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Der Tag, an dem ich meinen Freund nach der Gameshow fragen wollte
Wissen Sie wie das ist, wenn man sich beobachtet fühlt? Ich bin mir sicher, das tun Sie. Eine Gänsehaut schleicht Ihnen die Wirbelsäule hoch und Sie sehen sich unsicher um, weil Sie das Gefühl nicht loswerden, dass Blicke auf Ihnen ruhen. Üblicherweise passiert einem das in der U-Bahn oder auf der Straße. Man ist Blickfang für jemanden, den man nicht lokalisieren kann. Eigentlich kann es einem auch egal sein. Es ist ein lästiges kleines Gefühl, dass oft so schnell verschwindet, wie es aufgetaucht ist.
Eines Tages wurde ich von meinem Radiowecker unsanft aus dem Schlaf gerissen und das erste, was ich fühlte war genau das. Ich richtete mich schnell in meinem Bett auf und sah mich um. Irgend etwas stimmte nicht. Ich hatte nicht das Gefühl als würden mich ein oder zwei Augenpaare anstarren, ich fühlte mich, als würden alle Augen der Menschheit momentan auf mich gerichtet sein. Wie gesagt, das Gefühl wurde irgendwann schwächer, aber ganz abschalten konnte ich es nicht.
Ich ging unter die Dusche und wusch mir den Schweiß der vergangenen Nacht runter. Es war erbärmlich heiß und ich spürte bereits, dass ich in Kürze Kopfschmerzen bekommen würde. Es begann bereits leicht hinter meiner Stirn zu pochen, so als müsste der Schmerz erst mal vorsichtig einen Kundschafter vorausschicken, nur um sicher zu sein, dass er einreisen darf. Ich beschloss, es gar nicht erst soweit kommen zu lassen und schmiss zwei starke Schmerzpulver ein, die sich hoffentlich darum kümmern würden.
Ein Blick in den Kühlschrank verriet mir, dass ich versuchen konnte mir aus einer Flasche Tabasco, einem halb vermoderten Chinakohl und Essiggurken ein Frühstück zu zaubern, ich widerstand aber der Versuchung und beschloss stattdessen, im Cafe an der Ecke zu frühstücken. Als ich die Wohnung verließ und die Stufen im Treppenhaus hinabstieg, überfiel mich wieder die Gewissheit, dass ich beobachtet wurde, nahezu genauso stark wie beim Aufwachen. Ich drückte mich gegen die Wand und sah mich um. Da war niemand. Kein Mensch. Ich begann zu schwitzen, ein Geschmack nach Orangen verbreitete sich unerklärlicherweise in meinem Mund und ließ mich verdutzt ausspucken. Tatsächlich, meine Spucke war orange. Ich bekam weiche Knie und setzte mich kurz auf die Stiegen. Was zum Teufel war mit mir los? Ich fühlte meinen Puls in meinen Wangen. Die Kopfschmerzen lieferten sich einen heftigen Kampf mit den Schmerzmitteln, aber so wie es aussah, leisteten diese eine verdammt gute Arbeit. Ich erhob mich langsam und stieg die Treppen hinunter. Beim Haustor angekommen, spuckte ich erneut aus. Verdammt, mein Zunge fühlte sich an, als hätte ich an einer geschälten Orange gelutscht. Mein Mund zog sich zusammen und der Speichel sprudelte, dass es eine wahre Freude war. Kopfschüttelnd öffnete ich die Tür und trat nach draußen.
Die Hitze traf mich wie ein Keulenschlag. Ich hatte zwar angenommen, dass es heiß werden würde, aber das war ja wohl nicht zu glauben. Kleine Bäche von Schweiß liefen an mir hinab und wurden von meinem Hosenbund aufgesogen, der sich rasch dunkelblau verfärbte. Seltsamerweise schien sonst niemand unter der Hitze zu leiden. Passanten, die an mir vorbeigingen sahen alle so frisch aus wie der Morgentau. Einer von den Typen hatte sogar einen Pullover an!
