Der Tag danach
Hier saßen wir nun und warteten, während über uns dumpf die Einschläge von Bomben zu hören waren.
Es war schon Abend und ich war noch in Kassels Straßen unterwegs gewesen.
Eigentlich hätte ich schon längst zu Hause sein sollen, aber es war später geworden.
Ich war gerade auf dem Heimweg, als plötzlich der Luftalarm ertönte. Man hatte kaum Zeit genug um sich in Sicherheit zu bringen, als auch schon die ersten Bomben fielen.
Ich wusste dass ich es nicht nach Hause schaffen würde, also lief ich wie viele andere auch, zum nächsten Luftschutzkeller.
Gott sei Dank, wusste ich wo ich hin musste. Ein junges Mädchen, welches stürzte, wurde mehrfach, von in Panik vorbei rennenden Menschen, getreten. Ich rannte zu ihr und half ihr auf. Zusammen rannten wir weiter.
Als wir im Luftschutzkeller ankamen, erblickte ich viele Menschen, die sich dort schon versammelt hatten. Es waren hauptsächlich Frauen und Kinder. Was ja auch irgendwie klar war, denn die meisten Männer, so denne sie dazu fähig waren, waren an der Front.
Die Meisten saßen stumm auf dem staubigen Betonboden und kaum jemand sagte ein Wort.
Nur das Flüstern einiger Mütter, die versuchten ihre verängstigten Kinder zu beruhigen, waren zu hören.
Alle hofften, dass es bald vorbei sein würde.
Wenn wir nur damals gewusst hätten, was uns erwarten würde.
Ich weiß nicht, wie lange die Bomben auf unsere schöne Stadt geworfen wurden. Aber nach gefühlten Stunden wurde es immer stiller draußen.
Wir warteten auf die Entwarnung, aber die kam nicht.
Irgendwann wurde der Luftschutzkeller geöffnet.
Ich stand auf und ging nach draußen. Ich wollte meinen Augen nicht trauen. Es musste schon wieder Tag sein, aber die Welt war grau. Ich sah mich um und es war weg.
Weg – unser Städtchen, es war weg. Überall sah man nur Trümmer. Ich hatte das Gefühl kein Stein lag mehr auf dem anderen. Über der Stadt, oder das was einmal meine geliebte Stadt war, schwebte eine Staubglocke und ein intensiver Brandgeruch.
Wie sehr hatte ich gehofft, dass der Krieg bald vorbei sein und unsere Stadt verschont bleiben würde.
Ich wollte nur noch nach Hause. So schnell ich konnte, lief ich in die Richtung unseres Hauses. Ich hatte Angst, Angst vor dem was mich erwarten würde. Was war mit meiner Mutter, meinen beiden kleinen Geschwistern. Die Tränen machten mich fast blind und zogen, wie kleine Rinnsale, ihre Spuren durch mein dreckiges Gesicht, bevor sie auf mein Hemd tropften. Die staubige Luft nahm mir den Atem und ich musste immer wieder hustend stehen bleiben.
Wo war ich? Ich blieb wieder stehen, aber dieses Mal, um mich umzuschauen. Ich versuchte mich zu orientieren. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, es war schwer festzustellen, wo ich mich befand. Überall das gleiche Bild. Alles war grau und zerstört.
Aber halt, dort, dort das musste die Straße sein, in der unser kleines Haus stand.
Meine Eltern waren so stolz gewesen, als sie sich das schmucke Häuschen am Stadtrand leisten konnten.
Ich versuchte schneller zu werden und hoffte, dass kein neuer Fliegeralarm ausgelöst wurde. Aber warum sollten sie auch zurückkehren, es war ja schon alles zerstört.
Ich achtete nicht auf die Menschen am Straßenrand, die verletzt oder tot dort lagen. Es war mir egal. Ich wollte nur noch zu meiner Familie. Ich kletterte über einen Steinbrocken, der quer über der Straße lag und merkte kaum, wie ich mir die Hand an einem Metallteil aufriss, das dort herausragte.
Ich wollte gerade weiter rennen, als ich abrupt stehen blieb. Moment, müsste dort nicht unser Haus stehen. Ich sah mich um, versuchte mich neu zu orientieren.
Es war weg. Wie alle anderen Häuser auch. Aber wo war meine Familie. Wo waren meine Mutter und Elli und Werner. Ich stürmte auf die Trümmer zu, die einmal unser Haus darstellten. Mit bloßen Händen fing ich an die Steine wegzuräumen.
„Mutter, Elli, Werner….“ Immer wieder schrie ich ihre Namen, in der Hoffnung wenigstens einer der Drei würde antworten.
Hatten sie es geschafft? Konnten sie sich in Sicherheit bringen? Würde ich sie jemals wiedersehen? So viele Fragen und keine Antwort.
Ich wollte nicht aufgeben. Ich konnte nicht aufgeben. Mit bloßen Händen schaufelte ich verzweifelt weiter den Schutt beiseite.
Meine Tränen waren inzwischen versiegt. Ich hatte keine Zeit mir darüber Gedanken zu machen. Ich musste sie finden.
Meine Hände fingen an zu bluten, aber es war mir egal ob Dreck in meine Wunden gelangen würde. Solange ich nur meine Familie fand.
„Bitte, bitte lieber Gott lass sie mich finden!“, betete ich wie ein Mantra vor mir her.
