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Der Streich
In einer verlassenen Bärenhöhle, tief versteckt im Fichtenwald, da wo die alten Bäume am höchsten in den Himmel ragten, lebte der Räuberhäuptling Baldrian.
Er hauste dort gemeinsam mit seinen drei Räuberfreunden, Kralle, Olaf und Tonne.
Die alte Bärenhöhle war ein herrliches Versteck für die Bande. Sie war tief und dunkel, Dreck klebte an den Wänden, Staub wirbelte auf dem Boden und Fledermäuse hingen in den finstersten Ecken. Vor der Höhle hatten die vier Räuber eine Feuerstelle. Hier saßen sie oft beisammen und aßen heiße Suppe, erzählten sich von erfolgreichen Raubzügen oder summten alte Lieder.
Aber an diesem Abend war die Stimmung in der Räuberbande getrübt.
„Mir ist so langweilig, wann krallen wir uns endlich wieder einen Schatz?“ fragte Kralle, der kleinste der Räuber.
Der Räuberhäuptling wusste keine Antwort. Nachdenklich kratzte er seinen struppigen Bart. Was sollten sie stehlen? Sie hatten längst alles geraubt, was es im Fichtenwald zu rauben gab.
„Das ist ja kein Räuberleben, den ganzen Tag nur in der Höhle herumzulungern und nichts zu tun“, beklagte sich Olaf, der lange Dünne.
Tonne, dem dicksten unter ihnen, machte das Faulenzen nichts aus, er war träge und verfressen. „Solange es noch was zu essen gibt, bleib ich gern in der Höhle“, brummte er und biss in eine Wurst.
Aber Baldrian war bedrückt und nachdenklich. Es war seine Aufgabe als Anführer, die Räuber auf Raubzüge zu führen.
Was ist denn schon eine Räuberbande, die den ganzen Tag nur in ihrer Höhle herumlümmelt und nichts tut? Außerdem würden ihnen bald die Vorräte ausgehen und dann könnten die Räuber ungemütlich werden, dachte der Häuptling bei sich.
Die ganze Nacht plagten Baldrian diese Sorgen, denn er wusste noch nicht, dass sich schon bald alles zum Guten wenden würde.
Am nächsten Morgen, gleich nach Sonnenaufgang, bekamen die Räuber Besuch. Sie saßen gerade bei der erloschenen Feuerstelle und teilten sich den letzten Laib Brot, als sie plötzlich eine piepsige Stimme hörten: „Ha-Ha-Hallo, bin ich hier richtig bei Baldrian und seiner R-R-Räuberbande?“
Baldrian und die anderen Räuber schauten sich neugierig um.
„Wer will das wissen?“, brummte Baldrian grimmig. Vor ihnen stand ein schmächtiges Männlein in blauer Uniform.
„Ich bin P-P-Postbote und komme mit einer Nachricht vom Bürgermeister der Fichtenstadt.“ Der Postbote reichte Baldrian zitternd einen Brief.
Baldrian öffnete den Umschlag und betrachtete prüfend die geschriebenen Zeilen, dann gab er den Zettel an Kralle weiter: „Lies vor!“ befahl er.
Kralle hielt das Papier ratlos in der Hand: „Lies du vor, Olaf“, sagte er schnell und steckte dem großen Olaf den Brief zu. Olaf hielt den Zettel ganz verkehrt und schaute verwirrt: „ Ich kann da nichts verstehen“, stammelte er. „Hier, Tonne, lies du.“ Aber Tonne schüttelte nur den Kopf und drückte den Zettel wieder dem Postboten in die Hand. „Lies uns vor, was da steht“, sagte er zornig und ein wenig beschämt.
„Lieber Herr Baldrian,
ich, der Bürgermeister von der Fichtenstadt feiere Geburtstag und lade dazu alle Bewohner dieses Landes zu einem Festessen in meine Stadt ein.
