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Der Sumpf
Der Sumpf
Sam sah auf seine Uhr. Seit einer Stunde war es dunkel, seit einer halben warteten wir im Wohnzimmer. Ich holte mir ein Bier.
„Auch eins? Entspannt dich vielleicht“, sagte ich. Er wippte in seinem Schaukelstuhl, ein wenig zu schnell, um ruhig zu wirken. Schaumtropfen spritzten aus der Dose, als ich die Lasche nach oben zog. „Mann, Sammy, sie ist ein junges Mädchen. Die kann tausend Gründe haben noch nicht zuhause zu sein, war bei uns doch nicht anders.“
„Wir waren aber keine sechzehnjährigen Mädchen“, sagte er.
„Aber wir hatten sechzehnjährige Mädchen dabei. Und denen ist auch nie was passiert, außer ein gerissenes Jungfernhäutchen.“
Sein Blick verfinsterte sich.
„Meine Fresse, das ist doch ganz normal. Oder, was sagst du, Rollo?“ Ich stupste den Neufundländer aus seinem Schlaf, er brummte müde. „Schau, Rollo denkt das auch.“
Sam sprang aus seinem Stuhl auf und eilte zum Schreibtisch. „Was machst du da?“
„Wir gehen sie suchen, sie ist seit drei Stunden weg“, sagte er und öffnete eine der Schubladen.
„Und bitte was brauchst du dazu aus deinem Schreibtisch?“
Er kramte kurz, nahm dann eine längliche Holzschatulle heraus und stellte sie auf den Wohnzimmertisch zwischen uns. Er löste zwei Schnapper. Die Box sprang auf.
„Scheiße, woher hast du die?“ Zwei Revolver lagen in der Box, eingebettet in schwarzen Samt.
„Und was willst du damit machen?“
Er ignorierte meine Furcht, kontrollierte die Trommeln und drückte mir einen davon in die Hand. „Sind geladen. Erst spannen, dann schießen.“
Mit drei Fingern hielt ich die Waffe am Knauf und achtete darauf, sie in niemandes Richtung zu halten. „Auf was denn schießen?“
Sam zuckte mit den Schultern. „Wir gehen in den Wald. Da hab‘ ich sie heut zum Reisig sammeln hingeschickt.“ Er schritt zur Garderobe, zog sich seine Jacke über und steckte den Revolver in die Innentasche. Dann warf er mir meine Jacke zu.
„Und auf was willst du da schießen? Tollwütige Eichhörnchen? Das gefährlichste dort sind die Waschbären oder Dachse, aber dafür braucht man keine Waffe!“
„Und wenn sie in der Nähe der Sümpfe ist?“
Entrüstet ließ ich meine Arme sinken. „Du glaubst doch nicht etwa an diese Kindermärchen?“
„Sind keine Märchen“, sagte er.
„Und das glaubst du wieso? Weil irgendein Alkoholiker aus dem Dorf von Monstern im Wald spricht?“
„Nein. Weil sein Kumpel im Sumpf ertrunken ist.“
„Ja, hat eben nicht aufgepasst, kommt vor. Vielleicht wurde er auch geschubst, keine Ahnung.“
„Sein Kumpel war nüchtern und ein guter Schwimmer.“
„Es sind schon viele nüchterne, gute Schwimmer ertrunken!“
Sam hörte mir kaum zu. Er öffnete die Tür und klopfte zweimal auf seinen Oberschenkel, was das Zeichen für Rollo war, dass es raus ging. Der Hund sprang auf und rannte nach draußen.
Anscheinend hatte ich keine Wahl, also zog ich meine Jacke an, verstaute den Revolver sorgsam in der Tasche und folgte meinem Freund.
„Und wenn sie jetzt doch bei irgendeinem Typen ist?“ Ich sprach leiser.
