte vor Kraft und Energie.
Der Tannenbaum wuchs, wurde größer und konnte allmählich immer besser die Gegend überschauen. Er sah in jeder Blütezeit die Blumen aus dem Boden Sprießen und bewunderte ihre herrlichen Farben. Er beobachtete auch die Geburt eines kleinen Tannenbaumes. Er sah zu, wie das kleine Bäumchen seine ersten Zweigchen aus dem Boden streckte und erinnerte sich, dass auch er so angefangen hatte.
11. Jahreszeiten
Der kleine Baum bewunderte, die Tapferkeit der Laubbäume. Er könnte sich nicht vorstellen, sich bei jedem seiner Ringe von seinen Nadeln zu verabschieden.
Denn genau das, mussten die Laubbäume in einem ständigen Wechsel durchmachen. Wenn die Sonnenumläufe kürzer wurden und die Zeit der Hitze allmählich nachließ, begann die Zeit des Abschieds.
Dann färbten sich die Blätter der Laubbäume in den herrlichsten Farben.
Der kleine Baum liebte diese Zeit.
Es sah so prächtig aus, wenn im Wald überall diese Farben erschienen. Dann blies der Wind stets heftiger als sonst durch den Wald, löste die Blätter von den Ästen und lies sie wild umhertanzen, bis sich ein bunter Teppich auf dem Waldboden bildete. Glücklich schaukelten die Blätter im Wind, gelöst und frei als würden sie zum Abschied winken. Der kleine Tannenbaum konnte sich gar nicht satt sehen an diesem herrlichen Schauspiel. Er musste ja auch nicht Abschied nehmen.
In dieser Zeit verstand sich der kleine Baum besonders gut mit den anderen Tannenbäumen, denn die Laubbäume waren zur Zeit des Abschieds immer sehr launisch.
Manchmal schienen sie vor Freude und Liebesgefühl für ihre Blätter zu platzen und an anderen Tagen waren die Laubbäume dann wieder gemein und fies zu ihm, weil sie mit ihrem Leid nicht anders umgehen konnten und ihren Frust irgendwo ablassen mussten.
Der kleine Baum konnte das sehr gut verstehen, für ihn war jede einzelne seiner Nadeln etwas Besonderes und er kannte sie alle, er spürte jede von ihnen. Er konnte sich nicht vorstellen, von ihnen Abschied nehmen zu müssen, doch er wusste, dass auch Tannenbäume mehrfach in ihren Leben ihre Nadeln verloren.
Ach möge dieser Tag noch fern sein, dachte der kleine Baum und betrachtete weiter, wie sich die Farben im Wald ausbreiteten.
Der Kältezeit war stets eine stille Zeit. Die Laubbäume dösten vor sich hin und taten nichts anderes, als Warten. Sie warteten, dass die Kältezeit vorbei ging, um ihre neuen Blätter zu begrüßen, nach denen sie sich so sehnten, dass sie an nichts anderes mehr denken konnten. Auch sah der Wald in der Zeit der Kälte immer furchtbar traurig aus. Die Laubbäume waren kahl und sahen im Dunklen sogar richtig gespenstisch aus.
Und diese Stille, ohne das Rauchen der Blätter war stets kaum auszuhalten.
An manchen Morgenden jedoch verwandelte der Wald sich in ein glitzerndes Märchenland. Eiskristalle hingen dann an jedem noch so kleinen Zweig und glänzten und glitzerten in der aufgehenden Morgensonne. Es war einfach wunderschön und wenn dann der Wind wehte und die Zweige aneinanderstießen so vernahm man ein leises Klirren und Klingeln. Diese Lieder konnte man nur selten hören und daher schien an einem solchen Morgen die ganze Welt zu verstummen, um diesem wunderschönen, sanften Klängen zu lauschen.
Aber ansonsten war der Wald ohne das Rauschen der Blätter irgendwie trostlos und leer. Oft kam es ihm so vor, dass alle Zeit einfach stehen blieb. Nichts wuchs, nichts gedieh und Tiere bekam man nur noch wenige zu Sehen. Die meisten Vögel waren fort geflogen und viele Tiere schliefen in ihren Höhlen, eingemummelt, bis die Kältezeit vorüber war.