Liebe Grüße, Karl Krautkopf, der Bürgermeister.“
„Na, was sagt ihr dazu? Wir sind eingeladen, vom Bürgermeister höchst persönlich“, prustete Baldrian und tätschelte stolz seinen dicken Bauch. Dabei lachte er so laut und donnernd, dass der Postbote vor Schreck den Brief fallen ließ und das Weite suchte.
„Da gibt es bestimmt viel zu stehlen“, kicherte Kralle und rieb sich seine knochigen Hände. „Und viel zu essen“, rief Tonne und leckte über seine wulstigen Lippen. Nur Olaf fragte verlegen: „Was sollen wir denn da anziehen, zu so einem feinen Fest? Mit den zerlumpten Räuberklamotten lassen sie uns nicht mal in die Stadt, da können wir uns die große Beute gleich abschminken“
„Da hat er recht“, sagte Baldrian nachdenklich. „Als Räuber auffallen dürfen wir wirklich nicht.“
„Ich hab´ s“, stieß Olaf hervor. „Wir gehen zu unserer alten Oma Ulla, die soll uns für die Feier zurecht machen und uns Manieren beibringen, dann wird uns niemand mehr erkennen und wir können alle in Ruhe ausrauben.“
Damit waren die Räuber einverstanden und sie machten sich auf den Weg zu Oma Ulla.
Oma Ulla lebte in einem kleinen Holzhäuschen auf einer Lichtung hinter dem Fichtenwald. Sie freute sich sehr, dass ihre Räuberjungs sie wieder mal besuchten.
„Oma Ulla, wir sind beim Bürgermeister eingeladen und wollen jetzt Manieren lernen und feine Herren werden, kannst du uns helfen?“, bettelten die Räuber.
Oma Ulla war eine sehr schlaue alte Frau und hatte eine Idee.
„Natürlich helfe ich euch. Aber zuerst müsst ihr alle ein Bad nehmen und euch die Haare kämmen“, bestimmte Oma Ulla.
„Was? Ein Bad?“, riefen die Räuber entsetzt. Für sie gab es nichts Schlimmeres als zu baden. Aber sie taten es natürlich, alle vier, und benutzten sogar Seife. Während sie sich gegenseitig abschrubbten und vor lauter Wasser husteten und gurgelten, waren sie mit ihren Gedanken schon bei ihrer großen Beute. Und als sie dachten, es könnte nicht schlimmer werden, kam Oma Ulla mit einem großen Kamm und frisierte den Räubern die Läuse und Knoten aus den Haaren. Schlussendlich steckte Oma Ulla Olaf eine Blume ins Haar, flocht Kralles Bart zu einem Zopf, band Tonne einen Pferdeschwanz und Baldrian bekam eine dicke rote Schleife in seine zotteligen Locken.
Die Räuber sahen so ulkig aus! Man hätte sie eher für Clowns als für feine Herren gehalten.
„So, meine Lieben, nun setzt euch bitte. Jetzt werdet ihr mal richtige Tischmanieren kennen lernen“, sagte Oma Ulla bestimmt. Die Räuber folgten und ließen sich etwas missmutig auf den Stühlen nieder.
Oma Ulla hatte bereits den Tisch gedeckt. Die Gabeln links, die Messer rechts, die Löffel waren über den Tellern platziert und Gläser und Servietten fehlten auch nicht.
Die Räuber schauten sich verwundert um. „Das braucht man alles zum Essen?“, fragte Tonne ungläubig.
„Ja, mein Lieber. Ich weiß, dass ihr Räuber nur mit den Fingern esst, aber damit ist jetzt Schluss, wenn ihr feine Herren werden wollt“, sagte Oma Ulla scharf und die Räuber brummten ärgerlich.
„Nun, zeig uns schon, wie man diesen Klimbim benützt“, schnaubte Baldrian und betrachtete die Zacken seiner Gabel.
