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Der Strandspaziergang
Es geschah im Spätsommer 2007, als wir an die Nordseeküste fuhren, um Großmutter im Krankenhaus zu besuchen. Mit wir meine ich meine Mutter, meinen kleinen Bruder und mich.
Als wir nach einer gefühlten Ewigkeit das alte Haus erreichten, wurden wir von Benny, dem Jack Russel Terrier, begrüßt. Die Nachbarn von der gegenüberliegenden Straßenseite, ein älteres Ehepaar, waren so nett, sich bis zu unserer Ankunft um ihn zu kümmern.
Es war ein großes Haus, viel zu groß für eine einzelne Person, aber Großmutter lebte seit Jahrzehnten ganz alleine dort und schien damit ganz glücklich zu sein. Niemand hätte es in ihrer Gegenwart gewagt, das Wort 'Altersheim' auch nur in den Mund zu nehmen.
Während Mutter und Michael es sich im Erdgeschoss gemütlich machten, durfte ich mir ein freies Zimmer im ersten Stock aussuchen, alle bis auf eines.
Soweit meine Erinnerungen zurückreichten, war die Tür am Ende des Ganges verschlossen gewesen. Wie ich später erfuhr, handelte es sich um das Arbeitszimmer meines Großvaters, der lange vor meiner Geburt verstorben war. Ich hatte nie gefragt, warum unter all den alten Fotos kein einziges von ihm zu finden war. Es wurde nie über ihn geredet und ich hatte wohl angenommen, dass Großmutter ihn einfach vergessen wollte.
Noch am nächsten Morgen, gleich nach dem Frühstück, statteten wir ihr einen Besuch ab.
Ich erinnere mich noch an das gutmütige Lächeln, das uns begrüßte, als wir dieses steril-weiße Krankenzimmer betraten.
»Oma!«, rief mein kleiner Bruder, während er an mir vorbeistürmte und beinahe eine Blumenvase vom Tisch stieß.
»Jetzt pass doch auf!« , schimpfte ich.
Michael und Großmutter verstanden sich schon immer gut. Ich wollte mich nicht in das Gespräch mit ihrem Lieblingsenkel einmischen, daher hielt ich mich nach der Begrüßung lieber im Hintergrund.
»Sophie«, sagte sie plötzlich, während sie die Bettdecke zur Seite schob und auf den frei gewordenen Platz verwies.
»Komm, setz dich zu mir.«
Kaum hatte ich mich neben sie gesetzt, holte sie einen kleinen, glänzenden Gegenstand aus ihrer kastanienbraunen Handtasche und drückte ihn mir in die Hand. Ein Schlüssel?
»Das kannst du doch nicht-«, hörte ich Mutter protestieren.
Sag mir ja nicht was ich tun kann und was nicht.
Großmutter sagte es zwar nicht laut, aber es war offensichtlich, was sie mit ihrem Blick andeuten wollte.
Mutter schwieg.
Den Rest unseres Besuches passte ich auf Michael auf, während die Erwachsenen ihre Erwachsenengespräche führten.
An diesem ungewöhnlich warmen Abend machte ich mit Benny einen Spaziergang am Strand, während Mutter zusammen mit Michi einkaufen war.
Welle für Welle traf die Gischt auf das Ufer. Der frische Nordseewind sorgte für eine angenehme Brise. Ich ließ meinen Blick über die hypnotisierende Dünenlandschaft schweifen und bemerkte in meiner Geistesabwesenheit nicht, wie sich Benny immer weiter von mir entfernte. Dieser dumme Hund hatte schon immer seinen eigenen Kopf. Es kam, wie es kommen musste. Mit einem Ruck rutschte die Leine aus meiner Hand und glitt über den sandigen Boden. Ich schaffte es gerade noch den Haltegriff zu packen, blieb dabei jedoch mit der rechten Sandale stecken und landete schließlich mit dem Gesicht im kalten, feuchten Sand. Während ich die Leine in der einen Hand fest umklammert hielt, versuchte ich mit der anderen den klebrigen Dreck aus Haar und Kleidung zu entfernen, vergebens.