Den Schnee konnte er schon gar nicht leiden. Es sah zwar wunderschön aus, wenn alles von einer weißen Schicht überzogen war, aber diese Schneelasten waren nicht auszuhalten. Der Schnee blieb auf seinen Ästen liegen und machte sie bleiern schwer. Er fühlte sich dann bedrückt und irgendwie eingesperrt. Der Wind wehte um ihn herum, aber er brachte keine Bewegung zustande. Steif stand er da und konnte nur warten bis der Schnee schmolz oder von allein herunterfiel.
Manchmal hatte er auch Angst, dass seine Äste unter der Last brechen würden.
Dann betrachtete er, um sich die Wartezeit zu vertreiben, des Nachts immer gern den Himmel.
Durch sein Loch im Blätterdach konnte er Prima die vielen kleinen Lichter dort oben betrachten.
Er fragte sich oft was diese Lichter waren. Aber es war ihm andererseits auch ziemlich egal. Er liebte es einfach sie zu sehen und fand sie wunderschön. Er hoffte auch dass sie nie verschwinden würden, so wie sie jedes Mal bei Sonnenaufgang verschwanden, und er nie wusste wo sie waren. Doch jeden Abend waren sie wieder da.
Der Mond war auch schön anzuschauen, doch im Gegensatz zur Sonne waren seine Strahlen kraftlos und kalt. Dennoch mochte der kleine Baum den Mond. Er strahlte eine Ruhe aus, die ihn jedes Mal durchflutete wenn er ihn sah. Diese Harmonie, die ihn ergriff, war wunderschön und auch die anderen Bäume schwelgten gerne darin.
In der Blütezeit dann, krochen alle Tiere wieder aus ihren Schlupfwinkeln hervor. Zunächst etwas verschlafen, doch dann begrüßten sie übermütig die Blütezeit. Auch die Vögel, kamen allmählich wieder und zwitscherten aufgeregt von ihren Erlebnissen in der Ferne. Am Waldboden kamen dann überall Blümchen hervor und die Bäume harrten alle in freudiger Erwartung.
Dann kamen die ersten Knospen, und die Laubbäume waren so glücklich. Sie hüteten und beschützten die Knospen, wie die Vögel ihre Eier, aus denen ihre Jungen schlüpfen würden.
Und dann hatte der Wald seine Pracht wieder gewonnen. Überall war grün. Ein so schönes, helles grün, dass der kleine Baum ganz neidisch wurde. Dieses grün erschien ihm jedes Mal wie die schönste Farbe der Welt.
Und schnell war all der Missmut, der Kältezeit vergessen.
Das unbändige Rauschen, das alle so vermisst hatten, war endlich wieder da.
12. Der Strich
Zwei weitere Ringe kamen, ehe der kleine Baum wieder mit Menschen zusammentraf.
Der Tannenbaum sah nun schon sehr stattlich und schön, in seinem grünen Nadelkleid, aus.
Die Zeit des Abschieds ging gerade zu Ende und die Zeit der Kälte kündigte sich bereits an. Die Sonnenumläufe wurden immer kürzer und die Dunkelheit dauerte zunehmendes länger.
Der Tannenbaum war 11 Ringe alt, als sich erneut das Kommen der Menschen ankündigte.
Wieder wich die fröhliche und friedliche Stimmung in seinem Waldteil. Angst machte sich breit.
Panik stieg in dem kleinen Baum hoch. Was würde diesmal geschehen?
Diesmal, war es nur ein einzelnes Exemplar. Der Mensch war größer als die beiden Menschen, die der kleine Baum vor ein paar Ringen gesehen hatte.
Er lief durch den Wald und schien sich genau umzuschauen. Der kleine Baum beobachtete den Menschen und bemerkte, dass er sich ausschließlich Tannenbäume anzuschauen schien.
