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Der Tag an dem Lukas unsichtbar wurde
Der Tag, an dem Lukas unsichtbar wurde, war ein Dienstag und begann wie immer. Er saß mit seinen Eltern am Frühstückstisch, Papa las die Zeitung und Mama tippte etwas in ihren Laptop.
„Kann ich noch mal Milch für mein Müsli haben?“, fragte Lukas und bekam keine Antwort.
„Ob ich noch mal Milch haben kann?“ Nachdem wieder keiner reagierte, schenkte er sich selbst aus der großen Flasche nach und kleckerte eine große Pfütze neben seine Schüssel. Gefasst auf ein Donnerwetter duckte er sich ein bisschen unter den Tisch, aber es passierte nichts. Auch als die Rosinen in der Pfütze baden gingen und das Müsli seinen Kakao probierte, kam kein Kommentar.
„Ich muss los“, sagt Papa auf dem Weg zur Tür.
„Was, schon so spät?“, murmelte Mama und ging in den Flur. Aber statt des üblichen „Lukas mach schnell“ hörte er nur die Tür ins Schloss fallen.
Er wartete. Draußen öffnete sich quietschend das Garagentor und Mama brauste davon – ohne Lukas. Sie hatte ihn einfach vergessen.
Lukas kletterte vom Stuhl und schnappte sich seinen Schulranzen, heute ohne Pausenbrot. Den Weg in die Schule schaffte er auch alleine. Einmal übersah ihn fast ein Radfahrer. Lukas war froh, als an der Ecke der kleine Kiosk auftauchte, und ging hinein. Das Bimmeln der Ladentüre ließ die alte Dame hinter dem Tresen kurz aufblicken, sie vertiefte sich aber sofort wieder in ihre Zeitschrift.
„Ich hätte gerne eine weiße Maus“, sagte Lukas. Die Dame rührte sich nicht.
„Oder vielleicht auch zwei?“, ergänzte Lukas. Er schnaufte einmal laut, dann nahm er sich die beiden Mäuse selbst aus dem großen Glas. Er kramte zehn Cent aus seiner Hosentasche und ging.
Lukas rannte den Rest des Weges zur Schule, er war schon spät dran. Drei der älteren Schüler lungerten vor dem Tor herum. Sie zogen Grimassen, lange Kaugummischnüre und machten Fotos. Lukas kam nicht vorbei.
„Darf ich mal durch, meine Stunde fängt gleich an“, sagte Lukas, aber der Weg blieb versperrt.
„Hallo? Ich muss in meine Klasse“, wiederholte Lukas.
Einer der Jungs blickte auf: „Hört ihr was? “
„Nö, nichts. Ah warte, doch da war was. Ich glaub, ich hab eine Ameise rülpsen hören“. Alle außer Lukas lachten. Der war verzweifelt.
Da öffnete der Direktor ein Fenster und Pfiff einmal laut in seine Trillerpfeife.
„Sofort in eure Klassen ihr Trödler, der Unterricht beginnt!“
Unter Gemurmel und Gebrummel machten sich die Jungen auf den Weg. Lukas trottete hinterher.
In Biologie nahmen sie heute ausgerechnet die Ameisen durch. „Wer weiß, wie die Ameisen wohnen?“, fragte Frau Klee. Lukas meldete sich.
„Na kommt schon, das ist doch ganz einfach“, bohrte die Lehrerin nach. Lukas schnippte mit den Fingern.
„Weiß es wirklich keiner?“, die Lehrerin sah an Lukas vorbei.
„Na, das wird wohl an der Hitze liegen. Also, die Ameisen bauen Hügelnester, auch als Ameisenhügel bekannt. Die bestehen aus …“
Aber Lukas hörte schon nicht mehr zu. Enttäuscht legte er den Kopf auf die Schulbank. Was war los? Wieso bemerkte ihn niemand mehr? War er unsichtbar geworden?
Nach der Schule machte er sich traurig auf den Heimweg. Er hüpfte lustlos von Pflasterstein zu Pflasterstein, und als ihm das zu langweilig wurde, lief er auf den Fahrradweg.
Was sollte einem Unsichtbaren schon passieren? Das erste Fahrrad sauste an ihm vorbei. Dann brauste ein Junge auf seinem Roller bergab auf ihn zu.
„Aus der Bahn“, schrie der, „ich kann nicht bremsen!“
Lukas rührte sich nichts.
„Weg da du Knallkopf, ich kann nicht breeeemseeeen!“
„Macht nichts“, sagte Lukas und blieb weiter stehen, „ich bin ja eigentlich gar nicht da.“
Der Junge schrie, versuchte auszuweichen und blieb dabei mit seinem Lenker an Lukas Schulranzen hängen. Der Roller schleuderte zur Seite und der Junge fiel kopfüber auf den Grünstreifen. Lukas landete oben drauf. Das Letzte, was er sah, waren die goldenen Sterne auf dem Fahrradhelm des kleinen Jungen. Dann wurde alles schwarz.
„Lukas träumst du? Ich habe gefragt, ob du noch mal Milch haben willst.“ Lukas machte die Augen auf, seine Mutter hielt die Milchflasche in der Hand, sein Vater schmierte ein Marmeladenbrot.
„Magst du auch noch ein Stück haben?“, Lukas Vater schnitt das Marmeladenbrot in Streifen. „Ich kann dich heute zur Schule bringen, ich muss erst später ins Büro.“
„Oder du fährst mit mir“, sagte Lukas Mutter, „liegt ja sowieso auf meinem Weg.“
„Ich geh zu Fuß“, sagte Lukas und schnappte sich seinen Schulranzen. Draußen auf dem Gehweg atmete er erst mal tief durch. Dann ging er langsam zur Ecke. Vor dem Kiosk lehnte ein Roller mit verbogenem Lenker.
„Hallo Lukas, ich habe dir schon deine weißen Mäuse hergerichtet“, sagte die alte Dame, als Lukas den Kiosk betrat. „Und wie ist die neue Schule? Hast du nette Klassenkameraden?“
„Weiß nicht, ich kenn noch niemanden“, antwortete Lukas und drehte sich schnell zur Tür.
„Hey Knallkopf“, sagte eine Stimme, „warte mal.“ Ein kleiner Junge mit einem Comic in der Hand kam hinter der Theke hervor.
„Das ist Kasimir, mein Enkel, er geht auf die gleiche Schule wie du“, sagte die alte Dame.
„Komm Knallkopf, wir fahren gemeinsam“, sagte Kasimir und setzte sich seinen Helm auf. Es waren goldene Sterne drauf.
„Ich bin kein Knallkopf und meinen Roller habe ich nicht dabei“, antwortete Lukas.
„Gut, dann schiebe ich halt, aber morgen bringst du deinen Roller mit. O.K.?“
„O.K.“
Gemeinsam gingen sie die Straße hinunter. Die Luft roch nach weißen Mäusen und Zitronenlimonade und Frau Klee winkte aus dem Fenster des Lehrerzimmers, als Lukas mit Kasimir den Schulhof betrat.