Der Tag der Entscheidung
Oh wow, dachte Tim, als er von der bereits hoch stehenden Sonne aufgeweckt wurde. Er blickte auf seinen Timemanager, der silber-glitzernd an seinem linken Handgelenk funkelte. Es war zwei Uhr mittags und als sei das nicht genug: es war zwei Uhr mittags und Dienstag. Was hatte er bloß seit Samstag getrieben? Tim blickte sich um und erkannte, dass er in einem Wald, angelehnt an einen Baum saß. Es war ein wunderschöner, sonniger Dienstag und Tim wurde wieder bewusst, dass dies sein letzter wunderschöner Dienstag sein würde. Nach und nach erinnerte er sich an die große Abschlussfeier seines Jahrgangs am vergangenen Samstag und, wie er und seine zwei besten Freunde Samuel und Philip, sich streng nach Tradition, Dexis spritzten, um so die Nächte ihres Lebens in vollen Zügen zu genießen. Man hatte ihm von klein auf gesagt, dass er sich nur an fünfzig Prozent der vergangenen Nächte erinnern würde und, dass sein Körper einen ganzen Tag lang Schlaf benötigen würde, um zwei Nächte auf Dexis zu verkraften. Doch er und seine Freunde hatten sich schon in der Unterstufe geschworen es trotzdem zu tun. Es war auch gar nicht so schlimm den ganzen Montag hier an dem, mehr oder weniger, bequemen Baum angelehnt, zu schlafen, dachte Tim. Er verstand die Leute aus seiner Stufe nicht, die versuchten die Tradition zu brechen und die Abschiedsfeier ohne Dexis-Spritzen zu überstehen. Konnte man denn wirklich Spaß haben, wenn man im Hinterkopf hatte, dass dies die letzten Nächte des unbeschwerten Jugendlebens seien würden? Haben diese Klassenkameraden sich wirklich amüsiert oder sind sie, wie es in den letzten Jahren häufiger in den Zeitungen stand, an dem Gedanken zerbrochen und ausgerastet? Tim fand das lächerlich. Nur weil es angeblich Einzelfälle gab, bei welchen die Schüler nie mehr aus dem „Dexis-Schlaf“ erwachten. Dass diese traditionelle Droge, auf welche jeder Einwohner am Tag der Abschlussfeier sein Recht hatte, der Grund für den Tod dieser Schüler sei, war ja nicht einmal nachgewiesen. Wie jeder weiß, kann Dexis nach einem Ruhetag des Körpers nicht mehr nachgewiesen werden. Tim schmunzelte. Zumindest habe ich es überlebt, überlegte er stolz. Etwas schadenfroh dachte er an die Spießergruppe aus seiner Stufe, die versucht hatten, so viele wie möglich zu überreden nicht Dexis zu nehmen. Diese Idioten hatten vielleicht drei oder vier überzeugt und die konnte Tim sowieso nicht leiden. All diese Trottel haben wahrscheinlich die schlimmsten Tage ihres gesamten Lebens durchgemacht, während wir den Tag zur Nacht machten. Tim kamen plötzlich einzelne Bilder von den vergangenen Tagen in den Kopf. Dabei grinste er ohne es zu merken, denn es waren Bilder von seinen Freunden auf verschiedenen Partys, die sie besucht hatten. Außerdem waren auch Bilder von Theresa dabei. Die ganze Oberstufe lang hatte Tim versucht sie einmal zu haben, doch sie wollte nichts mit dem männlichen Geschlecht zu tun haben. Es habe sowieso keinen Sinn sich auf eine Beziehung einzulassen, da man sich nach der Abschlussfeier nie mehr wieder sehen würde. Oh ja Theresa hatte viel gesagt, dachte Tim zufrieden, doch als Dexis aus ihr sprach, sah die Sache ganz anders aus. Tim sah Bilder vor sich, die ihn in diesem Moment zum glücklichsten Mann auf dem ganzen Planten machten. Dieser Moment vollster Zufriedenheit veranlasste ihn, sich zum ersten Mal zu bewegen und nachdenklich an seinem Kopf zu kratzen. Schade, dass das ganze Leben nicht so sein kann, wie diese zwei Tage, dachte Tim unwillkürlich, wobei er sich im nächsten Moment sicher war, dass das wahrscheinlich in diesem Moment jeder Junge dachte, der aus dem Dexis-Schlaf erwachte. Zwei Tage lang nur Partys und Frauen, was könnte es schöneres geben.
Tim war so sehr mit sich und dem Leben zufrieden, dass er beschloss aufzustehen und sich seinem Schicksal bzw. dem Schicksal aller Jungen seines Alters zu stellen. Heute würden sie zu Männern werden. Heute war der Tag, an dem ihm, Tim Glauris, seine Aufgabe innerhalb der Gesellschaft zugewiesen werden würde.