Ich begab mich also schwitzend und spuckend ins Cafe, wo ich mich nach innen verzog. Bei diesen Temperaturen vor dem Cafe in der Sonne zu sitzen schien mir genauso eine gute Idee zu sein, wie sich den Sack mit einem rasiermesserscharfen Skalpell zu rasieren. Der Kellner trabte an und nahm meine Bestellung auf, Rührei und Toast. Ich war gerade im Begriff Orangensaft zu bestellen, als mir meine eigenen natürlichen Ressourcen einfielen und ich verzog angewidert den Kopf, als ich es plötzlich wieder schmeckte. Ich bestellte einen Kaffee und spuckte heimlich unter den Tisch, als der Kellner abgezogen war. Nicht wirklich die feine englische, ich weiß, aber ich konnte einfach nicht anders.
Während ich auf mein Frühstück wartete, blätterte ich in der Morgenzeitung. Nichts als Geschwafel. Als ich eine weitere Seite umblätterte, bemerkte ich ein Foto, auf dem einer meiner besten Freunde abgebildet war. Ich wurde stutzig. Was machte der denn in der Zeitung? Ich sah das Foto genauer an. Er hatte offensichtlich an einer Gameshow teilgenommen und eine Menge Geld gewonnen. Das Foto zeigte ihn, wie er mit Geldscheinen wedelnd einer der Gameshow Assistentinnen in den Arsch kniff und grinste wie ein frisch lackiertes Schaukelpferd. Wieso wußte ich nichts davon? Ich fragte mich, wie ich dieses Ereignis hatte verpassen können. Schließlich telefonierten wir regelmäßig. So etwas wie die Teilnahme an einer Gameshow hätte er mir nie verheimlicht. Ich beschloss, ihn am Nachmittag zu besuchen und nachzufragen. Als ich im Begriff war, den Artikel zu lesen, brachte mir der Kellner mein Frühstück. Wir plauderten ein wenig über dies und das, er wünschte mir einen guten Appetit und verzog sich wieder. Ich war mir zuerst nicht sicher, aber ich hatte das Gefühl, dass je länger er sprach, die Worte aus seinem Mund unverständlicher wurden. Sein „Guten Appetit!“ hörte sich zum Schluss nur mehr an wie „Gudd Awwitt!“. Zu allem Überfluss begann ich wieder Orangen zu schmecken. Ich stand schnell auf und ging aufs Klo. Dort angekommen, wusch ich mir das Gesicht mit eiskaltem Wasser ab und starrte in den Spiegel. Ich muss da relativ lange hineingesehen haben. Mich würde interessieren, wie lange man durchschnittlich in einen Spiegel sieht wenn man feststellt, dass das eigene Spiegelbild nicht unbedingt dem ähnlich sieht, das man in Erinnerung hat.
Nicht, daß wir uns falsch verstehen, das war immer noch ich. Aber ich hatte plötzlich blondes kurzes Haar, blau-graue Augen und eine große Narbe auf der Stirn. Mir wurde schlecht. Ich sprintete in das nächstbeste Klo, hob den Deckel hoch und würgte einige Male. Ein paar orange Speicheltropfen flitzten von meinen Lippen und tropften mit einen leisen „Plip“ in die Kloschüssel. Ich konnte nichts erbrechen, schließlich hatte ich ja auch nichts gegessen. Was ging hier vor? Was passierte mit mir? Ich fühlte mich hundsmiserabel und setzte mich, nachdem ich den Deckel heruntergeklappt hatte, auf die Kloschüssel. Irgendetwas stimmte auf eine beunruhigende Art und Weise nicht, ich kam jedoch nicht drauf, was. Der Kellner hat sich mit mir unterhalten, wir hatten über alltägliche Sachen geplaudert, so wie wir das immer taten. Offensichtlich sah ich für ihn aus wie immer. Was war mit meinen schwarzen Haaren passiert? Und wieso hatte ich keine braunen Augen mehr? Was sollte der Scheiß mit den Orangen? Und wieso hatte ich sogar auf dem Klo das Gefühl, als würde mir jemand zusehen? Ich war einer Panik nahe, also tat ich das, von dem ich dachte, dass es helfen würde: Ich schloss die Augen und atmete tief durch. Keine so angenehme Sache, wenn man auf einem Klo sitzt, wo der Vorgänger offensichtlich an einer akuten Verdauungsstörung gelitten hat. Mir fiel auf, dass es erbärmlich roch. Dennoch hatte ich den Kopf wieder halbwegs klar bekommen, konnte aufstehen und das Klo verlassen. Als ich den Spiegel passierte, war ich ihm einen kurzen Blick von der Seite zu. Kein Zweifel, blond und blauäugig.
