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Der Strand von Cofete
Es war ein kalter Tag im April, als ich mit Holger zu einem Kurzurlaub aufbrach. Wir hatten bei einem Last-Minute Anbieter eine Woche Fuerteventura gebucht und freuten uns darauf endlich ein bisschen Sonne zu genießen. Die Reise verlief ruhig und nach Plan. Ich habe immer Angst, dass mein Koffer nicht dort ankommt, wo ich lande, aber entgegen aller Befürchtungen waren unsere Koffer da und weil wir statt Transfer einen Mietwagen gebucht hatten, waren wir auch recht zügig am Hotel. Wir verbrachten die ersten beiden Tage am Strand mit Sonnenbaden, Lesen und Schwimmen.
Am dritten Tag machten wir uns auf, um zur Südspitze der Insel zu fahren und zum berühmten Strand von Cofete, von dem in unserem Reiseführer ein wunderschönes Foto abgebildet war. Es gab zwar Warnungen vor gefährlichen Unterströmungen, die selbst geübte Schwimmer ins Meer hinausziehen können, aber der Sand sah toll aus. Ganz hell und feinkörnig.
„Brauchen wir eine Karte?“ fragte Holger.
Ich verneinte.
„Meine Güte, das ist eine Insel. Soweit können wir uns doch gar nicht verfahren. Außerdem haben wir diesen Übersichtsplan der Insel vom Autovermieter und die Schilder an der Straße.“
Holger setzte den Mietwagen gekonnt aus der Parklücke und fuhr los.
„Ich bin froh, dass wir den Geländewagen genommen haben. Das Letzte was ich brauche ist Ärger im Urlaub.“
Klar, mit den normalen Mietwagen ist es nicht erlaubt, zur Südspitze von Fuerteventura zu fahren, da die Straßen dort nicht asphaltiert sind.
„Lass uns in Costa Calma nochmal anhalten, dann nehmen wir uns aus dem Supermercado noch alles für ein Picknick am Strand von Cofete mit. Was hältst du davon?“
Ich war sofort begeistert von der Idee, denn ich liebe Picknick. Hauptsache ungezwungen. Nachdem wir alles, was wir für ein Picknick brauchen, beisammen und in die Kühltasche geladen hatten, erreichten wir schnell das Ende der asphaltierten Strecke.
Der kleine Geländewagen sprang und holperte über die Schotterpiste und Holger hatte augenscheinlich etwas Mühe ihn unter Kontrolle zu halten.
„Meine Güte, fahr doch ein bisschen langsamer, wir sind schließlich nicht auf der Flucht.“
„Du hast ja recht“, gab er zu, „ich bin wohl noch nicht ganz im Urlaub angekommen.“
Er lächelte mir zu.
„War ein bisschen zu viel Stress in der letzten Zeit, um ihn nach zwei Tagen schon komplett abzulegen.“
Ich grinste, „aber wenigstens können wir uns hier nicht verfahren, oder?“
„Das werde wohl nicht mal ich schaffen“.
Die Piste zog sich wie ein schmales Band an der Küste entlang und hatte keinerlei Gabelungen oder Kreuzungen.
Wir rumpelten über die Strecke und entdeckten hinter eine Kurve eine von weitem sichtbare Abzweigung.
„Da ist eine Kreuzung“.
Jetzt war ich es, die unwillkürlich lachen musste.
„Der ist gut! DAS nennst du eine Kreuzung?“ Ich sah ihn gespielt fragend an.
„Na gut, was man so dafür halten kann. Aber schau, da steht ein Straßenschild.“
Und tatsächlich stand an der Abzweigung ein kleines, verwittertes Holzschild, auf dem wir in Großbuchstaben eingeritzt, die Buchstaben „COFETE“ entziffern konnten.
„Na, also“, Holger war sichtlich erleichtert, den Weg auf Anhieb gefunden zu haben. Er hasst kaum etwas mehr, als sich zu verfahren. Allerdings wurde die Strecke nun noch holpriger. Große Auswaschungen und Schlaglöcher wechselten sich mit losem Geröll und Steinen mitten in der Fahrspur ab. Wir wurden ordentlich durchgeschüttelt, obwohl Holger nun wirklich langsam fuhr.
