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Der Sturz
Eine zerklüftete Küste in weiter Ferne. Sterne verdichten sich zu einem gleißenden Strand aus Lichtern am Firmament. Am Horizont erlischt die Röte der zurückliegenden Dämmerung langsam und ihre Magie verflüchtigt sich. Ein Mann, auf der Klippe dieser Küste sitzend, schaut betrübt in die See. Dunkelheit umspielt seine Gesichtszüge und in seinen Augen schimmert Reue. Eine kleine Träne schwillt an und beginnt die Konturen seines Gesichts entlang zu rollen. Seine Gedanken rasen wild durch seine Erlebnisse, seine Entbehrungen hindurch.
Zwei Tage zuvor lief er durch die Strassen eines rauen Küstenörtchens. Die Sonne strahlte auf die unregelmäßigen Pflastersteine und die Wogen der See glitzerten bezaubernd im Licht. Er trat in eine Metzgerei. Den Besitzer kannte er nun seit etlichen Jahren. Der Metzger nickte ihm freundlich zu und gab ihm, wie jeden Tag, ein Stück seines besten Lamms. Ferdinand begab sich ohne Hast an den dunkelbraunen Strand und fühlte wie die Sandkörner seine Sohlen bei jedem Schritt sanft streichelten. Tagsüber arbeitete er in einer Whisky-Brennerei. Seine Tätigkeit erfüllte in von den Spitzen seiner Füsse bis in die tiefsten Winkel seines Gemüts; durchdrang ihn innen wie außen. Er blickte noch einige Minuten reglos auf den faszinierenden Tanz der Wellen im Spiel des Lichtes, hörte dem Flüstern der Wellen zu.
„Hey Ferd, wie immer die Ruhe selbst, was?“ Die Züge von Ferdinand erhellten sich noch mehr und beide strahlten sich belebend an. „Frank, schön, dass du kommen konntest! Wie geht’s dir? Laufen die Geschäfte?“ Frank setzte sich neben ihn in den kühlen Sand. „Wie immer, mal auf, mal ab.“ begann er pragmatisch. „Hier in der Stadt ist alles im Lot. Der Verkauf läuft und der Rubel rollt in dem Masse, dass ich gut leben kann. Aber der Export in andere Teile des Landes..“ Er seufzte laut. „Es ist billiger Fleisch und Wolle aus dem Ausland zu kaufen. Immer weniger Leute kaufen bei mir ein. Der Trend nimmt seit ein paar Monaten rapide zu. Langsam bereitet mir das Sorgen. Wenn es so weiter geht, werde ich in der Zukunft kleinere Umsätze haben und muss die Produktion herunter drosseln.“ Wie so oft hatte Ferdinand aufmunternde Worte für seine langjährigen Freund. „Aber du hast eine tolle Familie, kannst stolz auf das sein, was du erreicht hast. Und schließlich ist Geld nicht alles, Zufriedenheit und Optimismus ist der Schlüssel zum Erfolg. Außerdem bist du eine angesehene Persönlichkeit und bringst mit deiner Art viel Leben in die Stadt.“ „Immer wieder wundersam, wie deine Worte mir zumindest für einige Sekunden wieder Zuversicht einflößen. Manchmal beneide ich dich für deine Gelassenheit, deine Freude an den kleinen Dingen des Lebens. Aber trotzdem bereitet mir dies viel Kopfzerbrechen. Schlaf finde ich oft sehr spät und in den letzten Nächten bin ich vermehrt schweißgebadet aufgewacht und meine Frau musste mich beruhigen.“ Ferdinand hörte die Spuren von Wehmut und Schwere in den Worten von Frank. Die mentale Verfassung von ihm beunruhigte ihn zunehmend. „Du gehörst zu den Wohlhabenden dieser Stadt. Selbst wenn deine Umsätze abnehmen, wirst du immer noch genug haben für deine Familie. Ich verstehe zwar nichts von deinen Geschäften, aber trotzdem schadet es dir, zu stark düsteren Gedanken nach zu gehen. Ob du's glaubst oder nicht, auch ich kann mich nicht immer für die kleinen Dinge begeistern. In manchen Momenten sehe ich auch nur das Negative am Leben. Aber dann sag ich mir, dass ich hier viele Freunde gefunden habe. Eine sichere Arbeit habe. Oder ich gehe an den Strand, blicke in