Der Sturz in eine andere Welt
Sahra ist auf dem Heimweg nach einem langen und strapaziösen Arbeitstag. Es ist spät in der Nacht und sie ist die einzige Person weit und breit, die noch unterwegs ist. Sie kommt wie jede Nacht zum alten Marktplatz. Tagsüber sind hier stets viele Menschen und am Busbahnhof direkt am Rande des Platzes fahren tagsüber Busse und Straßenbahnen im Minutentakt. Nachts herrscht hier eine gähnende Leere. Überall sind Laternen, aber es gibt auch viele Bäume. Einige Bäume sind sehr groß und üppig. Deswegen gibt es einige Stellen des Platzes, die in Dunkelheit gehüllt sind. Die Geräusche der Nacht beschränken sich auf das Summen der Laternen, das zirpen von Insekten, den Ruf einer Eule und der Krach von fahrenden Güterzügen vom nahegelegenen Bahnhof.
Auf der Mitte des Platzes, bemerkt sie einen zweiten Schatten neben sich. Sie wird nervös und bekommt Herzrasen. Sie fasst mit ihrer rechten Hand in ihre Handtasche um das Pfefferspray zu packen und dreht sich um. Doch niemand ist dort. Sie schaut sich um, auf dem ganzen Platz ist keine Menschenseele. Der Schatten ist verschwunden. Sie geht weiter und läuft schneller als vorher. Auf einmal erscheint erneut der zweite Schatten. Wieder beginnt ihr Herz zu rasen. Ihre rechte Hand hat sie noch am Pfefferspray, doch diesmal zieht sie es aus der Tasche. Sie dreht sich wieder um. Doch wieder ist niemand dort. Sie schaut sich um, doch auf dem ganzen Platz ist niemand zu sehen. Aber der Schatten wird immer größer und es sieht so aus, als würde der zweite Schatten ihren eigenen verschlingen. Sie beginnt zu rennen. Bevor sie die nächste Straße erreicht, stolpert sie.
Sie kann mit ihren Händen den Sturz ein wenig abfedern. An ihrem linken Knie und ihrer linken Hand verspürt sie jedoch einen Schmerz. Auch mit ihrem Kopf ist sie irgendwo gegen gestoßen. Sie tastet zuerst ihren Kopf, dann ihre linke Hand und dann ihr linkes Knie ab. Sie spürt ein wenig Blut an ihren Händen. Sie hat sich ihr linkes Knie aufgeschlagen.
Jetzt erst bemerkt sie, dass es vollkommen dunkel ist. Es ist als ob sie sich an einem vollkommen anderen Ort befindet. Keine einzige Laterne erhellt die Dunkelheit. Einen kurzen Moment lang dachte sie, dass sie erblindet sei. Doch dann erblickt sie den Mond am Himmelsfirmament. Das Handy! Sie kann ja Hilfe rufen und die Taschenlampenfunktion nutzen um sich besser zu orientieren. Doch sie hat kein Empfang und der Akku ist fast vollkommen leer. Sie versucht irgendetwas in der Dunkelheit zu erkennen, doch vergeblich. Der Akku ist leer, bevor sie irgendetwas erspähen konnte. Ihr fällt etwas weiteres auf. Kein einziges Geräusch ist zu hören. Keine Geräusche von den Laternen und Güterzügen. Sie denkt erst, dass es ein Stromausfall sei. Doch dann bemerkt sie, dass es auch keinerlei Geräusche von Tieren gibt. Kein zirpen von Insekten und kein Geräusch von Eulen oder anderen Tieren ist wahrzunehmen.
Es dauert eine Weile bis sich ihre Augen etwas an die Dunkelheit anpassen. Doch sie erkennt die Gegend nicht wieder, sie scheint an einem völlig anderen Ort zu sein. Sie befindet sich auf einer großen freien Fläche. Nur der Boden wird leicht vom Mondlicht erhellt. Das Licht des Mondes erhellt keinen einzigen Baum, keine Laterne, ja nicht einmal ein Gebäude wird vom Mondenschein angestrahlt. Um sie herum ist nichts, rein gar nichts. Panik macht sich bei ihr breit. Ihr Herz rast schneller als jemals zuvor, sie zittert an den Händen und fängt an zu schwitzen. Sie denkt darüber nach was sie machen soll. Dann fällt ihr ein, dass sie sich ja mitten in der Stadt befinden muss, selbst wenn sie nichts davon sieht. Wenn sie einfach geradeaus weiterläuft, muss sie irgendwann auf ein Gebäude stoßen. Diese Vorstellung war wie ein Heilmittel gegen ihre Panik, alle Symptome waren auf einmal stark abgemildert.