Ich richtete mich wieder auf und blickte auf das weite Meer vor mir, doch etwas war jetzt anders. Nein, unmöglich, das ist...
Ich dachte zuerst es sei eine Fata Morgana, aber für eine Fata Morgana wirkte es viel zu echt.
Wo nichts als Meer sein sollte, ragten in der Ferne Landschaften empor, die sich beinahe über den gesamten Horizont erstreckten. Schneebedeckte Berge im Westen, grünes Land im Osten. Hinter den Wäldern ragte ein strahlender Leuchtturm in den Himmel. Moment, das war kein Leuchtturm! Auf die Entfernung fiel es mir schwer die Größenverhältnisse einzuschätzen, aber was auch immer es war, es muss wesentlich größer und höher gewesen sein als ein Leuchtturm. Von der Spitze ging ein kontinuierliches, intensives Licht aus. Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter. Hatte ich mir etwa den Kopf ernsthaft verletzt? War ich Alice im Wunderland oder hatte ich das Tor zu Narnia entdeckt?
Ich wollte gerade mit meinem Handy ein Foto machen, als ich plötzlich aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm, die mich zusammenschrecken ließ.
Hinter mir stand jemand.
»Kein Grund beunruhigt zu sein.«
»Äh... Hallo?«, grüßte ich leicht verunsichert, und fragte mich, ob er sich auf diese gewaltige Landmasse bezog, die aus dem Nichts aufgetaucht war, oder auf sein ebenso plötzliches Erscheinen inmitten der Abenddämmerung, die inzwischen hereingebrochen war. Ein faltiges, vernarbtes Gesicht blickte mir entgegen.
Der Fremde trug eine elegante, bordeauxrote Uniform und ein Paar dicke, schwarze Stiefel mit metallisch glänzenden Vorderkappen. In seiner linken Hand hielt er einen Spazierstock mit Goldgravur.
»Dieses Amulett,«, er zeigte auf meine Halskette, »wo hast du es her?«
Ich nahm den Edelstein, der um meinen Hals hing, zwischen die Finger und betastete ihn. Sein Blick war immer noch darauf fixiert. Normalerweise hätte ich mich unwohl dabei gefühlt, von einem Fremden grundlos Dinge gefragt zu werden, aber in seiner Art lag etwas Beruhigendes und Vertrautes.
»Oma hat es mir geschenkt.«
Tatsächlich hatte es sich in einer Schatulle befunden, im kleinen Tresor im Wohnzimmer, welcher sich mit dem Schlüssel öffnen ließ, den sie mir gegeben hatte.
»Mm... verstehe, verstehe...«
Ich kann mich immer noch an den Blick in seinen Augen erinnern. Es war wirklich schwierig, ihn einzuschätzen. War es Freude? War es Enttäuschung? In ihnen spiegelte sich etwas wieder, etwas, das sich nur schwer fassen ließ. Zu diesem Zeitpunkt war ich nicht wirklich in der Lage meine Gedanken zu sortieren, später blieb ich nächtelang wach und dachte darüber nach. Irgendwann bin ich wohl zum Schluss gelangt, dass es sich um Sehnsucht gehandelt haben muss.
Benny war in der Zwischenzeit ganz von alleine zurückgekehrt, erschöpft von seinem kleinen Ausflug.
Der Fremde schüttelte kurz den Kopf und atmete die Meeresluft tief ein.
»Dieses Amulett... trage es immer bei dir. Verliere es nicht. Es ist...«
Er hob den Kopf und ließ seinen Blick ein letztes Mal in die Ferne schweifen, auf das Gebilde, dessen strahlendes Licht immer noch durch die Abenddämmerung schien.
»Es ist wie ein Leuchtturm,«, sagte er. »ein Licht in der Dunkelheit, das dir den richtigen Weg weist.«
Ich wusste zwar nicht, was das genau bedeuten sollte, aber ich spürte, dass dieser alte Mann vor mir nicht verrückt war. Seine Haltung war so ruhig, sein Blick entschlossen. In diesem Moment schien mir alles möglich. Über der Landmasse in der Ferne hatten sich in der Zwischenzeit finstere Gewitterwolken angesammelt.