„Ich hab‘ doch schon vor einer Stunde bei allen nachgefragt. Wo soll sie denn großartig hin, in einem Dorf mit einhundertvierunddreißig Einwohnern.“
„Abergläubisch warst du ja schon immer, aber heute nimmt das seinen Höhepunkt, Sammy.“ Ich konnte seine Sorge nachvollziehen, verstehen konnte ich ihn aber nicht. Lea war kein dummes Mädchen, vielleicht ein wenig naiv, aber klug genug, nicht nachts durch die Sümpfe zu stapfen. Wahrscheinlich lag sie in einem Strohhaufen, ein Kerl bei ihr und dachte gar nicht daran, dass ihr Vater vor Sorge fast umkam.
„Was hast du vor, wenn wir sie dort nicht finden?“
Er hielt inne. „Wir suchen das Gebiet um den Sumpf ab. Rollo findet sie schon, wenn sie da ist.“
„Eben, wenn.“
Sammy sah mir in die Augen. Sein Blick besaß etwas befremdlich Entschlossenes. „Weiter geht’s, Phil.“
Der Vollmond tauchte den Wald in ein mystisches Silbergrau. Mit jedem Schritt knackten Zweige unter unseren Füßen. In der Stille der schlafenden Natur musste man uns schon von Weitem hören, nur Rollo schaffte es, sich halbwegs lautlos zu bewegen.
„Der Sumpf ist nicht mehr weit“, sagte Sammy. Ich spürte die Feuchtigkeit durch meine Schuhe dringen und nickte. Er rief laut nach seiner Tochter.
Kurz lauschten wir in die Stille und setzten dann unseren Weg fort. „Was hatten die ganzen Leute eigentlich hier verloren, als sie angeblich von diesem Sumpfmonster angegriffen wurden?“
„Keine Ahnung. Verschiedenes, nehm‘ ich an.“
Sam war hochkonzentriert. Ich beobachtete, wie seine Hand immer wieder an den Revolver in seiner Jacke wanderte, diskutierte daher auch nicht weiter.
Plötzlich knackte etwas, wenige Meter von uns entfernt. Wir erstarrten sofort. Wieder ein Knacken. Ich fingerte nach meiner Waffe und umschloss den Knauf. Das Geräusch setzte sich fort, in regelmäßigen Abständen. „Lea?“, brüllte Sam. Ich zuckte zusammen und stieß ihn in die Seite.
„Das klingt nicht nach einem Menschen, Sammy.“
Wieder knackte es, ein schwarzer Schatten huschte zwischen den Bäumen entlang. Mein Herz pochte wild und ich hielt die Waffe fest mit beiden Händen umschlossen. „Spann den Hahn“, sagte Sam.
Hektisch tastete ich die Waffe ab. Der Schatten gallopierte in unsere Richtung, ich machte einen Schritt zur Seite und stolperte. Meinen Freund riss ich mit zu Boden, ein Schuss löste sich, schlug aber durch die Baumwipfel. Im Sturz hatte ich die Waffe fallen lassen, panisch suchte ich den Boden um mich herum ab. Dann atmete ich auf.
„Mann, Rollo!“, sagte ich. „Wir hätten dich fast erschossen!“
Schwanzwedelnd setzte sich der Neufundländer vor uns. Sam stand auf und reichte mir die Hand, um mir zu helfen. Ich war noch nie so froh, den sabbernden, dicklichen Hund zu sehen. Mein Revolver lag vor ihm auf dem schlammigen Waldboden.
Als wir uns von dem Schock erholt hatten, setzten wir unseren Weg fort. Wir waren schon ein gutes Stück des Waldes abgelaufen und, wie erwartet, hatten wir Lea noch nicht gefunden. Nebelschwaden waberten über den moos- und farnüberwuchterten Waldboden. Ich konnte mir vorstellen, dass man aus dem Wasser ragende Wurzeln und Äste in einem solchen Licht leicht mit Händen und Armen verwechselte. Wenige Male zuckte auch ich zusammen, als ich der Meinung war, dass sich die Wasseroberfläche bewegte.
Sams Schreie nach Lea blieben weiterhin erfolglos. Ich klopfte ihm auf die Schulter.