„Weißt du was ich merkwürdig finde?“ fragte er mich unvermittelt.
Ich wandte meinen Kopf zu ihm, „was denn?“
„Die Urlauber, die hier trotz des Verbots mit normalen Mietwagen rumfahren. Wenn die hier mit einem geplatzten Reifen liegen bleiben, dann gibt das doch richtig Ärger. Erstens weil die anderen kaum noch dran vorbei kommen und zweitens mit dem Autoverleiher.“
Ich ahnte, was er mir zwischen den Zeilen eigentlich sagen wollte. Er war genervt, wegen der relativ vielen Menschen hier. Er hatte vermutlich gehofft, dass es hier einsamer war und wir vielleicht sogar etwas Erotik am Strand ausleben konnten, ohne dabei Zuschauer zu riskieren.
Ich gab ihm Recht und wir erreichten einen Hügelkamm, der plötzlich den Blick auf den wunderschönen Sandstrand von Cofete vor uns preisgab. Von oben konnte man die Küstenlinie kilometerweit überschauen. Wir holperten auf der Piste wieder bergab und erreichten den Strand ohne Zwischenfälle.
Aber es war, wie von Holger befürchtet. Es standen zwar nur vierzehn Autos auf dem Parkplatz vor dem Strandzugang geparkt und der Strand war wirklich sehr lang, aber allein sein war nicht drin.
Wir suchten den Horizont mit unseren Augen ab und plötzlich hatte Holger eine Idee.
„Hast du auf dem Weg hierher den kleinen Abzweig oben auf der Hügelkette gesehen?“ fragte er mich.
Ich schüttelte mit dem Kopf, „nein, ist mir nicht aufgefallen.“
„Klar“, meinte er augenzwinkernd, „da war ja auch schon der Strand von oben zu sehen und da hast du für nichts anderes mehr Augen gehabt.“
Ich knuffte ihn in die Seite, aber wir waren uns bereits einig, dass wir versuchen wollten, einen Strand oder Strandabschnitt zu finden, den wir ganz für uns allein haben konnten.
Also wendete Holger das Auto und wir suchten nach dem Abzweiger. Holger fand ihn tatsächlich wieder und als er den Wagen hineinlenkte, bekam ich ein bisschen Angst.
„Wenn wir hier irgendwo runterfallen, dann finden die uns doch erst in ein paar Tagen!“
Er nahm seinen Blick nicht von der Piste, „wir fallen hier nirgendwo runter“.
Er sollte Recht behalten und als wir den Strand erreichten, ließ er uns die holperige Anfahrt umgehend vergessen. Feiner heller Sand, eine seichte Brandung und - ganz für uns allein. Herrlich, ein Urlaubstraum. Wir umarmten uns lange und innig, den Blick auf dem Atlantik gerichtet.
Schließlich lösten wir uns voneinander, nahmen unsere Kühltasche und spazierten durch den feinen Sand in Richtung von ein paar Felsen, die auf dem Strand lagen. Dort angekommen, packten wir unser Picknick aus und ließen uns auf einem großen Strandtuch nieder.
Die Stimmung war unbeschreiblich entspannt und nach, oder eigentlich noch während des Essens begannen wir uns zu lieben. Der leichte Wellengang, der warme Wind, der uns zärtlich umfing, alles das was man sich von einem Urlaub nur wünschen kann. Holger lag auf mir und während er in mich eindrang, konnte ich den warmen Sand unter dem Strandtuch spüren, der sanft unter meinem Gesäß nachgab. Ich schloss die Augen und war vollkommen in der Wohligkeit der Situation gefangen, als ich plötzlich ein merkwürdiges Geräusch wahrnahm.
‚Da isst jemand Chips mit offenem Mund - eklig…‘, fuhr es mir durch den Kopf.