„Gut, dann passt mal auf.“ Oma Ulla stellte sich auf einen Stuhl, damit alle sie hören und sehen konnten. „Ich erkläre euch zuerst das Besteck.“ Sie hob den Löffel in die Höhe: „Mit dem Löffel wird gegessen.“ Dann nahm sie die Gabel: „Wenn euch etwas beißt, piekt, juckt oder kitzelt, dürft ihr euch nicht mit den Fingern kratzen. Dazu ist die Gabel mit ihren Zacken da.“
Die Räuber nickten einsichtig. Olaf kratze sich sogar schon seinen Rücken „Oh, diese Gabel ist wunderbar“, seufzte er und die Räuber taten es ihm nach.
„Und wozu ist dieses kleine Ding?“, Kralle zeigte auf den Teelöffel.
„Ja, natürlich, den hätte ich fast vergessen.“ Oma Ulla räusperte sich. „Dieser Löffel ist zum Kosten da. Damit könnt ihr die Speisen eures Sitznachbars probieren.“ Die Räuber begutachteten das Besteck und nickten dabei brummig.
„Aber das wichtigste ist“, rief Oma Ulla in die Runde, „bevor ihr zu essen beginnt, brüllt ihr so laut ihr könnt 'Mahlzeit' und bindet euch die Serviette vor die Augen.“
„Warum? Da können wir doch nichts sehen?“ fragte Baldrian verwirrt.
„Feine Menschen können auch blind essen“, meinte Oma Ulla gereizt. „Außerdem, schmatzt ihr und es ist doch unappetitlich dem anderen in den Mund zu schauen.“
„Stimmt“, sagte Baldrian und kratzte seinen frisierten Bart.
„So meine Lieben, ich habe euch alles gelehrt, was ich über feine Menschen weiß. Denkt an meine Worte und besucht mich bald wieder“, sagte Oma Ulla beim Abschied. Am liebsten wäre sie mitgekommen in die Fichtenstadt, aber sie war schon zu alt für die weite Strecke und blieb lieber zu Hause auf ihrer Lichtung. Die Räuber bedankten sich höflich, dann machten sie sich auf den Weg.
Es war ein langer Fußmarsch und Kralle fragte alle fünf Minuten: „Wann sind wir endlich da?“.
Die Räuber freuten sich schon auf das Fest, das gute Essen und die Kostbarkeiten, die sie dort stehlen wollten.
Als sie beim Stadttor ankamen, waren sie sich ihrer Sache sicher. Sie steckten noch mal ihre Köpfe zusammen und Baldrian flüsterte: „So, Kameraden, der Plan lautet: Zuerst essen wir und gewinnen das Vertrauen der Gäste und erst danach rauben wir sie aus.“ Die Räuber waren einverstanden, zogen ihre Kleider zurecht und fuhren sich durch die Haare. Baldrian richtete seine rote Schleife, dann gingen sie stolz durch das Tor in die Fichtenstadt.
Das große Fest war schon im Gange. Die Straßen waren gefüllt mit Gauklern, Akrobaten und Sängern. Es war ein buntes Treiben, die Damen hatten ihre schönsten Kleider an und die Herren trugen Smokings und manche sogar einen Zylinder auf den Kopf.
Die vier Räuber spazierten siegessicher durch die Menschenmassen und warfen verstohlene Blicke auf alles, was glänzte und glitzerte. Dabei fiel ihnen gar nicht auf, dass die Leute sie beobachteten und leise tuschelten.
Nachdem sie den Irrgarten aus engen Gassen, kleinen Brücken, Menschen und Gauklern durchquert hatten, erreichten die Räuber endlich den Hauptplatz. Eine große Tafel, gedeckt mit den besten Köstlichkeiten, stand in der Mitte des Geschehens. Tonne bekam Schweißperlen auf der Stirn beim Anblick der Geburtstagstorte. Hastig setzten sich die Räuber auf vier freie Plätze.
