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Der Sturm

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18.08.2003
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Der Sturm

Lucullus kroch bereits, als er die Lampe der Gaststube sah. Sie durchbrach das Schneegestöber und gab ihm ein Ziel. Mit letzter Kraft schleppte er sich zu dem Licht hin.
Der Wind jagte große Schneeflocken über die Straße und machte es ihm unmöglich, den Unterschied zwischen Himmel und Erde auszumachen. Die tanzenden Schneeflocken verwischten den Horizont. Ein graues Tuch hatte sich über das Land gesenkt. Von der langen Wanderung erschöpft, lehnte sich Lucullus gegen die Mauer eines Gasthauses. Er mußte erst zu Kräften kommen, ehe er die Stufen zur warmen Stube hinauf ersteigen konnte. Ein ums andere Mal richtete er sich halb auf, blickte zur Treppe herauf und ließ die Schultern wieder sinken. Zwischen zusammengebissenen Zähnen stieß er Verwünschungen gegen sich aus, befahl sich gegen die Treppe vorzugehen. Doch sein Körper versagte ihm den Dienst. Nur langsam kehrten seine Kräfte zurück. Er beruhigte sich damit, daß es nur eine Frage der Zeit sei, wann er die letzte Hürde zwischen sich und dem warmen Schankraum würde in Angriff nehmen können.
Gerade als Lucullus den ersten wirklichen Versuch wagen wollte, meinte er Schritte zu hören. Angestrengt lauschte er in das Schneetreiben hinein. Knirschende Schritte auf frischgefallenem Schnee. Er war sich sicher. Lucullus konzentrierte sich so sehr, daß er darüber sein körperliches Elend vergaß. Doch kein Laut war mehr zu hören. Seine Stimmung verdüsterte sich. Er wäre gerne jemandem begegnet, mit dessen Hilfe er die Stufen hätte erklimmen können.
Er wollte sich niedergeschlagen gegen die niedrige Mauer lehnen, als sich die schemenhafte Gestalt eines Mannes aus dem Schneegestöber schob. Langsam und gegen den übermächtigen Wind ankämpfend, kam der Mann auf Lucullus zu. Als er nur noch wenige Schritte von ihm entfernt war, blieb der Mann stehen. Er stockte mitten im Schritt und blickte Lucullus überrascht an.
Es war keine Freundlichkeit in dem Blick. Der Mann schien geradezu verärgert zu sein, daß jemand an die Mauer der Wirtsstube gelehnt stand.
"Was tun Sie da?" bellte der Mann, um den Wind zu übertönen. Gleichzeitig stampfte er mit dem Fuß auf, um sein Gleichgewicht zu wahren.
Die Grobheit der Frage beleidigte Lucullus. Zuerst wollte er nicht antworten, aber dann überlegte er sich, daß er nicht in der Position sei seinen Gegenüber zu ignorieren.
"Wer sind Sie, daß ich Ihnen antworten müßte?" wollte er wissen.
"Ich stelle hier die Fragen", entgegnete der Mann barsch. "Aber das will ich Dir beantworten, damit Du weißt, daß ich jedes Recht habe Dir Fragen zu stellen. Ich bin nämlich der Gemeindevorsteher dieses Ortes. Und ich nehme es mit meinen Pflichten sehr genau. Nie hat man gesehen, daß ich in meiner Pflichterfüllung nachlässig oder zögerlich gewesen wäre."
Der Rang des Mannes beeindruckte Lucullus nicht. Er war aber ein Beamter und es erschien Lucullus nicht ratsam, respektlos zu erscheinen. Er beschloß, dem Gemeindevorsteher keinen Anlaß zu geben, seine Macht gegen ihn zu gebrauchen.
Lucullus versuchte sich aufzurichten, doch gelang es ihm nicht. Er rutschte wieder ein Stück die Mauer herunter. Die Beine versagten ihm den Dienst. In den Augen des Gemeindevorstehers mußte er wie ein Betrunkener wirken. Lucullus überlegte sich jedoch, daß er darauf verweisen konnte, daß sein Atem nicht nach Alkohol roch und er auch sonst keine Anzeichen von Trunkenheit erkennen ließ.