„Oh nein, wir haben Zuschauer!“
Erschrocken riss ich die Augen auf und drehte den Kopf nach hinten, aber ich konnte nichts erkennen, das nicht vorher auch schon dagewesen war. Holger stoppte mitten in seiner Bewegung.
„Was ist?“, fragte er verblüfft und folgte meinem Blick.
„Hast du nichts gehört?“, fragte ich unsicher.
„Nein, was denn?“
„Äh, Chips…”. Mir war bewusst, wie verrückt das in Holgers Ohren klingen musste
„Das hat sich angehört, als ob da jemand Chips mit offenen Mund isst“, antwortete ich unsicher.
„Oh Mann. Das war’s dann“, stöhnte Holger und rollte sich von mir runter.
„Es tut mir leid. Aber ich habe da was gehört.“
„Du bist ein Stimmungskiller, aber ich liebe dich trotzdem“.
Dabei grinste er schief, da er mich offensichtlich nicht ernst nahm. Er zog sich seine Badehose über und stand auf.
„Und weil ich dich liebe, gehe ich jetzt da gucken.“, sagte er über die Schulter und stapfte durch den Sand auf die Felswand zu.
Ich zog mir flugs meinen Bikini über und wollte ihm folgen, aber er winkte ab, „ich bin direkt wieder da, mal sehen, ob wir hier einen Spanner haben oder uns der Wind einen Streich spielt.“ „Pass auf dich auf! Wenn es ein Spanner ist, wer weiß, wie krank der im Kopf ist.“
Er lachte und warf mir einen Kuss über die Schulter zu.
Zuerst stand ich noch unentschlossen da, dann ließ ich mich zurück auf das Badetuch fallen und machte mich mit einem Messer über die Galia-Melone her, die wir uns mitgebracht hatten. Nachdem ich sie halbiert, geschält und in Stücken auf einen Teller geschichtet hatte, hob ich meinen Blick und suchte die Felswand ab, die sich in kurzer Entfernung vom Strand schätzungsweise 50 Meter in die Höhe hob.
Ich konnte Holger nirgendwo entdecken.
„Mist, ich kann doch die Melone nicht den Fliegen überlassen und dich suchen gehen“, fluchte ich leise in mich rein und fing an die Melonenstücke zu essen, während ich den Strand und die Felsen mit den Augen nach irgendeiner Bewegung absuchte.
‚Selbst wenn er mal pinkeln musste, wo bleibt er nur‘?
Unbehagen breitete sich hinter meiner Stirn aus. Ich stand auf, um einen besseren Überblick zu haben, was natürlich bei einem so flachen Strand hirnlos ist, weil es überhaupt keine Verbesserung bringt.
„Holger“, rief ich, „Holger, wo bist du? Mach mir doch keine Angst!“
‚Merkwürdig, das ist so überhaupt nicht seine Art‘, dachte ich, ‚aber vielleicht ist er ja doch sauer wegen des interruptus‘.
„Mist“, fing ich jetzt lauthals an zu fluchen und ging ein paar Schritte in Richtung Felswand. „Holger“, brüllte ich abermals, „Mensch mach keinen Scheiß! Komm bitte wieder her!“
Aber es passierte nichts. Gar nichts. Die Wellen plätscherten weiterhin gegen den Strand und der Wind säuselte unverändert um meine Beine.
‚Hat sich da was bewegt‘?
Ich meinte eine kurze, schnelle Bewegung wahrgenommen zu haben. Etwa einen knappen Meter über dem Sand war eine dunkle Stelle im Fels, die man aufgrund der natürlichen Felsformation auf den ersten Blick gar nicht wahrnahm.
‚Ob Holger da rein ist‘? fragte ich mich und im Nachhinein erscheint es mir unglaublich naiv, dass ich schnurstracks darauf zumarschierte.
Trotzig, weil ich langsam, aber sicher sauer wurde.
So hatte ich mir das definitiv nicht vorgestellt.
Ich war noch etwa 10 Meter von der Stelle entfernt, als ich wieder ein merkwürdiges Geräusch hörte. Es war vorher vom leisen Rauschen der Brandung vollkommen übertönt worden.