»Ein Sturm zieht auf. Du machst dich jetzt besser auf den Weg.«
Er kehrte mir den Rücken zu.
Das ferne Donnergrollen hinter mir wurde lauter und schwere Regentropfen fielen vom Himmel.
»Warten Sie!«
Ich hatte so viele Fragen, die nach einer Antwort verlangten.
»Können Sie mir sagen, was das dort drüben ist?« Ich zeigte auf das leuchtturmartige Gebilde, während mir meine nassen Haare gegen das Gesicht klatschten.
»Es ist besser, wenn du es nicht weißt.«
Ich stellte die nächste, naheliegende Frage: »Wer sind Sie?«
Keine Antwort. Das Gewitter kam immer näher. Benny fing an zu bellen und an der Leine zu zerren.
Der Fremde drehte sich ein letztes Mal zu mir. Bis heute verstehe ich nicht, was er mir damit sagen wollte, als er mit seinen Lippen das Wort »Danke« formte.
Mehrere Lichtblitze hinter mir tauchten die Landschaft in grelles Licht und erzeugten lange Schatten. Ich wirbelte herum. Ohrenbetäubender Donner ließ die Luft vibrieren. Ein Blitz hatte gefährlich nahe eingeschlagen. Der Regen wurde stärker.
Als ich mich wieder umdrehte, war der alte Mann verschwunden. Das Meer war wieder nur ein Meer, nur Wasser und Wellen, so weit das Auge reichte.
»Hey!! Was macht ihr hier! Verschwindet!«, brüllte ein Mann mit Warnweste aus der Ferne.
Ich hatte mir fest vorgenommen, Großmutter zu fragen, was es mit diesem Amulett auf sich hat, aber dazu sollte es nicht mehr kommen. Noch in der darauffolgenden Nacht kam der Anruf vom Krankenhaus. Sie hatte die Operation nicht überstanden. Vor wenigen Stunden saß sie putzmunter neben uns, und jetzt war sie für immer fort.
Es war eine unruhige Nacht. Mutter hatte versucht es ihm schonend beizubringen, aber es dauerte noch eine ganze Weile, bis Michael einschlief. Während sie noch in der Küche telefonierte, ließ ich die kleinen Hände los und deckte ihn zu.
Dicke Regentropfen trommelten gegen das Fenster, der Wind peitschte durch die Bäume, der Sturm tobte. Soweit meine Erinnerungen zurückreichten, war die Tür am Ende des Ganges verschlossen gewesen, doch dieses Mal hatte ich den Schlüssel. Ich fand ihn im Tresor, neben der Schatulle mit dem Amulett. Genau genommen waren es die einzigen Gegenstände, die sich im Tresor befanden, abgesehen von ein paar alten Dokumenten und Urkunden.
Ich drehte den Schlüssel. Ein Klicken war zu hören. Vorsichtig drückte ich den Türklinke nach unten.
Mit einem lauten Knarren öffnete sich die Tür.
Ich versuchte möglichst keinen Staub aufzuwirbeln, während ich durch das dunkle Zimmer schlich. Der Lichtschalter funktionierte nicht und der Schein der Straßenlaterne war durch das stark verschmutzte Fenster kaum zu erkennen. Glücklicherweise funktionierte die Lampe auf dem Schreibtisch noch.
Unter den vielen Notizbüchern und Mappen, die sich im Zimmer stapelten, stach ein Objekt ganz besonders hervor. Über einem geprägten Wappen auf der Vorderseite funkelten goldfarbene Schriftzeichen, eingebettet in einer smaragdgrünen Schlangenverzierung. Ich wusste zwar nicht, was sie bedeuteten, aber es sah irgendwie wichtig aus. Die Mappe war wesentlich schwerer als erwartet und als ich sie öffnete, glitt ein altes Foto heraus.
Im Schein der Lampe lächelte mir ein junges Pärchen entgegen. Die Dame zur Linken war, und daran bestand kein Zweifel, meine Großmutter in jungen Jahren, und der Mann, dessen Schulter sie umklammert hielt, trug eine bordeauxrote Uniform.