"Was tust Du da?"
"Ich lehne mich gegen die Wand."
Diese Antwort schien den Gemeindevorsteher nicht zufrieden zu stellen. Er wog den Kopf hin und her, als müsse er erst über die Antwort nachdenken, ehe er sich sicher sein konnte, daß sie ihm mißfiel.
"Ich täte es nicht, wenn ich nicht so erschöpft wäre. Ich war unterwegs in die Stadt, als mich das Unwetter auf offener Straße überraschte. Ich konnte mich gerade noch hierher retten."
Endlich schien der Gemeindevorsteher zu einem Entschluß gekommen zu sein. Die Falten auf seiner Stirn glätteten sich. Lucullus zweifelte daran, daß er ihm zugehört hatte.
"Man steht nicht gegen eine Wand gelehnt. Es sei denn, man ist ein Bettler, und Bettler dulden wir hier nicht. Bist Du ein Bettler?"
Der Gemeindevorsteher blickte ihn erwartungsvoll an.
"Ich bin kein Bettler", sagte Lucullus verwirrt. "Ich stehe hier nur, um mich zu erholen, um wieder zu Kräften zu kommen."
"Davon habe ich noch nie gehört", beschied ihn der Gemeindevorsteher, als würde diese Tatsache allein bereits alle weiteren Argumente seitens Lucullus entkräften.
Der Sturm hatte sich gelegt und war normalem Schneefall gewichen. Das zuweilen ohrenbetäubende Brausen des Windes war zu einem leisen Flüstern geworden. Nur noch selten wirbelte eine verirrte Böe die Flocken durcheinander. Aber das sah nun nicht mehr nach bedrohlichem Totentanz aus, vielmehr nach einem malerischen Idyll.
Da sich auch das allgegenwärtige Grau mehr und mehr auflöste, konnte Lucullus erkennen, daß die Gaststube das erste Haus im Dorf war. Eine kleine Mauer, mehr als Zierde gedacht, denn mit einem Zweck verbunden, umgab es.
Lucullus war versucht sich umzublicken, um den Namen des Hauses, das sein Leben gerettet hatte, in Erfahrung zu bringen. Er wagte es jedoch nicht, den Gemeindevorsteher aus den Augen zu lassen. "Bettler dulden wir hier nicht", verkündete dieser eben wieder.
"Wie ich bereits sagte, bin ich kein Bettler. Der Sturm hat mich auf offenem Feld überrascht. Hätte ich mich nicht hinter diese Mauer gerettet, ich wäre vor Ihrem Dorf erfroren. Warum ich hier so angelehnt stehe, ist leicht erklärt. Ich war so erschöpft von dem langen Marsch, dem ständigen Ankämpfen gegen den Wind, daß ich mich erst einmal ausruhen mußte. Gerade als sie kamen, wollte ich mich in den Ausschank setzen, um mich bei einem steifen Grog aufzuwärmen."
Lucullus versuchte ein Lächeln, um seinen Gegenüber von seiner Harmlosigkeit zu überzeugen. Kälte und Wind hatten sein Gesicht jedoch so steif werden lassen, daß jede Bewegung schmerzte und der Versuch ihm zur Grimasse geriet.
Der Gemeindevorsteher winkte mit zwei Fingern in Lucullus Richtung. Zwei Männer, die Lucullus im Halbdunkel bislang übersehen hatte, setzten sich in Bewegung und kamen langsam auf ihn zu. Zunächst erschrak Lucullus, doch dann schalt er sich einen Narren. Er hätte ja nichts zu befürchten.
Jetzt waren sie bei ihm. Er blieb gelassen. Krachend ließen sie ihre großen Hände auf seine Schultern fallen, packten ihn, hielten ihn grob in eisernem Griff gefangen.
"Was soll das?" rief Lucullus. "Ich bin kein Bettler. Wie oft soll ich das denn noch sagen? Außerdem", er versuchte sich aus dem Griff der Männer zu entwinden, "außerdem kann ich meine Unschuld beweisen. Ich habe einen Brief bei mir, in dem man mir eine Anstellung in der Stadt angeboten hat. Deshalb reise ich ja zu dieser Jahreszeit, um meine Stellung in der Stadt anzutreten."