Die Panik die der kleine Baum verspürte wurde noch größer. Der Mensch kam auf ihn zu, trat an ihn heran und betrachtete den kleinen Baum eingehend. Er lief einmal um ihn herum, nahm einen seiner Äste in die Hand, ließ ihn aber wieder los.
Dann holte er etwas Seltsames hervor und malte einen roten Strich rund um den Stamm des Tannenbaumes.
Schließlich verschwand er wieder.
Der kleine Baum war erleichtert. Diesmal war nichts Schlimmes passiert.
Neugierig betrachtete er den seltsamen roten Strich, doch er wusste nicht, was es damit auf sich hatte.
Er grübelte lange, was dieses seltsame Ereignis bedeuten mochte, doch er konnte sich keinen Reim darauf machen.
Wieder einmal waren die Menschen für ihn undurchschaubar. Was sie taten ergab für ihn keinen Sinn.
Er beschloss nicht weiter darüber nachzudenken.
13. Der Fall
Doch es verging nicht einmal ein Mondumlauf, als wieder Menschen kamen.
Er hatte das Ereignis mit dem Menschen schon wieder fast vergessen und den seltsamen Strich kaum beachtet.
Schon von weitem war ein lautes Geräusch zu hören. Dem Geräusch folgte jedes Mal ein Krachen, dass die Erde unter ihm erzittern ließ.
Die Geräusche machten dem kleinen Baum Angst. Er spürte, dass es nichts Gutes bedeuten konnte.
Wieder hatte er panische Angst, als er die Menschen auf sich zukommen sah. Diesmal zu recht!
Es waren 4 Menschen. Einer von ihnen kniete sich neben ihn und wieder erschallte dieses laute Geräusch.
Schmerz durchzuckte ihn.
Irgendetwas fraß sich durch seinen Stamm.
Der Schmerz war überall. Er durchzuckte ihn bis in die kleinste Zweigspitze. Ihm wurde schwindelig. Wo waren seine Wurzeln? Er spürte sie nicht mehr.
Er kippte um.
Der Boden kam immer näher, ein paar Äste knickten bei dem Aufprall, dann sah er nur noch Schwärze....
14. In der Hölle
Als er erwachte, stand er wieder aufrecht.
Ihm wurde wieder schwindelig. Alles drehte sich und es fiel ihm schwer nicht gleich wieder in Ohnmacht zu fallen.
Seine Wurzeln waren weg.
Fort!
Er spürte sie nicht mehr.
Was ist bloß geschehen? Fragte sich der kleine Tannenbaum.
Ein schrecklicher Schmerz pochte in seinem Baumstumpf.
Er stand in einem seltsamen Gefäß, dass sein Umfallen verhindern sollte und seine Wurzeln ersetzte.
Ein Metallstück war zusätzlich durch seinen Stamm getrieben worden, um dem Baum halt zu geben.
Es war ein furchtbarer Ort an dem sich der Tannenbaum befand. Um ihn herum wirkte alles tot.
Überall tote Gegenstände, viele aus Holz gemacht.
Statt schöner feuchter Erde war der Boden aus Holz.
Es war in Streifen geschnittenes Holz. Geschliffen, poliert und schließlich hier als künstlicher Boden zusammen gesetzt.
Dem kleinen Tannenbaum wurde ganz schlecht beim bloßen hinsehen.
Diese Bäume mussten schon lange tot sein und trotzdem hatte der Zerfall des Holzes noch nicht eingesetzt.
Diese Bäume waren tot.
Endgültig tot.
Denn nichts wuchs an diesem Ort.
Was bringt das alles?
Warum tun sie das?
Die Menschen hatten ihn an diesen furchtbaren Ort gebracht. Hier gab es kein Leben. Nichts.
Warum? Sie sind doch auch Lebewesen oder etwa nicht?
Warum sollte ein lebendes Wesen an einem toten Ort leben wollen?
Aber doch, es gab Pflanzen. Sie standen in seltsamen Töpfen. Immerhin hatten, sie im Gegensatz zu ihm ihre Wurzel und sogar ein bisschen Erde. Aber sie waren stumm und still. Sie hatten nie ein Leben außerhalb dieses Ortes gekannt.
