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Der Tanne ganze Herrlichkeit
Es war einmal eine Tanne, die sich schon von klein auf für etwas Besonderes hielt. Sie hätte mehr Blätter als die gleichaltrigen Bäumchen um sie herum, behauptete sie einfach. Natürlich gab es Protest von allen Seiten, besonders von ihren Schwestern. Aber das nützte nichts. Nur als sie von der Mutter zur Ordnung gerufen wurde, gab sie klein bei. Doch nicht für lange, schon am nächsten Morgen war alles wieder wie zuvor. Allerdings hatte sie jetzt eine Begründung: Weil sie mehr Äste hätte, sagte sie, mußte sie notgedrungen auch mehr Blätter haben – ist doch logisch.
Dem konnte man nicht widersprechen: Sie hatte wirklich einen Ast mehr. Der war zwar kümmerlich und daher kaum der Rede wert, aber er war da und hatte auch Blätter. Tja, da schauten die anderen etwas betreten und sagten erstmal gar nichts, auf die Idee, alle Blätter durchzuzählen, kam niemand. Nur die Schwestern beschwerten sich wieder bei Mama, warum sie einen Ast weniger hätten. Die aber sagte, viele Äste und Blätter wären nicht alles, es kommt auch darauf an, ob eine Tanne hoch und gerade gewachsen ist und ob die Äste an ihr regelmäßig angeordnet sind – das sei Schönheit.
Das befriedigte die Schwestern, denn sie glaubten Mama aufs Wort. Sie war ja so alt und groß! Und schön! Ja, ihre Mutter war hoch und gerade gewachsen und hatte rundum Äste, mit vielen, vielen blaugrünen Blättern, die manchmal nachts, wenn der Mond schien, im Wind silbern glänzten. Und jetzt, da sie wußten vorauf es bei einer Tanne ankommt, wollten alle so werden wie ihre Mutter.
Jedes Bäumchen legte sich ins Zeug und versuchte so schnell wie möglich zu wachsen. Manches vergaß dabei genügend Äste zu bilden und wuchs nur in die Höhe. Das bekam ihnen nicht gut, einer der herbstlichen Stürme knickte sie gnadenlos um, ihre zerfetzten und nur noch als Stümpfe existierenden Stämme zeugten noch Jahre danach von Erlittenem.
Andere machten es gerade umgekehrt, bildeten viele schöne regelmäßige Äste und vergaßen fast das Wachsen in die Höhe. Auch die mußten ihren Leichtsinn teuer bezahlen: Als die Nächte länger wurden und der erste Schnee fiel, wurden sie von Spaziergängern abgesägt und mitgenommen.
Jedes Jahr wiederholte sich das, nur unsere Tanne, also die mit einem Ast mehr, sie widerstand den Stürmen, und sie nahm auch niemand mit. Obwohl sie sonst schöne, lange Äste trug, aber der eine Ast ganz unten, der störte wohl. Mehr als einmal stand schon ein Spaziergänger mit Axt oder Säge vor ihr, doch jedesmal wählte er ein anderes Bäumchen. Meistens mußte eine ihrer Schwestern daran glauben, auch viele der Cousinen, die nah an der Forststraße wohnten, wurden gerne mitgenommen.
So wuchs unsere Tanne unbehelligt und zufrieden lange Jahre. Sie wuchs schneller als andere, denn sie hatte ja von Anfang an mehr Blätter, die sie besser atmen und mehr Sonne genießen ließen. Aber der Umstand, daß es um sie herum bald kaum noch Bäume gab, die sich mit ihr messen konnten, trug dazu bei, daß sie ihren Anspruch, etwas Besonderes zu sein, nicht etwa ablegte, sondern sogar verstärkte.
Immer, wenn wieder eine Tanne vom Sturm umgelegt oder von einem Spaziergänger mitgenommen wurde, freute sie sich – eine Konkurrentin weniger. Selbst als ihre Mutter eines Winters unter der Schneelast zusammenbrach, fand sie daran nur das Positive: Sie hatte jetzt mehr Platz für sich.
Natürlich fanden die anderen das nicht in Ordnung, sprachen von Überheblichkeit. Aber das taten sie leider nicht offen, sie fürchteten sich zu sehr vor großer Tanne. Zu oft schon wurden vorlaute Tannen in dunklen und stürmischen Nächten von den Ästen der großen Tanne gepeinigt, nur wer klein beigab konnte darauf hoffen, in Ruhe gelassen zu werden.
Ja, sich ruhig verhalten und nicht auffallen, das wurde zur ersten Tannenpflicht, nur die etwas weiter stehenden und ebenfalls großen Bäume konnten es sich noch leisten, offen Kritik zu üben. Doch selbst die erreichte die Rache der großen Tanne, wenn auch mit Verzögerung: Sie wartete einfach auf einen günstigen Wind, dann öffnete sie ihre Zapfen und warf Samenschuppen in so großer Zahl ab, daß der Nachwuchs der Kritiker gar keine Chance mehr hatte, groß zu werden.
War es dann ein Wunder, daß es nur noch Jasager um sie herum gab? Weit und breit gab es bald keine andere Tanne, die ihr gefährlich werden könnte, es gab nur noch ihre eigenen Kinder oder nahen Verwandten - sie alle glichen sich, sowohl vom Aussehen als auch im Wesen.
Selbst die Spaziergänger, vor denen der ganze Tannenwald zitterte, merkten das nicht, irgendwann nahmen sie auch Bäumchen mit, die sie früher verschmähten – was blieb ihnen auch anderes übrig?