"Zeigen Sie mir den Brief", verlangte der Gemeindevorsteher.
"Er ist in meiner Tasche. Ich habe sie bei dem Sturm verloren. Wenn wir sie suchten. Morgen, bei Tageslicht."
"Verloren also", sagte der Gemeindevorsteher langsam. Seine Stimme war Ungläubigkeit.
"Ich verlange einen Anwalt zu sprechen."
Der Gemeindevorsteher sah Lucullus überrascht an. Dann begann er herzhaft und keineswegs bösartig zu lachen.
Lucullus freute sich mit ihm. Er hielt das alles noch immer für einen Scherz und glaubte jetzt freigelassen zu werden. Doch dann verstummte der Gemeindevorsteher und seufzte.
"Sie scheinen Ihre Lage völlig zu verkennen. Auch ein Anwalt könnte Ihnen nicht helfen, denn ich habe Ihren Fall gewissenhaft geprüft. Sehr gewissenhaft. Ich sagte Ihnen ja bereits, daß ich meine Pflichten sehr ernst nehme und niemals ein vorschnelles Urteil fälle. Sie müssen einsehen, daß Ihre Geschichte mehr als unglaubwürdig klingt. Sie wollen im Winter, wahrlich keine Reisezeit, zu Fuß in die Stadt. Als Gepäck nur eine Tasche, mit einem Brief über eine angebliche Anstellung in der Stadt darin. Eine Tasche, die sie vorteilhafterweise im Schneesturm verloren haben. Was könnte Ihnen also ein Anwalt helfen, selbst wenn ich die Absicht hätte einen herbeiholen zu lassen? Was ich nicht vorhabe. Der nächste Anwalt wohnt in der Stadt. Außerdem müssen Sie einsehen, daß Sie in jedem Fall schuldig sind. Spätestens in dem Augenblick, als Sie mein Dorf betraten, abgerissen und ohne Geld, wurden Sie zum Bettler."
Lucullus entgegnete darauf nichts. Er sah ein, daß man mit dem Gemeindevorsteher nicht reden konnte. Gewiß legte er ihm auch seinen Wunsch nach einem Anwalt zu seinen Ungunsten aus.
Der Wind hatte wieder zugenommen. Lucullus fühlte, wie Kälte an seinen Beinen emporzukriechen begann. Jeden Augenblick konnte es wieder anfangen zu schneien. Dieses Mißverständnis muß doch beizulegen sein, dachte er.
"Es ist kalt und ich habe nicht die Zeit, auf einen Anwalt zu warten", sagte er. "Wie wäre es denn, wenn ich die Strafe bezahlte, ohne mich schuldig zu bekennen? Nennen Sie mir die Summe und ich stelle Ihnen einen Wechsel aus."
"Ihr hartnäckiges Weigern, sich schuldig zu bekennen, ist lachhaft und zeugt nur von Ihrer mangelnden Einsichtigkeit. Sie haben jede Aussicht auf Milde vertan!" brüllte der Gemeindevorsteher. Ohne Lucullus eines weiteren Blickes zu würdigen, stapfte er durch den hohen Schnee davon. Seine Gehilfen folgten ihm, den sich wehrenden Lucullus hinter sich herziehend.
"Ich würde Ihnen auch mehr als die gewöhnliche Strafe zahlen, wenn es das ist was Sie wollen", rief Lucullus. "Nennen Sie mir die Summe, ich zahle."
Sie waren einige Schritte gegangen, als die Gehilfen abrupt stehen blieben. Lucullus verlor das Gleichgewicht. Augenblicklich waren sie über ihm und banden ihm Hände und Füße. Schon stellten sie ihn wieder auf und beschleunigten ihre Schritte, um den sich eilig entfernenden Gemeindevorsteher einzuholen. Lucullus konnte der Fesseln wegen jedoch nur kleine Schritte machen und fiel der Länge nach hin.
Mit einem gereizten Knurrlaut, wie bei scharfen Hunden, packten sie ihn und trugen ihn dem Gemeindevorsteher nach. Verwirrt ob dieses Treibens und auch von den Gehilfen eingeschüchtert, wehrte sich Lucullus nicht mehr. Auch glaubte er bei ihnen nichts erreichen zu können. Sie hatten bis auf jenen Knurrlaut noch keinen Ton von sich gegeben und schienen für sein Schicksal kein Interesse aufzubringen. Gewiß verließen sich in allem auf das Urteil ihres Herren.