Sie läuft ganz vorsichtig geradeaus, denn sie will nicht noch einmal stolpern. Der Boden ist komplett eben. Sie spürt nicht einmal kleinste Unebenheiten im Boden. Keinerlei Erhebungen oder Senkungen, kein Bürgersteig , keine Straße, nichts spürt sie, nur eine ebene Fläche. Sie geht mehrere gefühlte Minuten weiter und weiter, doch nichts stellt sich ihr in den Weg. Plötzlich erkennt sie etwas direkt vor sich. Sie hält den Atem an und bleibt stehen. Doch was ist es? Viele Gedanken rasen durch ihren Kopf. Ist es ein Gebäude? Nein, es ist viel zu klein für ein Gebäude. Ist es ein Baum? Nein, auch dafür ist es zu klein und es scheint ziemlich nah zu sein. Ist es ein Busch? Vielleicht ist es ein Busch. Oder es ist ein Mensch? Es ist bestimmt ein Mensch. Laut und voller Hoffnung ruft sie die vermeintliche Person: „Hallo, können Sie mich hören?“ Doch es kommt keine Antwort. Wieder schießen ihr viele Gedanken durch den Kopf. Hat die Person mich nicht gehört? Ist es vielleicht doch kein Mensch? Ist die Person taub? Oder will sie mich nicht hören? Vielleicht will die Person mir etwas Böses antun? Bei diesem Gedanken steigt die Panik wieder hoch. Ihr Herz rast, sie fängt an zu schwitzen und zittert am ganzen Körper. Plötzlich bewegt sich dieses etwas vor ihr. Es kommt näher. Es kommt immer näher. Sie will weglaufen. Doch ihr Beine bewegen sich keinen Zentimeter, sie sind komplett erstarrt. Wieder rasen ihr Gedanken durch den Kopf. Oh mein Gott! Ich kann nicht weg laufen. Was soll ich nur tun? Was wenn die Person mir etwas Böses antun will? Oh mein Gott! Ach komm schon reiß dich zusammen! Du bist doch keine ängstliche Maus. Du kannst dich wehren. Du bist eine starke Frau. Du kannst zuschlagen, wenn es sein muss. Und im Notfall hast du noch dein Pfefferspray. Na los komm schon du komischer Kerl. In diesem Moment realisiert sie, dass es direkt vor ihr steht. Es macht ein ganz leises summendes Geräusch. Es scheint sie anzusehen. Ihre Gedanken rasen wieder. Was macht der Kerl für ein komisches Geräusch. Er steht direkt vor mir, aber ich kann rein gar nichts von seinem Gesicht erkennen. Es sieht nur aus wie ein Schatten. Sein ganzer Körper sieht aus wie ein Schatten. Er ist sehr sehr dünn, hat lange dürre Arme. Und seine Beine. Oh mein Gott seine Beine! Er hat keine Beine! Dort wo seine Beine sein sollten ist nichts, da ist einfach nichts! Wie kann das sein? Dann bewegt das Wesen seinen rechten Arm. Er greift nach ihr und berührt sie an ihrer linken Schulter. Sie verspürt einen heftigen stechenden Schmerz an ihrer linken Schulter. Reflexartig versucht sie das Wesen mit ihren Händen wegzustoßen. Doch es funktioniert nicht. Ihre Hände gehen einfach durch das Wesen durch, einfach so, als ob dort nichts wäre. Dann greift sie in ihre Tasche, packt das Pfefferspray und sprüht es dort hin, wo ein Mensch sein Gesicht hätte. Augenblicklich hört der Schmerz auf ihrer Schulter auf. Das Wesen flieht und stößt dabei ein fürchterliches Gejaule aus.
Sie ist so erleichtert, dass dieses Wesen verschwunden ist. Doch die Erleichterung dauert nicht lange an. Auf einmal erblickt sie vor sich wieder eins dieser Wesen und noch eins und noch eins, es sind dutzende. Diesmal rennt sie weg von den Wesen, so weit sie ihre Beine tragen. Sie muss irgendwo in der Nähe der Stelle sein, an der sie gestolpert war. Sie ist komplett außer Atem. Sie schaut sich um und sieht nichts, rein gar nichts und beginnt sich etwas zu entspannen. Doch nach kurzer Zeit nimmt sie ein ganz leichtes Summen wahr. Sie schaut sich panisch um und erblickt mehrere Wesen, sie nähern sich aus allen Richtungen. Ihre Panik kommt wieder hoch, ihre Beine erstarren. Die Wesen kommen näher und näher. Sie greift das Pfefferspray, fest entschlossen, es gegen jedes Wesen einzusetzen, welches sie berührt. Das erste Wesen ist bei ihr angekommen und berührt sie am linken Arm. Sie reagiert schnell und sprüht das Pfefferspray auf das Wesen. Es jault und flieht wie das letzte. Das nächste Wesen hat sie fast erreicht, doch sie bemerkt, dass es immer mehr Wesen werden, es kommen immer mehr. Das nächste Wesen hat sie erreicht. Sie sprüht das Pfefferspray und es flieht jaulend. Als jedoch das folgende Wesen sie erreicht und sie das Pfefferspray benutzen will, kommt nichts mehr heraus. Das Wesen berührt sie und sie kann nichts dagegen tun, dann kommen nach und nach mehr und mehr Wesen und berühren sie. An jeder einzelnen Stelle schmerzt es und die Schmerzen werden immer schlimmer. Ihr Herz rast immer schneller und schneller. Dann verspürt sie einen sehr starken stechenden Schmerz an ihrem Arm. Ihr wird ganz schwummerig und sie verliert das Bewusstsein.