Im Cafe setzte ich mich an meinen Tisch und atmete erneut tief durch. Der Kellner kam mit einem besorgten Gesichtsausdruck zu mir her.
„Alleff in Onnunk?“ Er beugte sich zu mir herunter.
Ich blickte ihn verständnislos an. „Hm?“
„Ifft pe inn alleff in Onnunk? Ffi ffenn enn wennkk blaff uff.“
Ich hatte keine Ahnung, wovon zum Teufel er sprach, nahm aber an, dass er mich nach meinem gesundheitlichen Zustand fragte. Ich hätte ihm gerne gesagt, dass ich das Gefühl hatte, als wäre heute morgen ein komplett anderer Mensch in meinem Bett aufgewacht, der offensichtlich irgendwelche psychischen Schäden hatte. Stattdessen lächelte ich matt und sagte ihm, dass alles in Ordnung sei.
„Fihhha?“ fragte er. „Sicher.“ Sagte ich und begann in meinen Rühreiern zu stochern. Der Kellner verzog sich wieder, warf mir jedoch vom anderen Ende des Cafes verstohlene Blicke zu. Er hatte wohl Angst, ich würde ihm hier zusammenklappen und er müsste dann die Rettung rufen. Jede Menge Stress, schlecht für’s Geschäft.
Ich würgte die Eier mit dem Toast runter, irgendetwas musste ich essen. Der Kaffee half mir wieder einigermaßen auf die Beine. Das leichte Pochen hinter meiner Stirn verschwand und ich schmeckte auch keine Orangen mehr. Ein guter Zeitpunkt um herauszufinden, was hier los war. Ich überlegte. Gestern Abend war ich im Kino gewesen. Ich hatte mir den neuen Bruce Willis Streifen angesehen. Nichts besonderes, das übliche eben. Danach hatte ich mir noch eine japanische Nudelsuppe im Restaurant ein paar Straßen weiter genehmigt und danach war ich nach Hause gegangen. Ich hatte weder Alkohol getrunken, noch irgendwelche Drogen eingeworfen. Gestern hatte ich noch ein wenig südländisch ausgesehen und in der Früh plötzlich wie ein kalifornischer Sunny-Boy. Woher kam die Narbe? Ich hatte mich niemals derartig auf der Stirn verletzt. Wie konnte das alles sein? Mir wurde langsam schwindlig von der ganzen Situation. Toll! Ich hatte keine Kopfschmerzen mehr, dafür fühlte ich mich, als wäre ich zwanzig mal mit der Achterbahn gefahren.