Lucullus reiste so getragen recht bequem. Zwar schaukelten seine Träger mehr als ihm angenehm war, doch konnte er so den Himmel betrachten. Die Sterne leuchteten hell in der klaren Winternacht, aus der sich die Wolken verzogen hatten. Die knirschenden Schritte der Gehilfen in der endlosen Stille, der bläuliche Schnee unter und die Sterne über ihm, ließen Lucullus sich entspannen.
Hatte er eben noch darüber nachgedacht, wohin er gebracht und was weiterhin mit ihm geschehen würde, so dachte er jetzt an nichts mehr, oder ließ vielmehr seine Gedanken schweifen.
Er wußte, sie würden ihn töten. Ob er dann ein Stern und den anderen Sternen Gesellschaft leisten würde? Lucullus dachte bei sich, daß er gerne ein Stern sein würde. Wie friedlich es sein mußte, am Himmel seine Bahnen zu ziehen und die nächtliche Erde zu betrachten.
Wie schön die Nacht war; jetzt, nachdem der Sturm vorüber war.
Die Gehilfen erreichten den Marktplatz des Dorfes. Es war ein runder Platz, umgeben von geduckten Fachwerkhäusern. Eines von ihnen mochte das Rathaus sein, aber in Lucullus Augen unterschieden sie sich in Nichts voneinander. Alle waren sie in weiß oder gelb gehalten, mit Verstrebungen in dunklem Braun.
Der Gemeindevorsteher stand neben einem Scheiterhaufen, der beinahe zur Hälfte von Schnee bedeckt war. Die Verspätung der Gehilfen schien ihn nicht zu kümmern. Er las in einem dicken, in schwarzes Leder eingeschlagenes Buch. Er blickte nicht auf.
Lucullus vermutete, daß er sich vor jeder Hinrichtung in die heilige Schrift vertiefte, um daraus die Kraft zu schöpfen das zu tun, was er für seine Pflicht hielt. Herr über Leben und Tod.
Lucullus wußte, daß dies die letzte Gelegenheit war, seine Hinrichtung abzuwenden, doch er schwieg.
Geduckt, als erwarteten sie jeden Augenblick, bestraft zu werden, banden die Gehilfen ihn an den Pfahl in der Mitte des Scheiterhaufens und traten mit einem ehrfurchtsvollen Ausdruck auf ihren Gesichtern zurück. Noch einmal ließen sie prüfend ihre Blicke über ihr Werk schweifen und änderten an einigen Stellen die Anordnung der Holzscheite, befreiten sie vom Schnee. Dann schafften sie mehrere Kannen Petroleum aus einem der Fachwerkhäuser herbei und gossen es über den Reisig zu Lucullus Füßen.
Lucullus betrachtete sie abwesend und gab sich der völligen Stille hin, in der all das geschah.
Als das Werk zu ihrer Zufriedenheit gediegen war, traten die Gehilfen zurück und blickten ihren Herren erwartungsvoll an. Es war das erste Mal, daß sie ihn offen ansahen, seit sie den Marktplatz betreten hatten.
Der Gemeindevorsteher begann nun leise zu beten. Als er geendet hatte, las er eine Passage aus der Bibel vor. Währenddessen bewegte sich niemand. Danach blickten die Gehilfen Lucullus eindringlich an.
"Der Delinquent hat nichts mehr zu sagen?" fragte der Gemeindevorsteher halb an Lucullus gewandt, halb an die Gehilfen. Die schüttelten die Köpfe.
"Es ist gut so", bemerkte er. Er schlug die Bibel in seiner Hand zu und sah die Gehilfen an.
"Ich bin kein Bettler", sagte Lucullus plötzlich.
Der Gemeindevorsteher sah überrascht auf. "Es wäre besser, Sie hätten nichts gesagt," sagte er scharf, und an die Gehilfen gewandt: "Entzündet den Scheiterhaufen. Möge der Herr sich seiner armen Seele erbarmen."
Die Gehilfen taten sorgsam, was der Gemeindevorsteher ihnen aufgetragen. Es hatte wieder zu schneien begonnen. Wolken und Rauch verbargen die Sterne am nächtlichen Himmel.