Sonst bekam er nur Menschen zu Sehen.
Er selbst hatte nur dieses mit Wasser gefüllte Gefäß, und den Metallstab in seinem Stamm. Der Schmerz machte ihn halb wahnsinnig.
Erschöpft schaute er sich weiter um.
Es gab keinen Himmel, keine Wolken, kein blau und auch keine Sterne. Statt dem Himmel war direkt über ihm eine weiße Barriere.
Dieser Ort war von Menschen geschaffen.
Er erkannte, dass nicht nur der Mensch kein Teil des natürlichen Gleichgewichts war, sondern dass sie auch ihre Umwelt aus ihrer Natur entrücken konnten.
Dieser Ort war entrückt von der Welt und allem Lebendigem.
Noch nicht einmal der Wind weht hier, merkte der kleine Baum voller Schrecken.
Kein noch so kleiner Lufthauch war zu spüren.
Der Wind. Wo war er? Sein geliebter Wind.
Und doch wunderte es den kleinen Baum nicht. Was sollte der Wind an diesem Ort wollen? Der Wind konnte wehen wohin er wollte und würde sicher nie hierher kommen wollen.
Jetzt wusste der Baum was es jenseits seines Waldes für Orte gab und wünschte sich sehnlich es nie erfahren zu haben. Wahrscheinlich war der Wind deswegen manchmal so traurig, oder wütend, gewesen. Hatte er auch solche Orte gesehen?
Wie viele dieser Orte gibt es auf der Welt?
Fragte sich der kleine Baum.
Trauer überkam ihn. Trauer weil er sein Zuhause vermisste, den Wald, die Tiere und den lieben Wind.
Und dann empfand er nur noch Hass.
Hass auf die Menschen, die scheinbar ohne Sinn und Verstand, ohne Rücksicht, solche Gräueltaten begingen.
Und diesmal versuchte er nicht den Hass zu verdrängen. Er lies zu, dass das Gefühl ihn durchflutete.
Er verstand das einfach nicht.
Warum tun sie das alles?
Es ergab überhaupt keinen Sinn.
Es verging ungefähr ein Sonnenumlauf. Genau wusste er es nicht er konnte es nur anhand des Lichts ausmachen, dass durch eine durchsichtige Barriere in seiner Nähe strahlte.
Die Sonne selbst konnte er nicht sehen. Er konnte nur ihre Strahlen spüren, die es schafften, durch die durchsichtigen Barrieren hindurch zu dringen.
Manchmal war da auch noch eine andere Lichtquelle. Sie kam aus einem dieser seltsamen Gegenstände. Wenn die Strahlen der Sonne verschwanden, erschienen diese Lichter.
Wozu brauchten sie diese Lichter?
Die Sonne konnten sie damit nicht ersetzen. Diese Lichtstrahlen waren kalt und leblos.
Versuchten die Menschen die Sonne zu kopieren?
Die Sonne war das Leben. Ohne die herrliche Sonne konnte es nichts auf dieser Welt geben.
Versuchen die Menschen diese schöpferische Macht zu kopieren?
Sie zu beherrschen?
Wenn sie es versucht hatten, so war es ihnen jedenfalls nicht gelungen. Dieses Licht war hell und strahlend. Aber es war zugleich auch unheimlich kalt und leblos. Unter diesen Strahlen würde nie etwas entstehen können.
Es war ihnen also nicht gelungen.
Dieser Gedanke bereitete dem kleinen Baum tiefe Genugtuung.
15. Der Weihnachtsbaum
Die Menschen kamen mehrmals in seine Nähe und flössten ihm jedes Mal, von neuem, Angst und Panik ein.
Sie gossen ihm frisches Wasser in das Gefäß in dem er stand.
Es verlängert mein Leiden! Stellte der kleine Baum fest.
Das Wasser hält mich am Leben und verlängert mein Leiden.
Dennoch würde er so, nicht lange leben können. Seine Lebensflamme war schwach und klein. Er schätzte, dass ihm vielleicht nur noch ein Mondumlauf blieb.