Neben mir tauchte unsere Nachbarin mit ihrem Baby im Arm auf. Ich schrie sie an: „Wo sind Mutter und die beiden Kleinen?“ Sie zuckte nur teilnahmslos mit ihren Schultern. Fassungslos stand sie vor der Ruine, die einmal ihr zu Hause war.
Ich wandte mich wieder unserem Haus, beziehungsweise, dem was davon übrig war, zu.
Hier, ja hier irgendwo musste sie sein, die Luke zum Keller.
Aber so viele Steine, so viel Schutt. Ich geriet in Verzweiflung. Immer schneller versuchte ich die Trümmer beiseite zu räumen, aber immer wieder stürzten neue darauf.
Immer wieder fielen Steine auf mich, aber ich spürte schon keinen Schmerz mehr. Ich wollte nur in den Keller, wo ich hoffte die Anderen zu finden.
Dann sah ich etwas.
Es war eine Hand. Ich schrie auf. „Hilfe, bitte helft mir doch?“ Unsere Nachbarin kam zu mir.
Mit bebender Hand zeigte ich auf die Trümmer. „D-dort. I-ich g-g-glaube, M-mut-ter.“, stammelte ich zusammenhanglos.
Zusammen zogen wir einen Holzbalken von dem leblosen Körper herunter. Ich lies mich auf die Knie fallen. Und umarmte die Person, die staubbedeckt vor mir lag.
Mein Herz fing an zu rasen, ich schrie sie an. „Wach auf. Wach gefälligst auf. Du darfst nicht sterben.“ Dabei war die Seele, die diesen Körper vor mir erfüllte, bereits von uns gegangen. Ich wollte und konnte es nicht akzeptieren.
Dann fiel es mir wieder ein. Elli, Werner, wo waren sie?
Wieder schüttelte ich den leblosen Körper in meinen Armen. „Wo sind sie?“, schrie ich meine tote Mutter an. Schluchzend brach ich auf ihr zusammen. „Bitte, wo sind sie?“ fragte ich sie leise.
Unsere Nachbarin nahm mich in den Arm und versuchte mich etwas zu trösten.
Während ich mich wie ein Ertrinkender an sie klammerte, sah ich sie.
Die Kellerluke. Ich war wie erstarrt. Ich traute mich nicht sie zu öffnen.
Viel zu viel Angst hatte ich, dort niemanden vor zu finden.
Vorsichtig hob ich meine Mutter hoch und legte sie auf einem Stück, des jetzt grauen Rasens ab. Dann fing ich an, den restlichen Schutt von der Luke zu entfernen.
Endlich hatte ich es geschafft. Ich öffnete langsam die Luke, um in den Keller hineinzuspähen.
Mein Herz schlug wie wild. Jeder Atemzug schmerzte und ich hielt die Luft an, während ich nach unten schaute.
Langsam rückten zwei kleine Augenpaare in mein Blickfeld, die voller Angst nach oben blickten und ich konnte zwei wunderschöne Kinder erkennen, die sich aneinander klammerten.
Ich weinte! Ich weinte, wie ich noch nie im Leben geweint hatte.
Es war mir egal ob Jungen weinen dürfen oder nicht.
„Franzi?“, hörte ich die leise Stimme von Elli. „Oh Franzi!“, weinend streckte sie mir ihre Arme entgegen. Ich kletterte die Stiege hinunter und umarmte meine kleine Schwester, während sich Werner ebenfalls an mich klammerte.
„Wo ist Mami?“, fragte mich Werner. Elli sah mich an. Ich sah ihr in die Augen und schüttelte nur stumm den Kopf.
Elli legte ihren Kopf gegen meine Schulter und fing wieder an zu weinen.
„Kommt, wir müssen erst mal hier raus.“, sagte ich leise zu den Beiden.
Gemeinsam kletterten wir aus dem Keller nach oben.
Während ich Werners Kopf mit dem Gesicht leicht an meine Brust drückte, damit er den toten Körper unserer Mutter nicht sehen musste, schlug Elli die Hände vor ihr Gesicht und murmelte nur: „Oh mein Gott.“ Dann sah sie mich an. „Was sollen wir jetzt bloß machen?“
Mit diesem Gedanken hatte ich mich noch gar nicht befasst. Bisher wollte ich nur meine Familie finden.
Ich zuckte auf diese Frage mit den Schultern. Verzweiflung machte sich in mir breit. Was sollte nun aus uns werden? Wir mussten unsere Mutter beerdigen, unser Vater war an der Front verschollen. Ich fühlte mich hoffnungslos. Aber durfte ich das gerade jetzt zeigen? Ich war doch der Älteste. Elli und Werner brauchten mich. „Reiß dich zusammen:“, sagte ich mir.
Ich versuchte tief durch zu atmen. „Du darfst jetzt nicht schlapp machen.“, betete ich vor mich hin.
Ich bat Elli Werner zu halten und stieg nochmals in den Keller hinab.
Nach kurzem suchen fand ich sie. Eine Decke. Erst mal meine Mutter zudecken, damit Werner sie nicht sah.
Ich stieg wieder nach oben und breitete die Decke über dem toten Körper aus. Dann sah ich Elli an. „Wir gehen jetzt in Richtung Kirche. Irgendwo wird bestimmt ein Treffpunkt für die Überlebenden sein. Von dort aus sehen wir dann weiter.“ Elli nickte und ich nahm wieder unseren Kleinsten auf den Arm.
Gemeinsam gingen wir langsam in die Richtung, in der die Kirche stand und hofften, dass wir dort Hilfe finden würden.