 
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Kritikerkreis

Hi Hamilkar

Wundert mich, dass noch niemand auf deine Geschichte geantwortet hat. Eine der wenigen, in der mir keine Kommafehler aufgefallen sind, auch ansonsten durchweg sauber geschrieben.

Nur da sind zwei Fehler:

Zuerst wollte er nicht antworten, aber dann überlegte er sich, daß er nicht in der Position sei seinen Gegenüber zu ignorieren.
...Position sei, sein Gegenüber...

Allerdings ist unübersehbar, dass du versucht hast, Kafka zu kopieren oder dich zumindest stark an ihm orientierst.
Das fängt schon beim Stil an, die mitunter altmodischen Formulierungen, die vielen Adjektive und der auktoriale Erzählstil sprechen für sich.
Gerade, was die Sprache angeht, bin ich ziemlich beeindruckt, das wirkt bei dir nicht aufgesetzt, nicht unnatürlich aufgebauscht durch komplizierte KOnstruktionen. Du schaffst Athmosphäre mit einfachen Sätzen, einfachen Bildern, gleich im ersten Abschnitt kommt die unwirtliche Winterstimmung rüber, der bedrohlich dichte Nebel, die verschleierte Sicht, die Kälte, die ja auch keinen geringen Anteil an der "Verurteilung" des Prot trägt.
Auch an der Stelle, wo sich Lucullus plötzlich mit seiner Situation abfindet, hast du mit einer schönen Naturbeschreibung gearbeitet, um die Wende zu begründen:

Zwar schaukelten seine Träger mehr als ihm angenehm war, doch konnte er so den Himmel betrachten. Die Sterne leuchteten hell in der klaren Winternacht, aus der sich die Wolken verzogen hatten. Die knirschenden Schritte der Gehilfen in der endlosen Stille, der bläuliche Schnee unter und die Sterne über ihm, ließen Lucullus sich entspannen.

Auch die kafka-typische Ironie hast du versucht, umzusetzen. Allerdings hättest du die an einigen Stellen noch stärker rausarbeiten können.
Die Grobheit der Frage beleidigte Lucullus.
Hier zum Beispiel hätte man einfach schreiben können: "Die Grobheit der Frage war beleidigend."
Oder hier
Lucullus freute sich mit ihm. Er hielt das alles noch immer für einen Scherz und glaubte jetzt freigelassen zu werden.
Da hätte man zusätzliche Dynamik reinbringen können,wenn man das ohne Umschreibungen wie "Er hielt" darstellt. Dann identifiziert sich der Leser automatisch stärker mit der Hauptfigur.

Zum Inhalt:
Wie im "Schloss" wird also jemand in ein Dorf gerufen, um dort irgendeine Arbeit zu erledigen. Scheinbar grundlos wird er zur Begrüßung vom Gemeindevorsteher angeraunzt. Sofort ist Lucullus bemüht, sich zu entschuldigen, angeblich aus Respekt gegenüber dem Rang des anderen.
Aber der Gemeindevorsteher hört ihm übérhaupt nicht zu und bezeichnet ihn schlichtweg als Bettler, was irgendwie mit Todesstrafe bestraft werden kann.
Lucullus beharrt stur auf seiner Unschuld, hat dummerweise aber seine Tasche mit dem "Beweis" verloren.