Und immer wieder kamen die Menschen zu ihm und taten diese seltsamen Dinge.
Es gab dort mehrere von ihnen, das hatte er festgestellt. Größere und kleinere.
Die kleinen Menschen kamen und behängten ihn mit bunten Gegenständen und kleinen Lichtern.
Der kleine Baum hatte furchtbare Angst und dachte schon sie würden nie fertig werden. Einer der Menschen rutschte, beim aufhängen einer kleinen Kugel, aus und riss ihm beim herunterfallen einen kleinen Ast aus. Es ruckte und ein schmerzhaftes Ziehen breitete sich aus.
Was muss ich noch erleiden? dachte er.
Es schien dem Menschen jedoch überhaupt nichts auszumachen! Munter hängte er das nächste Utensil an einen seiner Zweige.
Wieder musste er hilflos dastehen und zusehen. Unfähig etwas zu tun, musste er alles erdulden.
Als die Menschen fertig waren, versammelten sich auch die restlichen Menschen um ihn herum.
Sie betrachteten ihn eingehend.
Sie freuen sich! bemerkte der Tannenbaum.
Sie freuen sich, mich so zu sehen.
Er wusste nicht was er davon halten sollte.
Wussten die Menschen überhaupt, was sie ihm antaten? Wussten sie denn nicht, dass er ein ebenso lebendiges Wesen war wie sie?
Den ganzen Abend verbrachten die Menschen in seiner Nähe. Sie schienen glücklich zu sein.
Das fand der kleine Baum furchtbar. Diese fröhliche Stimmung der Menschen um ihn herum, während es ihm so schlecht ging.
Wann werden sie mich von diesem Ort befreien?
Werde ich jemals meinen Wald wiedersehen?
Die Menschen sahen sein Leiden nicht. Entweder sie wussten nichts davon, oder es war ihnen egal.
Was es war vermochte der kleine Baum nicht zu sagen.
16. Fragen
Sein Hass auf die Menschen jedenfalls wuchs, genau wie der
Schmerz seiner Wunden.
Und gleichzeitig wurde seine Lebensflamme immer kleiner.
Jetzt hatte er doch Angst vor dem Tod.
Was ist das für ein Tod, der mich hier ereilen wird?
Fragte sich der Tannenbaum.
So einen Tod hatte er sich nicht gewünscht. So wollte er nicht sterben. Solche Schmerzen musste die Buche auch sicherlich nicht erleiden. Ihr Tod war schnell gewesen und wahrscheinlich war sie noch nicht einmal bei Bewusstsein gewesen. Und selbst die Fichte hatte ihre Wurzeln behalten können. Sie hatten beide einen natürlichen Tod in ihrer gewohnten Umgebung und Heimat gehabt.
Und er?
Musste er hier sterben?
An diesem schrecklichen Ort, unter Menschen und voller Qualen? Durch ihn würde es hier sicher keinen Neuanfang geben.
An diesem Ort gab es wirklich nichts, als das Ende.
Hier gab es nur den Tod.
Nichts würde durch ihn weiterleben. Sein Tod würde niemandem etwas nützen.
Wieder betrachtete er den toten Boden.
Werde ich genauso enden wie diese armen Bäume unter mir? Zerschnitten und ohne Hoffnung auf Befreiung bis in alle Ewigkeit? Dieser Gedanke erfüllte ihn mit Grauen.
Hoffnungslosigkeit machte sich in ihm breit.
17. Tannennadeln
Die Sonnenumläufe vergingen. Sein Schmerz wuchs und seine Lebensflamme schmolz. Schlaf fand er kaum. Aber er wurde immer öfter ohnmächtig. Die Ohnmacht war gnädig, denn er glitt durch wohlige Dunkelheit, ohne Schmerz zu empfinden. Wenn er aufwachte, wusste er nie, wie viel Zeit vergangen war. Sein Zeitgefühl hatte er längst verloren.