Er bückte sich und betätigte seinen Peilsender, der seit seiner Geburt am linken Fußknöchel befestigt war. Jetzt brauchte er nur noch zu warten bis sie ihn mit ihren verrosteten Beamtenluftschiffen abholen würden. Es dürfte nicht mehr als fünf Minuten dauern, dachte Tim und im selben Moment begann er zu hoffen, dass er dem Militär zugewiesen werden würde. Es war seinen Eltern nicht erlaubt ihm zu sagen, ob er das Glück haben werde in Zukunft in der Galaxie für seinen Vaterplaneten zu kämpfen oder, ob doch die grausige Alternative auf ihn wartete. Immerhin hatte man beim Militär eine Lebenserwartung von 25 Jahren, was für ihn noch mindestens wundervolle sechs Jahre bedeuten würde. Tim hatte immer versucht in der Schule zu glänzen, wenn es um Militärfragen ging, um so seine Chancen auf einen Posten zu erhöhen. Doch wie jeder andere wusste er, dass nur seine Gene bestimmen würden, ob er letztendlich diese Laufbahn einschlagen werde oder nicht. Er musste es einfach schaffen, denn zu groß war die Angst, die zweite Aufgabe innerhalb der Gesellschaft erfüllen zu müssen. Allein bei dem Gedanken daran, begann er am ganzen Körper zu zittern.
Da kam das Luftschiff auch schon. Es sah genau so aus, wie man es immer(weg) aus den Lehrfilmen über diesen besagten Tag kannte. Alt, etwas verrostet, aber trotzdem brachte es die Lebensentscheidung für alle jungen Männer mit sich. Er setzte sich in das Luftschiff und so kam er innerhalb von fünf Minuten zum „Zentralen Zukunftsamt für gesellschaftliches Zusammenleben“. Eine weitere Erklärung war nicht nötig, denn aus den Lehrfilmen war der Ablauf jedem jungen Mann bekannt. Er setzte sich auf einen sehr unbequemen Stuhl im Wartezimmer, wobei er dachte, dass diese Unbequemlichkeit des Stuhles, auch irgendwie die Unbequemlichkeit dieser Entscheidung symbolisiert. Neben ihm saßen noch zwei weitere Jungen, deren Gesichter sehr angespannt aussahen. Niemand im Raum redete. Es war als würden es eine Ewigkeit dauern, die Tim dort auf diesem verdammt ungemütlichen Stuhl saß, doch dann ging plötzlich die Tür auf und aus dem „Zimmer der Entscheidung“ kam Philip raus. Er lachte über das ganze Gesicht und schien kurz davor zu sein, einen Freudensprung zu machen. Als er Tim sah, rannte er auf ihn zu und beide umarmten sich. >>Herzlichen Glückwunsch, Philip<< gratulierte Tim ihm, während er seinem Freund die Hand schüttelte. >>Hast es also zum Militär geschafft!<<
>>Jep<<, brach es aus dem überglücklichen, zukünftigen Luftschifffahrer heraus. >>Ich werde erstmal meine Grundausbildung im Sonnensystem des Orlyph machen und dann mal sehen. Vielleicht überlebe ich die ja sogar und kann dann in den Krieg gegen die Sporoner ziehen.<<
>>Oh man ich bin so neidisch auf dich, Phil. Hoffentlich schaff ich’s auch.<<
>>Na klar, sieh dich mal an: du bist dafür gemacht Raumschiffe vom Himmel zu holen. Hey, ich warte hier auf dich. Vielleicht haben wir ja den gleichen Ausbildungsort.<<
>>Okay. Beistand kann ich auf jeden Fall brauchen. Aber mach dir bitte nicht zu viele Hoffnungen. Du übertreibst es doch immer gleich, wie wir am Sonntagabend mal wieder gesehen haben.<<
Tim musste lachen und auch Philip wusste, was gemeint war. Sie warfen einander wissende Blicke zu und setzten sich auf die Stühle.
Es dauerte noch circa eine halbe Stunde bis Tim dran kam, doch diese verflog wie von selbst, da sie die gesamte Zeit damit verbrachten über das am Wochenende Erlebte zu sprechen.
Dann ging die Tür erneut auf und Tim wurde aufgerufen. Philip drückte ihm die Hand und wünschte ihm viel Glück, als dieser bereits aufgestanden war, um sein Schicksal zu erfahren.
Nach fünfzehn Minuten trat Tim aus dem Büro und Philip sprang sofort auf, um ihm entgegenzulaufen.
>>Und was ist, wie ist es gelaufen?<<
Noch während er dies fragte, sah er an Tims Gesicht, das von tiefem Schmerz gezeichnet war, dass es alles andere als gut verlaufen war.
>>Das wird wohl nichts mit Grundausbildung im Orlyph<<, keuchte Tim, der so klang, als täte ihm das Sprechen weh. >>Ihr Name ist Eva Traute. Unsere Gene passen perfekt aufeinander, um … du weißt schon.<<
>>Es tut mir furchtbar Leid<<, tröstete Philip seinen Freund, >>doch irgendjemand muss sich auch um die Fortpflanzung unserer Rasse kümmern und wenn eure Gene möglichst gute Soldaten erzeugen werden, dann muss es eben so sein.<<
>>Ich weiß doch. Wir haben es ja eingetrichtert bekommen. Ich werde meine Aufgabe in der Gesellschaft erfüllen. Es ist nur… eine Frau das ganze Leben lang...und dann eine Lebenserwartung von 100 Jahren. Die Strafe könnte einfach nicht höher sein.<<