„Lasst das Festmahl beginnen“, dröhnte die Stimme des Bürgermeisters von der anderen Seite der Tafel. Baldrian zwinkerte seinen Kameraden zu und sie erinnerten sich an alles, was ihnen Oma Ulla beigebracht hatte.
Die Vier banden sich die Servietten vor die Augen und plärrten: „MAHLZEIT!“.
Die ältere Dame, die neben Tonne saß, fiel vor Schreck von ihrem Sessel und das junge Mädchen neben Olaf begann vor lauter Entsetzten zu weinen.
Und so nahm der Schlamassel seinen Lauf.
Tonne grabschte sich die ganze Torte und mampfte vor sich hin. Olaf kratze sich genüsslich mit der Gabel seinen Popo. Baldrian schlurfte so laut er konnte - nicht aus seinem Glas, sondern das Wasser aus der Blumenvase. Und Kralle wollte es besonders gut machen. Er aß mit dem Teelöffel von dem Teller seiner fassungslosen Sitznachbarin, schmatze so laut er konnte und brüllte ihr zwischendurch immer wieder "Mahlzeit" ins Ohr. Die Leute waren empört und mit der Zeit bemerkte auch der Bürgermeister, was da auf seinem Geburtstagsfest geschah. Vor lauter Wut lief sein rundes Gesicht puterrot an und seine Augen funkelten böse. „Ihr habt ja überhaupt keine Manieren! Wie seht ihr denn aus? Wisst ihr nicht, wie man sich auf einem Fest benimmt?“, brüllte er. „Waaache! Schmeißt diese Spaßvögel aus meiner Stadt. Sofooort!“
Die Räuber wussten gar nicht, wie ihnen geschah, als die Wachleute sie an den Armen packten und aus der Stadt schleiften. Plumps, landeten die Vier vor dem Tor, das dann mit einem lauten Knarren vor ihrer Nase geschlossen wurde.
„Was war denn das? Wir haben doch alles richtig gemacht?“, fragte Kralle zerknirscht.
„Erkannt haben sie uns aber nicht, sonst hätten die Wachleute uns nicht in die Stadt gelassen“, meinte Baldrian nachdenklich. „Da war etwas anderes Faul an der Sache. Aber was?“
„So ein Pech, die schöne Beute und satt bin ich auch nicht“, brummte Tonne. Es war nichts zu machen. Das Stadttor war verschlossen und die Räuber mussten wohl oder übel wieder in ihre Höhle zurück.
Traurig und hungrig trotteten die Vier durch den Wald. Aber als sie bei ihrer Höhle ankamen wartete schon jemand auf sie.
„Na, ihr habt aber lange gebraucht“, rief Oma Ulla ihnen entgegen. Sie saß bei der Feuerstelle mit einem breiten Grinsen auf ihrem faltigen Gesicht.
Als Baldrian sie sah, wurde ihm einiges klar. „Du warst schuld, dass die Leute und aus der Stadt geworfen haben! Du hast uns an der Nase herumgeführt und uns falsche Dinge gelehrt!“
Die Räuber schauten Oma Ulla entsetzt an.
„Gönnt eurer alten Oma doch eine kleine Freude“, kicherte Oma Ulla. „Ich hab euch auch was zu Essen mitgebracht.“ Da sahen die Räuber, dass über dem Feuerchen ein Braten hing und in dem Topf daneben rochen sie Linsensuppe. „Oh, meine Leibspeise“, freute sich Tonne. Dafür hatte er Oma Ulla sofort den Streich verziehen. Auch die anderen drei setzten sich um das Feuerchen und aßen Omas köstlichen Braten. Aber mit den Fingern und ohne Serviette vor den Augen, so wie sie es gewohnt waren. Dabei erzählten sie Oma Ulla von ihrem verrückten Erlebnis und sie lachten noch bis spät in die Nacht. An diesem Tag wurde den Räubern klar: lieber wollten sie ein langweiliges Räuberleben führen, als feine Herren zu werden.