die rauschende See. Schau dir zum Beispiel die Wellenmuster an, zauberhaft nicht wahr? Keines davon gleicht dem anderen, alles ist einzigartig. Ich verstehe die Leute nicht, die vom Paradies nach dem Tod sprechen. Hier vor deinen Füssen, vor deinen Augen, spielt sich Magie ab. Die Erde wäre das Paradies, wenn wir nicht so oft durchs Leben hetzen müssten...verscheuche deine Sorgen. Achte stattdessen nur auf das Rauschen der Wellen, das Pfeifen des Windes. Du brauchst solche Momente, um wieder Kraft zu tanken. Ich konnte auch nicht von einem Tag auf den Anderen den Alltag hinter mir lassen und mich nur auf die Wellen, die Stimmungen der Natur, konzentrieren. Und glaub mir, dies gelingt mir sogar heute nicht immer. Aber vor allem dann, wenn ich einen Freund wie dich neben mir habe.“ Er sah kurz, wie ein tiefes Lächeln auf Frank's Gesicht erschien. Es blieb dort einige Sekunden und er spürte Zuversicht aufblühen. Wie eine Blume, die nach einer kurzen, intensiven Dürre durch lebenspendende Tropfen wieder zum Leben erweckt wurde. Sie sassen noch einige Minuten stumm im Licht der untergehenden Sonne und genossen den blauen Himmel, den Sand unter ihren Füssen und die leichte Brise, die ihnen ums Gesicht strich.
Daheim angelangt leerte Ferdinand routiniert seinen Briefkasten. Ein seltsamer Brief mit ungewöhnlichen Verzierungen stach ihm sofort ins Auge und aus Neugier heraus öffnete er ihn noch vor Ort. Schon als er zu lesen begann, wurde ihm seine Lage schlagartig bewusst. Seine Mine verfinsterte sich und seiner Fröhlichkeit verblasste. Ohne einen Atemzug ließ er den Umschlag auf den schlammigen Boden fallen. Dieser sog sich langsam aber kontinuierlich mit Wasser auf und die Verzierungen in roter Farbe verzogen sich in alle Richtung. Bis fast nicht mehr zu erkennen war, dass vorher die Buchstaben F und H auf dem Papier prangten.
Als er in der Kneipe angekommen war, klopfte sein Herzen fürchterlich. Ein unheimlicher Fremder sass in einer düsteren Ecke des Lokals und beobachtete ihn misstrauisch aus dem Augenwinkel heraus. Er riss sich zusammen, um nicht laut los zu schreien. Die Sätze, die er nur kurz wahrgenommen hatte, aber sich tief in ihn hinein gebrannt hatten, hatten seine Stimmung kippen lassen. „So einfach kommst du uns nicht davon...“ Er konnte sie nicht aus seinem Kopf, seinen Gedanken, verbannen. Seine Vergangenheit hatte ihn eingeholt und ihn mit gnadenloser Stärke gegen die Wand gedrückt. Es fühlte sich so an, als ob jede Flucht ihn noch tiefer in eine Falle ohne Wiederkehr treiben würde. Trotzdem gab ihm dieser schnelle Lauf einen Vorsprung gegenüber seiner Angst, nur für kurze Zeit und nur oberflächlich. Innerlich tobte ein Sturm, der alles, was er sich aufgebaut hatte, mit Leichtigkeit zerschmetterte. Als ob die innere Festung, welche sein Ich darstellte, nun aus Glas bestünde. „Was trinkst du heute?“ fragte der Barkeeper erstaunt. Nach einer kurzen Pause ohne Antwort von Ferdinand fügte er alarmiert: „Ist etwa nicht in Ordnung mit dir, Ferdinand? Du siehst aus als ob du dem Tod in die Augen geschaut hättest. So kenne ich dich überhaupt nicht!“ hinzu. Ferdinand durchdrang mit seinen Blicken alles und jeden. Nur der Fremde blieb als ewiges Mahnmal in seinem Blickfeld. Je mehr er sich bemühte auch durch diesen, ihm unbekannten Mann, zu blicken, desto stärker brannte sich dessen Erscheinung in seine Sinnen ein. „Ähm....es ist nichts...ein Wasser...bitte“ seine stockenden Worte kamen von weit her. Seine sonst bekannte Art war verschwunden. Die Worte träufelten eher zitternd aus seinem Mund. Normalerweise wirkte jedes seiner Worte warm und kräftig.