„Sie ist nicht hier. Sie hat sich mit irgendeinem Kerl verkrochen, aber sicher nicht hier. Gehen wir.“
Er drehte sich zu mir um und sah mich müde an. „Wahrscheinlich hab‘ ich überreagiert“, sagte er. „Rollo?“
Der Hund saß wenige Schritte neben uns und starrte auf das neblige Gewässer. Er reagierte nicht. „Rollo?“, wiederholte Sam. Der Hund starrte weiter, dann stellte er sich auf, zog die Lefzen nach oben und knurrte.
Wir wirbelten herum und suchten mit unseren Blicken die Sumpfoberfläche ab. Es war klar zu hören, dass sich irgendetwas dort bewegte, durch den Nebel konnte ich die feinen Kreise und Linien auf dem Wasser aber nur erahnen. Sam spannte den Hahn seiner Waffe, ich tat es ihm gleich.
„Schlange?“, flüsterte er.
„Eine laute Schlange, wenn du mich fragst. Krokodile gibt’s hier aber auch keine.“
Rollo knurrte und bellte lauter.
Entschlossen zielte Sam auf einen Punkt im Wasser und drückte ab. Die Kugel formte ein kaum sichtbares Loch in der Nebeldecke. Der Knall der Waffe hallte im Wald nach, danach war Stille. Auch der Hund hatte aufgehört zu bellen. Wir warteten einige Sekunden.
Dann setzte ich einen Fuß vor den anderen, bis ich schließlich am Sumpfufer stand und versuchte, im Wasser etwas auszumachen. Ein runder Schatten trieb vor mir, ein großes Blatt oder ein seltsam geformter Ast. Ich beobachtete das Objekt und unterdrückte das unwillkürliche Bedürfnis, danach zu greifen.
„Phil, was ist da?“ Sam stellte sich neben mich. „Was ist das?“
Ich ging in die Hocke, um genauer zu sehen. Im trüben Mondlicht schien es zu funkeln, zwei leuchtende Punkte. Ich war wie hypnotisiert und verfolgte es, wie es im Wasser schwamm.
„Vorsicht“, schrie Sam und riss mich an der Schulter zurück, sodass ich auf den Boden fiel. Das Wasser wurde aufgewirbelt und ein Wesen, wie aus Faulschlamm, aber mit menschlicher Silhouette, richtete sich auf. Sam feuerte drei Schüsse aus seinem Revolver ab, bis es ihn an den Knöcheln packte und mit einem Ruck ins Wasser zerrte. Rollo knurrte und bellte, ich sprang auf. Der Sumpf brodelte und ich schoss ziellos in das nebelgraue Gewirr, bis die Trommel leer war. Ich hörte einen erstickten Schrei, rannte zum Ufer und suchte nach meinem Freund. Dann beruhigte sich die Oberfläche. Nichts zu sehen, nichts von Sam, nichts von dem Untier aus dem Sumpf. „Rollo!“, schrie ich, der Hund quietschte und lief ruhelos am Ufer auf und ab. Ich griff sein Halsband und zerrte ihn weg vom Wasser. „Komm mit, Rollo!“
Ich rannte, den Hund am Halsband gepackt. Mein Herz hämmerte gegen meine Brust, meine Lungen brannten. Ich hörte nichts außer meinem keuchenden Atem und den knackenden Ästen unter meinen Füßen. Das Adrenalin trieb mich voran.
Bald sah ich die ersten Lichter des Dorfes. Rollo trabte neben mir her, ich schleppte mich die letzten Meter zu Sammys Haus und riss die Tür auf. Nicht abgesperrt. Im Wohnzimmer saß Lea und häkelte.
„Was ist denn mit dir passiert? Und wo ist Papa?“
Perplex und außer Atem sank ich im Flur nieder. Rollo tappte zu Lea, die ihn schimpfte, dass er mit so dreckigen Pfoten nicht auf den Teppich solle.
„Wo warst du?“, war das einzige, was ich herausbrachte.
„Mit Freunden unterwegs“, sagte sie und wurde dabei rot. „Und wo warst du?“