Ein Rasseln oder Schaben, das mich an eine Grille denken ließ.
In diesem Augenblick sah ich, dass die dunkle Stelle im Fels tatsächlich ein Loch in der Wand war. Vielleicht der Zugang zu einer Höhle?
„Holger…?“
In den Schatten hinter der Felsöffnung registrierte ich eine extrem schnelle Bewegung.
„Was zum Teuf…“, weiter kam ich nicht, denn die Bewegung hatte mich bereits erfasst.
Ich wurde nach hinten in den Sand geworfen und schaffte es nicht mal mehr die Arme schützend vor mein Gesicht zu heben. Noch bevor ich schreien konnte, spürte ich einen brennenden Schmerz in meinem Bauch, der von einem langen, schmalen Stachel herrührte und mitten im meinem Bauch steckte. Über mir erhob sich ein gigantisches Insekt so nah und so groß, dass ich den Himmel nicht mehr sehen konnte.
Von dem Stich im Bauch breitete sich schlagartig ein Gefühl aus, als würde mein Körper mit heißer Säure angefüllt, die eine sofortige Lähmung bewirkte.
Ich versuchte zu schreien, aber meine Stimme versagte ihren Dienst. Mein Herz schlug wie wild und mein ganzer Körper begann vor Schmerz zu zittern.
Ich lag so hilflos auf dem Rücken, als wäre ich ab dem Hals querschnittsgelähmt. Wobei ich meinen Körper allerdings noch deutlich fühlen konnte, denn in jeder Faser brannte es wie Feuer. Plötzlich konnte ich den Himmel über mir wieder sehen. Und die Sonne blendete mich, so dass ich die Lider der Augen zusammenkniff.
‚Was…‘, dachte ich panisch und wollte meinen Kopf drehen, um in die Richtung zu sehen, in die das riesige Vieh verschwunden war, aber meine Halsmuskeln versagten komplett.
‚Wann hat es eigentlich den Stachel aus meinem Bauch gezogen? Blute ich?
Was geht hier überhaupt vor und vor allem: WAS IST DAS FÜR EIN VIEH‘?
‚Wo ist es hin‘?
Die Frage wurde mir schneller beantwortet, als mir lieb war, denn das Insekt war schon wieder über mir.
‚Nein, das ist so eklig! Das kann doch nicht wahr sein! Das kann…‘
In diesem Moment packte mich das riesige Insekt mit seinen Kieferwerkzeugen und hob mich scheinbar mühelos an. Schmerz und Panik überfluteten mich zur selben Zeit, aber ich konnte mich nicht bewegen, nicht wehren. Ich hing in den Klauen dieses ekligen Viechs wie ein nasser Sack, vollkommen hilflos und ausgeliefert. Kein Laut kam über meine Lippen.
‚Holger, verdammt, wo bist du? Hilf mir! Ich will nicht sterben…‘
Dann umfing mich Dunkelheit. Nicht, dass ich bewusstlos geworden wäre, nein, das Insekt hatte mich in die Höhle geschleppt und meine Augen brauchten offensichtlich unendlich viel länger, um sich an die Dunkelheit anzupassen, als die meines Angreifers.
Nur langsam konnte ich Schemen und Umrisse erkennen, als das Ungetüm mich plötzlich fallen ließ.
Hart schlug ich auf dem Felsboden auf und wurde ohnmächtig.
‚Was für eine Scheiße…‘ Als ich wiederwillig wieder zu mir kam, lag ich auf dem Bauch, den Kopf zur Seite gedreht. Mühsam öffnete ich die Augen und verlor vor Entsetzen fast den Verstand.
In einer Entfernung von ungefähr zwei Metern lag Holgers Körper. Er lag da in seiner Badehose auf dem Rücken und ein breiter Streifen getrocknetes Blut klebte an seiner Seite.