Zusätzlich bekam er keine Ruhe. Sobald das Sonnenlicht verschwand fingen die kleinen Lichter, die an ihm hängten, an zu leuchten. Es waren Lichter dieser hässlichen, hellen und kalten Sorte. Sie verwandelten seine Nächte zu Alpträumen.
Zum einen hatte er nach wie vor Angst vor dem Tod, aber zum anderen sehnte er sich geradezu danach, damit seine Qualen ein Ende fänden.
Wenn er bei Bewusstsein war, versuchte er sich abzulenken, indem er an bessere und schönere Zeiten, in seinem Wald, dachte. Jedes mal, wenn er spürte, dass er in Ohnmacht fiel, hoffte er, dass er nicht mehr aufwachen würde, zugleich hatte er aber auch Angst davor.
Die Menschen beachteten ihn nun kaum noch. Ab und zu kamen sie um ihm neues Wasser zu geben. Ansonsten war er Luft für sie.
Und dann kam das nächste Grauen.
Seine Äste begannen auszutrocknen. Er fühlte wie seine Kräfte schwanden. Dann bemerkte er, wie seine Nadeln fielen. Eine nach der anderen, rieselten sie zu Boden.
Panisch versuchte er seine Kräfte zu mobilisieren um es aufzuhalten, aber es half nichts. Die Nadeln fielen weiter.
Er kannte sie doch alle!
Er liebte jede einzelne von ihnen!
Und er verspürte bei jeder einzelnen einen schmerzhaften Stich, wenn sie ihn verließ.
Bitte verlasst mich nicht. Ihr seid doch alles was ich noch habe!
Er war verzweifelt. Er konnte überhaupt nichts tun. Er fiel von einem Unglück ins Nächste, ohne seinen Sturz im Mindesten bremsen zu können.
Die Nadeln fielen und fielen. Sie lagen rund um ihn herum. Es schien ihm, als wollten sie ihn aufmuntern, denn es sah aus als wüchse um ihn herum ein frischer grüner Grasteppich.
Es hingen noch immer viele Nadeln an ihm, aber sie waren lose, und die kleinste Erschütterung ließ sie herabrieseln.
Voll Liebe und Trauer betrachtete er seine gefallenen Nadeln um ihn herum. Die Vorstellung des grünen Grasteppichs tröstete ihn.
Doch dann kamen die Menschen und vernichteten auch seinen letzten Trost. Sie sammelten seine Nadeln auf und brachten sie fort.
Er wollte sie aufhalten, egal wie. Jedes Mittel war ihm recht.
Sie sollten ihm bloß, sein letztes bisschen Leben zurückbringen. Doch wie? Was sollte er tun? Es lag nicht in seiner Natur etwas tun zu können. Er konnte nur dastehen und zuschauen.
Sie nehmen mir alles. Dachte er.
Irgendwo hoffte er, dass er das Fallen seiner letzten Nadel nicht mehr miterleben würde.
18. Die kleine Lebensflamme
Wieder verstrich die Zeit.
Er dachte nun fast nur noch an seine friedliche Zeit von früher, als er noch Wurzeln gehabt hatte und er das kleine naive Bäumchen gewesen war, das an das Gute in der Welt geglaubt hatte.
Er beachtete das Geschehen um ihn herum nicht mehr. Er vergrub sich tief in seinem Innern, dem einzigen Ort, der ihm noch etwas Schutz bot.
Dort drinnen war sein Wald, seine Freunde und alle seine Erinnerungen.
Sein altes Leben schien unendlich weit zurück zu liegen, dabei konnte er noch gar nicht so lange hier sein.
Er vermisste seinen Wald und das gewohnte Leben um ihn herum. Er hätte nie gedacht, dass es solche Orte wie diesen überhaupt geben könnte.
Wie hatte es sich angefühlt, wenn der Wind durch seine Zweige strich? Er versank in der schönen Erinnerung. Er würde den Wind sicher nie wieder spüren können.
Bitte lieber Wind, komm doch zu mir. Lass mich nicht allein.
Ich will nicht sterben.
Nicht hier!
Nicht allein!
Doch seine Lebensflamme verblasste zusehends.
