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Der Tänzer

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19.08.2002
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Der Tänzer

Als er tanzte, schien die Welt um ihn herum, wenn sie denn noch existierte, förmlich stillzustehen. Vergessen waren alle die Ereignisse, die vorgefallen waren, vergessen auch die eigentlich abstossende Atmosphäre, in der er sich zu diesem Schauspiel hinreissen liess. Der Raum war völlig leer und kalt. Selbst die weissen Wände vermittelten nicht ein Gefühl des Lichtes, sondern wirkten vielmehr als Gefahr, sich bei der kleinsten vielleicht falschen Bewegung zu verdunkeln, ihn aus dem Raum zu reissen, zu verbannen.
Dennoch tanzte er. Und wie er tanzte! Anfangs ängstlich und verhalten, ihm erschien die Umgebung sehr unsicher und er war sich wohl eher der möglichen negativen Folgen seines Tanzens als der eigenen Lust und Kraft, die darin steckten, bewusst. Der erste Schritt hatte ihn noch grosse Überwindung gekostet, der Boden – glatt und wie die Wände in gefährlich strahlendem Weiss - schien förmlich zum Sturze zu verleiten. Mit jedem Schritt nahm diese Angst ab, einige Male hielt er aber inne, machte sich Vorwürfe, einen unpassenden Schritt gemacht zu haben, war sogar dem Aufgeben nahe. Er ging dann jeweils ein paar Schritte zurück und nach kurzem Überdenken fiel ihm eine passende Fortsetzung ein. In solchen Momenten spürte er ein leichtes Gefühl tiefer Zufriedenheit in sich aufsteigen und mit jeder gelungenen Kombination von Schritten und Sprüngen wuchs diese Zufriedenheit an.
Mit zunehmender Dauer des Vorgangs ergab sich ein immer flüssigerer Tanz, die Unterbrüche wurden seltener und die weisse Umgebung wirkte überhaupt nicht mehr so bedrohlich wie zu Beginn. Sie strahlte ihm nun in einladendem Lichte entgegen. Er wagte es zuweilen sogar noch nie versuchte Elemente, die er irgendwann in seinem Leben bei andern, erfahrenen Tänzern beobachtet hatte, in seinen Ablauf einzubauen. Irgendwann kam der Zeitpunkt, an dem er nicht mehr sagen konnte, ob es sich nun noch um die Stileigenheit eines andern Tänzers, die er sich zu versuchen gewagt hatte, handelte oder ob er durch seinen schon geraume Zeit andauernden, immer einheitlicher und schneller werdenden Tanz diese so stark abgeändert und in seinem Sinne verfeinert hatte, dass sie als sein eigener Stil hätten bezeichnet werden können. Die einzelnen Sprünge, Schritte und Kombinationen fügten sich kontinuierlich zu einem umfassenden Ganzen zusammen. Aufkommende Müdigkeit verspürte er nicht, obschon er nun seit einigen Stunden immer intensiver herumwirbelte. Vielleicht wollte er sie auch bloss nicht bemerken, denn zu wohlig hatte sich das Zufriedenheitsgefühl in ihm verbreitet, zu vertieft war er in die Ausgestaltung des anfänglich leeren Raumes. Mit seiner Leidenschaft gab er nämlich dem eintönigen Weiss langsam verschiedene Farben, was den Raum zur Projektionsfläche für seinen Tanz und die darin verwurzelten Gefühle machte.
Es gab einen bestimmten Augenblick, an dem ihm bewusst wurde, dass es nicht mehr sein eigener Tanz war, den er vollführte. Er fühlte sich von einer starken, unwiderstehlichen Kraft geleitet, die ihn zu noch höheren Sprüngen, noch schwierigeren Elementen und noch schnelleren Kombinationen trieb. Er konnte nicht mehr sagen, ob es überhaupt jemals sein eigenes Werk gewesen war, so stark war besagte Kraft. Sie drohte ihn nun sogar zu überfordern, er war dem Aufgeben nahe. Doch kurz vor der totalen Ermattung war plötzlich der Höhepunkt erreicht, die Leidenschaft schien nicht mehr steigerbar und die Kraft verschwand danach fast augenblicklich. Langsam sank der Tänzer zusammen.
Ich legte IHN beiseite und las den soeben geschriebenen Text noch einmal durch, legte mich danach hin und schlief zufrieden ein.

 

Hallo Ventur,

diese Schilderung des Tänzers finde ich sehr ansprechend. Die Gedanken, Zweifel, Freude, das Selbsteinschätzen, die Relation des Eigenen zum Allgemeinen - ich denke der Tänzer ist das Symbol für einen kreativen Prozeß schlechthin. Schön, daß man dies auf einen einzelnen Vorgang, aber auch auf einen kreativen Lebenslauf beziehen kann.
Ein kleiner Änderungsvorschlag: „in seinen Ablauf“ – Bewegungsablauf, oder seine Bewegungen fände ich besser, als ich bei „Ablauf“ an ein Waschbecken denken mußte, war die Magie vorbei...

Tschüß... Woltochinon

 

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