In der Früh, ein kühler Morgen mit nassem Wind, fanden ihn die Leute des Dorfes. Einige drehten sich bestürzt um. Andere sahen starr auf den zerschmetterten Körper, der stetig von Wellen umschlossen wurde, um dann wieder in den Zwischenräumen der Felsen hängen zu bleiben. Einem Mann mit Bart und kantigen Gesichtszügen wurde es zu viel. Er begann leise zu schluchzen. Seine Stimme klang merkwürdig hohl und schwirrte sachte umher. Die Stimmung war im gleichen Masse mit Fassungslosigkeit gesättigt, wie die Decke aus grauen Wolken, die bedrückend über den Klippen hingen, mit Wasser vollgepumpt waren.
Zwei Jahrzehnte vor diesen Geschehnissen stand ein Mann draußen, im stärksten Regenguss seit Monaten. Er hieß Jonathan. Ein Abend, der bis tief in die Nacht reichte, war zu einem Ende gekommen. Der nasse Asphalt spiegelte die nächtlichen Lichter als verschwommene Konturen. Als er gerade um eine Ecke biegen wollte, hörte er gepresste, durchdringende Schreie eines Mannes. Vorsichtig spähte er um die Ecke. Er hielt den Atem kurz an, hielt inne. Ein schwarz gekleideter Mann mit kurzem, schwarzem Haar gewann seine Aufmerksamkeit. Zwischen den rauen Fingern des Mannes war ein schimmerndes Messer. In diesem Moment, so kurz wie der Flügelschlag eines Schmetterlings und gleichzeitig fühlte es sich so lang wie ein Äon an, hörten beide nur das Aufschlagen zahlreicher Tropfen auf dem Boden und die Pfütze zu ihren Füssen wurde stetig grösser. Der junge Erwachsene lag blutend und regungslos vor seinen Füssen. Blut tropfte leise von der Klinge. Jonathan wollte sich umdrehen und wegrennen. Doch für einen brutal kurzen Augenblick kreuzten sich die Blicke der beiden. Jetzt ging alles grässlich schnell. Er rannte mit der Furcht eines gejagten Hasen weg. Hinter sich hörte er nur beschleunigende Schritte. Er traute sich nicht, sich umzudrehen. Trotzdem fühlte er die unausweichliche Endgültigkeit in der nahenden Aura des Mörders. Wenn jetzt nur etwas schief gehen würde, dann wäre es Aus mit ihm. Noch bei den Gedanken an dieses Szenario passierte es. Quietschende Reifen durchdrangen schrill das beruhigende Geräusch des Regens. Dann folgte ein Scheppern, vermischt mit Schmerzenslauten eines Mannes. Die Sicht löschte aus, wie Kerzen im Wind. Er spürte nur noch Schmerzen durch seine Glieder jagen, dann Schwärze. Langsam öffnete er die Augen. Im Hintergrund vernahm er ein stetiges Piepsen. Das Bett, auf dem er lag, war ungewöhnlich bequem. Seine ganze Umgebung nahm er nur matt war. Er befand sich im Spital und spürte seinen schmerzenden Körper kaum.
Als es ihm wieder besser ging, verhörten sie ihn, um Einzelheiten über den Täter in Erfahrung zu bringen
„Wir können ihre Sicherheit hier nicht mehr gewährleisten. Sie müssen ihre Heimat für immer verlassen. Ab jetzt tragen sie den Namen Ferdinand! Jonathan ist hiermit offiziell tot! Sie dürfen am neuen Ort auf keinen Fall mit jemandem über ihre Vergangenheit sprechen.“
Kurz zuvor sah er in einem leicht flimmernden Fernseher die neusten Nachrichten. „Die Fahrerin, die vor einigen Wochen in einen Unfall mit einem Passanten verwickelt war und eine zwielichtige Gestalt in den Tiefen der Stadt verschwinden sah, ist heute morgen tot in ihrer Wohnung aufgefunden worden. Die Ermittlungen sind noch im Gange. Die Behörden schließen eine ins kleinste Detail geplante Exekution durch Banden nicht aus, da solche in letzter Zeit gehäuft vorkamen. Die genaue Ursache ihres Todes ist noch immer ein Rätsel, da äußerliche Spuren von Gewalt fehlen. Die Forensik wird sicher in Bälde Aufschluss über die Umstände geben.“
Er verließ die Stadt noch am selben Tag unter polizeilicher Obhut und kehrte nie wieder in seine Heimat zurück. Er war verängstigt und fühlte sich von seinem Leben gänzlich ab gekappt.