"Spätestens in dem Augenblick, als Sie mein Dorf betraten, abgerissen und ohne Geld, wurden Sie zum Bettler."
Hierauf weiß Lucullus auch nichts mehr zu antworten, woraufhin er noch einen verzweifelten Versuch unternimmt, sich freizukaufen, allerdings ohne Erfolg. Außerdem hat er doch gar kein Geld?
Der Rest ist eine merkwürdige Strafsequenz, in der sich der Prot scheinbar mit seinem Tod abfindet, wie am Ende des Prozessromans.
Wobei mir die Erklärung etwas seicht vorkommt:

"Ob er dann ein Stern und den anderen Sternen Gesellschaft leisten würde? Lucullus dachte bei sich, daß er gerne ein Stern sein würde. Wie friedlich es sein mußte, am Himmel seine Bahnen zu ziehen und die nächtliche Erde zu betrachten."
Kann man höchstens damit begründen, dass sein Hirn durch die Kälte schon halb eingefroren ist.

Erwartungsgemäß erfüllt sich seine Vision jedoch am Ende nicht, was mit dem letzten Satz angedeutet wird. Und auch er selbst sieht plötzlich wieder klar:

„Ich bin kein Bettler“, sagte Lucullus plötzlich.

Die Doppeldeutigkeit im darauffolgenden: „Es wäre besser, Sie hätten nichts gesagt,“ hat mir gefallen. Das "nichts gesagt" kann man nämlich auch so lesen, dass Lucullus am besten von Anfang an nichts gesagt hätte und dass er sich sozusagen mit jedem Wort nur tiefer in die Bredouille gebracht hat, speziell mit seinem forschen Angriff: „Wer sind Sie, daß ich Ihnen antworten müßte?“ wollte er wissen.

Allerdings wirkt mir der Text insgesamt zu surreal bzw. in sich unschlüssig, um irgendeine Hauptaussage rauszufiltern.
Vieles wirkt einfach unlogisch, viele Wendungen beliebig eingestreut. Die Diskussion, ob Lucullus denn nun ein Bettler ist, hat mir recht gut gefallen, da merkt man auch, dass du eigene Ideen eingebracht hast, da entsteht ein intelligenter Dialog, an dessen Ende man sich wirklich die Schuldfrage stellen kann, aber ab dem verlorenen Brief wirkt die Handlung doch sehr konstruiert. Alles scheint sich gegen ihn verschworen zu haben, mit dem einzigen Ziel, ihn sinnlos hinzurichten.

Offenbar hatte der Gemeindevorsteher von vornherein die Absicht, den Prot zu verhaften. ("Auch ein Anwalt könnte Ihnen nicht helfen, denn ich habe Ihren Fall gewissenhaft geprüft. Sehr gewissenhaft.")
Dadurch wird auch die Bettlerdiskussion zur Farce.

Im Nachhinein kommt mir also vieles widersprüchlich und schwer nachvollziehbar vor. Wie gesagt hat mir die sprachliche Umsetzung sehr gut gefallen, aber der Inhalt wirkt auf mich zusammengestückelt, als hättest du einfach einige Kafka-Elemente relativ beliebig aneinandergehängt, ohne eine tiefere Aussage im Blick zu behalten. Meiner Meinung nach spricht eigentlich nichts dagegen, mal einen Autor zu kopieren, aber am besten gelingt das meist, wenn man die Eigenarten seines Stils erst hinterfragt, bevor man sie übernimmt. Dann gewinnt man auch automatisch mehr Freiheit, eigene Ideen einzubringen. Als typischen Fehler möchte ich mal die ganzen Geschichten anführen, wo sich die Nähe zu Kafka darauf beschränkt, dass irgendein Prot namens K. auf der Flucht vor obskuren Verfolgern durch neblige Straßen torkelt. Du machst hier vor, wie man es besser machen kann, wie man neue Aspekte einfließen lassen kann, auch wenn mir der Sinn etwas schleierhaft bleibt.
Möge sich der Herr der armen Interpretenseelen erbarmen ;)

Liebe Grüße
wolkenkind

 

Vielen Dank für diese ausgesprochen gute Kritik. Selten habe ich eine Auseinandersetzung mit einer meiner Geschichten mit solchem Vergnügen gelesen. Ich denke, du hast alles Stärken und Schwächen der Geschichte herausgearbeitet. Im Wesentlichen ist es eine Stilübung, Atmosphäre zu erzeugen war das Ziel. Darüber hinaus gehende Interpretation muß dem Leser überlassen bleiben.

 

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