Ich winkte den Kellner zu mir und bezahlte mein Frühstück. Er machte noch irgendwie „Muff muff, gnarr, gnää hoffntkkk“ oder so, ich nickte ihm zu und verließ das Cafe. Zeit herauszufinden, was für einen Defekt meine Birne davongetragen hatte. Ich kramte mein Handy aus meiner Hosentasche und durchsuchte das Telefonbuch nach dem Namen meines Freundes, der in der Gameshow gewonnen hatte. Aus irgendeinem, mir unerfindlichen Grund hatte ich das Gefühl, als könnte er mir sagen, was hier vor sich ging, auch wenn er offensichtlich nichts mit der ganzen Sache zu tun haben konnte. Ich blätterte einige Namen durch, ehe mir auffiel, daß ich keinen einzigen kannte. Da waren Marios, Claudias, Tims, Toms, Dantes, Silvias, Marions und lustigerweise kannte ich keinen einzigen Menschen, der so hieß. Ich steckte das Handy weg, atmete tief durch und sah mich um. Alles schien normal, Leute gingen durch die Straßen und unterhielten sich, die Sonne schien (ich fing auch wieder an zu schwitzen wie ein Schwein vor der Schlachtbank), Autos brausten vorbei. Nichts außergewöhnliches. Und doch fühlte ich in diesem Moment, daß ein sehr wichtiges Ereignis bevorstand. Irgend etwas würde in einigen Minuten passieren. Das war so sicher, wie das Amen im Gebet. Und ich fühlte, daß es hauptsächlich mich betraf.
Ich stand also vor dem Cafe auf dem Gehsteig und wartete, daß etwas geschah. Ein Typ mit Rastalocken und Bart kam auf mich zu und laberte mich an. Ich konnte kaum verstehen, was er sagte. „Eff gibb kommplikaffionen. Eww wahht ni mehh uff.“ Ich muß ihn angesehen haben, als hätte ich komplett den Verstand verloren, er wich ein wenig vor mir zurück. Ich hob die Hand und ballte sie zur Faust. Ehe ich sie in sein Gesicht donnern konnte, passierte es. Ich weiß bis zum heutigen Tag nicht, was geschehen ist, aber ich konnte ihm nicht ins Gesicht schlagen. Ich erstarrte, ein kreischendes Geräusch, wie von tausend Kreissägen, die durch Metall schneiden, betäubte mich, ich mußte mir meine Ohren zuhalten um nicht verrückt zu werden. Blitze huschten vor meinen Augen vorbei und tauchten die Umgebung in farbiges Licht. Ein furchtbarer Schmerz schoß mir in den Kopf, ich hatte das Gefühl, als würde mir jemand den Kopf abreißen. Ich sackte zusammen und blieb schreiend und zitternd am Boden liegen.
Klingt schon seltsam, das alles, oder? Würde mir jemand so was erzählen, würde ich ihn für verrückt halten, keine Frage. Ich habe offensichtlich den Verstand verloren. Seit diesem Augenblick liege ich hier auf dem Gehsteig vor dem Cafe und kann mich nicht bewegen. Ehrlich, seit dieser Geschichte ist eine Menge Zeit vergangen und ich liege noch immer regungslos da. Ich kann nicht aufstehen, nicht sprechen und ich sehe nichts, weil ich die Augen geschlossen hatte, als es passierte. Ich kann mir immer noch keinen Reim darauf machen. Wissen sie, was lustig ist? Ich habe keinen Hunger, keinen Durst und muß nicht aufs Klo oder so. Es scheint, als wurden alle meine Bedürfnisse abgestellt. Ich liege hier einfach vor dem Cafe und warte, daß etwas passiert. Einige Geräusche dringen jedoch noch an mein Ohr. Manchmal höre ich den Wind rauschen. Ich höre, wie eine Tür quietscht oder das Klappern von irgendwelchen Gegenständen. Ich habe mich einfach mit der Situation abgefunden. Ich weiß nicht, wo ich mich befinde und warum das alles hier nicht aufhört. Es ist mir eigentlich auch egal.
Mittlerweile befinde ich mich ja auch schon sehr lange an diesem Ort. Dummerweise kann ich meine Gedanken nur für knappe zehn Minuten sammeln, danach schalte ich für einen unbestimmten Zeitraum ab. Ich bin mir sicher, daß das so ist, ich weiß nur nicht warum. Ich verliere einfach den Faden, obwohl ich versuche, mich zu konzentrieren. Ich drifte einfach weg. Ich.. aber ich konnte erzählen, was passiert ist. Und ich liege hier. Ich spüre es. Es kommt wieder…wieder.
Ich bin…
ich bin auf etwas…
was… so weit…
auf ein neues, unbekanntes…
un…
nun…
weg...