Er merkte wie sich Taubheit in ihm ausbreitete.
Nach und nach verließen ihn seine Kräfte. Dann spürte er seine Äste nicht mehr.
Es fühlte sich an, als ob von ihm nichts mehr da wäre. Die Taubheit vertrieb die Schmerzen. Er fühlte sich schwerelos und leicht.
Alles was er noch spürte war die schreckliche Angst vor dem unausweichlichen Ende, das war seine größte Pein. Diesen Schmerz konnte die Taubheit ihm nicht nehmen.
Er wurde immer schwächer.
Doch er war noch immer an diesem furchtbaren Ort.
Ich will hier weg! Alles, in dem kleinen Baum, schrie nach Freiheit und friedlicher Erlösung.
Wieder wurde ihm schwarz vor Augen.
Diesmal wache ich sicher nicht mehr auf!
19. Wind
Alles war verschwommen. Es viel ihm schwer sich zu konzentrieren.
Ich lebe noch! Bemerkte der kleine Baum. Aber er war nicht erleichtert darüber.
Irgendetwas war anders.
Die Luft schmeckte angenehm erfrischend.
Und er stand irgendwie schief.
Das grässliche Ding in dem er gestanden hatte war fort. Durch das Loch in seinem Stamm strich ein leises Lüftchen.
Er lehnte gegen eine harte kalte Mauer aus Stein. Auch unter ihm war kalter, harter, sich endlos erstreckender Stein.
Keine Pflanze könnte den durchbrechen.
Fast alle seine Nadeln waren fort. Er hatte sie wohl verloren, als man ihn hierher gebracht hatte.
Ich habe es nicht mal bemerkt!
Ich konnte mich nicht mal verabschieden!
Aber vielleicht war es auch besser, dass er von all dem nichts mitbekommen hatte.
Wo bin ich? Er konnte kaum einen klaren Gedanken fassen.
Er war so schwach. So müde.
Mühsam blickte er blickte auf…
Und erschrak!
Über ihm war blauer Himmel. Ein Blau von dem er so lange geträumt hatte. Der Himmel war durchzogen von feinen Wolkenschlieren, die ein geheimes Muster auf das Zyanblau malten.
Nie hatte er so viel Himmel gesehen. Er konnte spüren wie dieses Bild sich in ihm fest setzte und das Blau sich tief in seine Seele einnistete.
Er war draußen. Er war nicht länger an diesem schrecklichen Ort. Er nahm einen weiteren gierigen Atemzug, wohl wissend, dass es einer seiner letzten sein würde. Die Luft schmeckte wunderbar. Frisch, prickelnd und kühl. Aber vor allem schmeckte sie nach Freiheit.
Seine Sinne klärten sich in einem letzten Aufbegehren. Erneut sah er hinauf in das magische blau.
Und da war auch die Sonne und schien strahlend hell auf ihn herab. Er konnte ihre Wärme auf seinen Zweigen spüren und der Eisblock, den er in den letzten Wochen um sich errichtet hatte, schmolz unter ihren warmen, tastenden Strahlen.
Er war frei.
Nun war er bereit loszulassen.
Und dann kam der Wind:
Ganz sanft umarmte der Wind den kleinen Baum. Liebevoll strich er durch die kargen und geschundenen Äste und flüsterte ihm beruhigende Worte zu. Hätte der kleinen Baum weinen können, er hätte es getan. In diesem Moment trat alles in den Hintergrund: die furchtbaren Erlebnisse, sein Leiden, die Menschen, alles verschwand. Da waren nur noch er und der Wind und dieser gemeinsame endlose Augenblick des Zusammenseins.
Bitte nimm mich mit, bat der kleine Baum seinen Freund.
Alle Angst und alle Schmerzen fielen von ihm ab.
Und getragen von den Wogen flog die kleine Seele davon.
Einige Stunden später kam ein großer Lastwagen, der alle Weihnachtsbäume von den Straßen aufsammelte. Er lud den kleinen Baum auf und brachte ihn in die nächste Holzverarbeitungsfabrik...