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Der Straußmörder
„Sag mal, Johannes, ich mach grade das Programmheft für die Gala fertig. Ist das dein Ernst? Du willst deine Donau echt mit reinnehmen?“
„Ja, klar. Hast du ein Problem?“
„Nein, okay, ist deine Entscheidung. Aber du weißt selbst noch, wie deine eigenen Leute reagiert haben, als du sie ihnen vorgesetzt hast. Und vergiss nicht, ihr spielt das erste Konzert in Wien. Dort vergöttern sie ihren Johann Strauß.“
„Mandy, das funktioniert. Hundert Pro.“
„Wie gesagt, deine Entscheidung. Die Hefte kommen dann zusammen mit dem Merchandising.“
„Mandy, warum klärst du das eigentlich nicht mit der Agentur? Außerdem weiß außer uns hier und dir niemand von der neuen Fassung.“
„Was glaubst du, warum ich dich anrufe. Die müssen doch keinen Wind davon kriegen.“
„Okay, du hast recht. Du lässt aber im Programm nichts verlauten von wegen neue Fassung. Klar?“ Er wartete keine Antwort ab und legte auf.
„Das hat man davon, wenn man was neues probieren will“, sagte er genervt.
„Wie wär’s dann mit Ehrlichkeit? Sag doch den Leuten, hei, wir spielen die schöne blaue Donau in einer neuen Interpretation in fünf Achtel. Ich glaube, niemand reißt dir den Kopf ab. Aber du hast wahrscheinlich selber Angst.“
Johannes Blumenbinder, der Chef des Jugendsinfonieorchesters Dresden, sah seine erste Geigerin an und kam ins Stottern.
„Angst? Wer redet denn von Angst - haha - ich wollte nur eben - nichts vorher verraten.“
Sie zuckte nur mit den Schultern und lächelte ihn von der Seite an. „Ich meine ja nur, die Donau ist eines der Vorzeigewerke von Johann Strauß.“
Johannes räusperte sich verlegen und versuchte, die Situation zu überspielen. „Also noch mal das Ganze. Die Eröffnung bitte genau wie im Original. Schön getragen und leise und ausdrucksstark. Die Pauken und Becken zusammen mit den Bläsern pathetisch, und dann peppig in den Fünfer. Schaut alle auf mich, damit es keiner vermasselt.“
„Wie biste denn eigentlich drauf gekommen, den Walzer als Fünfer zu spielen? Das ist doch total schräg.“ Die Frage kam von Jenny, einer zierlichen Siebzehnjährigen mit schwarzen Locken und einem von Natur aus kirschroten Kussmund.
Johannes zog einen Stuhl heran und setzte sich seinem Orchester gegenüber.
„Das hab ich euch noch nie erzählt, ne? Ich war mal zu einem Chorkonzert in der Adventszeit, da sang so’n Gospelchor. Die hatten Kommet Ihr Hirten im Programm. Ist ja auch original im Dreivierteltakt. Ging ganz normal los und wechselte dann von Dreiviertel in einen Fünfachtel. Eins-zwei-drei-eins-zwei, Eins-zwei-drei-eins-zwei. Scheiße, dachte ich damals, das klingt ja geil. Und von da an hatte ich nur noch im Kopf, irgendwann was Verrücktes zu machen.“
„Und das muss jetzt zur Gala sein?“, fragte Jenny wieder. „Könnten wir das nicht erst mal bei einer internen Feierlichkeit vorstellen?“
„Nein“, sagte Johannes, „ihr seid so gut, dass das der Hammer ist. Das muss in die Öffentlichkeit. Und bis dahin haben wir noch zwei Proben. Deshalb fangen wir jetzt auch an.“
Er schob den Stuhl wieder zur Seite und gab den Einsatz.
Die Maschine landete pünktlich in Wien, der Bus wartete bereits für die Fahrt zum Konzerthaus in die Lothringerstraße. Johannes war in Hochform, sein Orchester würde in fünf Stunden auf der Bühne sitzen und eine Gala abliefern, wie sie Wien von einem Jugendorchester vorher nicht erlebt hatte. Als sie die Maschine verließen, zeigte sich nun doch bei den jungen Leuten eine gewisse Anspannung. Im Konzerthaus würde es noch eine Probe geben.
Jenny blieb neben Johannes stehen, als alle anderen schon in den Bus gestiegen waren.
„Warum steigst du nicht ein?“, fragte Johannes.
„Lass die Donau weg. Ich habe ein ganz mulmiges Gefühl dabei.“
„Was?“ Johannes war wie vom Blitz getroffen. „Warum denn? Wie kommst du denn darauf?“
„Das ist nicht mehr Johann Strauß.“
„Das ist nicht mehr original Johann Strauß. Aber das wissen wir doch. Alle Töne sind noch vorhanden. Gut, den einen oder anderen musste ich unterdrücken. Aber ihr seid doch auch begeistert. Das spüre ich doch, wenn ihr spielt.“ Er legte Jenny den Arm um die Schulter. „Steig ein und mach dir keine Sorgen. Das wird ganz großartig. Ich weiß das.“
Die Stühle und Notenpulte standen auf der Bühne. Backstage waren die Wangen gerötet und die Hände schwitzten vor Anspannung und Adrenalin. Johannes wagte einen Blick in den Saal.
„Ausverkauft. Der Saal ist ausverkauft. Kein Stuhl ist mehr frei.“
Johannes sah auf die Uhr, gab ein Zeichen und die Musiker gingen auf ihre Plätze, während das Publikum höflich applaudierte. Am Schluss ging er selbst hinaus und verbeugte sich.
Eine junge Frau kam und gab ihm ein Mikrofon in die Hand.
„Sehr verehrtes Publikum, meine Damen und Herren, liebe Musikfreunde. Wir sind sehr glücklich, heute bei Ihnen im schönen Wien und hier im Konzerthaus sein zu dürfen und danken Ihnen für Ihre Vorschusslorbeeren. Wir wollen heute Eulen nach Athen tragen, denn wir spielen Strauß in Wien.“
Lachen und Applaus. Johannes spürte, dass der Funke übergesprungen war.
Sie begannen mit Märchen aus dem Orient von Johann Strauß. Im Saal war es totenstill geworden. Der Klang des Orchesters schwebte im Raum, umschmeichelte die Zuschauer und nahm sie mit auf die Reise. Johannes hatte sich nicht geirrt, der Applaus war für das erste Stück stärker, als er zu hoffen gewagt hatte. Die Wiener hatten sie herzlich in Empfang genommen.
Nach der Pause kam Johannes mit klopfendem Herzen auf die Bühne zurück. Das nächste Stück war An der schönen blauen Donau in seiner modernen Bearbeitung. Das Publikum liebte die Musik, die sie bis jetzt gespielt hatten. Bliebe das so?
Johannes hob den Taktstock und ganz leise setzten die Geigen ein. Dann kamen die Posaunen dazu. Ganz sanft begann die Donau in ihrem Bett zu fließen, wurde langsam etwas stärker, Wellen schlugen, immer noch sanft, an die Ufer und schließlich fand sie ihren Rhythmus. Und noch ehe sie blau durch grüne und blühende Auen zu fließen begann, war dieses sanfte Schwingen zu Ende und die Geigen wurden hippelig und die Trompeten forderten zu einem ausgelassenen Tanz im Fünf-Achteltakt. Die Donau wurde wild und aufgewühlt und brodelte, bis sie aber schließlich am Ende doch wieder im Walzertakt beschwingt zur Ruhe kam.
Johannes hatte alles um sich herum vergessen. Das Orchester spielte, als sei es verzaubert. Alles kam zur rechten Zeit mit der passenden Intensität und die Töne schienen von Göttern gespielt zu werden.
Als der letzte Ton verklungen war, traute er sich nicht, sich umzudrehen. Die eingetretene Stille wurde zur Qual und unendlich lang und hatte doch nur Sekunden gedauert, bis der Applaus donnernd einsetzte. Johannes hätte vor Glück in die Luft springen können. Als er sich umgedreht und aus seiner tiefen Verbeugung wieder erhoben hatte, erblickte er eine kleine Frau, die auf die Bühne und direkt auf ihn zukam. Sie trug ein türkisfarbenes Kleid und an ihren angewinkelten linken Arm hatte sie ihre Handtasche gehängt. Sie hatte flinke Augen, in denen Tränen standen. Sie stand vor ihm und schaute ihn an.
Johannes beugte sich leicht zu ihr hinunter. „Gnädige Frau, würden Sie bitte wieder an Ihren Platz gehen? Das Konzert ist noch nicht zu Ende.“
Ihr kleiner Kopf wackelte leicht und die Tränen liefen ihr schließlich über die Wangen. Johannes war überwältigt, welche Wirkung sein Experiment erzielt hatte und wollte sie in die Arme nehmen. Doch sie kam ihm mit unerwartet fester Stimme zuvor:
„Junger Mann, da irren Sie sich. Sie haben soeben Johann Strauß ermordet!“
Dann drehte sie sich um, ging von der Bühne und verließ trippelnd den Saal.