‚Das muss passiert sein, als das Vieh seinen Stachel rausgezogen hat‘. Mein Blick blieb an einer weißen, irgendwie transparent wirkenden Kugel hängen, die mitten auf Holgers flachem Bauch lag. In etwa so groß wie ein Fußball. Er atmete seicht, das konnte ich am langsamen Auf und Ab der Kugel erkennen.
‚Er lebt!‘
Da sein Blick geradewegs in Richtung Höhlendecke ging, konnte ich nicht erkennen, ob er bei Bewusstsein oder ohnmächtig war. Erneut versuchte ich ein Geräusch zu machen, aber es ging nicht. Außer Atmen war nichts möglich.
‚Sterbe ich? Fühlt sich so Sterben an?‘
Ich lag hilflos da und spürte wie mir vor Angst und Verzweiflung Tränen aus den Augen liefen.
Eine Bewegung in der fußballgroßen Kugel auf Holger riss mich abrupt aus meinem Selbstmitleid. Ich starrte mit tränenverschleiertem Blick in Richtung Holger und noch bevor sich mein Blick vollkommen klärte, war ich mir sicher, dass sich da in der Kugel was bewegt.
Mir wurde schlagartig übel, als mir klar wurde, woran mich das alles erinnerte.
Grabwespen, so hatte ich es vor langer Zeit mal im Biologieunterricht gelernt, übermannen Spinnen, die sie in ein Versteck schaffen. Dann legen sie ein Ei auf dem betäubten, aber nicht getöteten Opfer ab. Sobald der Nachkomme geschlüpft ist, hat er direkt die erste Nahrung zur Verfügung. Aber Grabwespen sind klein, total klein, nur wenige Millimeter groß…!
Was hätte ich in diesem Moment dafür gegeben, mich übergeben zu können. Insbesondere als ich dann auch noch realisierte, dass ich auf meinem Rücken ebenfalls ein Gewicht spürte, nicht wirklich schwer, aber da.
‚Ach du Scheiße, das kann doch nicht wahr sein, dass DARF nicht wahr sein! Ich will das nicht! Verdammt, Holger! Tu doch was!
Los, beweg dich! Wach auf und beweg dich! Bitte sei nicht gelähmt, sondern nur ohnmächtig, bitte, bitte, bitte…!‘
Wie zur Antwort, gab die Kugel auf seinem Bauch ein leises Plopp von sich und fiel dabei in sich zusammen. Hervor kroch eine Larve, die aussah, wie eine gurkendicke, aber viel zu kurze Raupe.
‚Was um Himmels willen…?‘
Ich musste hilflos mitansehen, wie diese ekelerregende Larve eins ihrer Enden an die nackte Haut meines Mannes andockte und mit schmatzenden Geräuschen zu saugen begann.
Mir wurde übel und ich hatte diesen Druck in der Magengrube, aber mein Magen weigerte sich weiterhin standhaft dem nachzukommen. Nur ein saurer Hauch entwich meinem Mund.
Die Larve saugte jetzt stärker an Holgers Körper und ich wußte nicht, ob sie nur Fettgewebe absaugte, um die Lebensvorgänge des Opfers noch zu erhalten, oder ob sie schon bei den nicht absolut lebensnotwendigen Organen angekommen war, aber von den Vibrationen, die sie dabei erzeugte, drehte sich Holgers Kopf langsam, fast wie bedächtig zu mir und ich konnte sehen, dass seine Augen weit geöffnet waren.
‚Himmel, er war bei bei Bewusstsein und er bekam das alles mit. Mein Gott, ich wollte nicht wissen, was er für Schmerzen hatte…‘
Er sah mir genau in die Augen und sie füllten sich mit Tränen.
Wieder stieg mir ein saurer Geschmack in die Kehle und während ich verzweifelt versuchte, Holgers Blick standzuhalten, um ihm in seiner Not irgendwie beizustehen und ihn nicht alleine zu lassen, wurde mir schwarz vor Augen und ich verlor erneut das Bewusstsein.
Als ich wieder zu mir kam und die Augen öffnete, war es vollkommen dunkel geworden.
Ich hörte sofort wieder dieses saugende und schmatzende Geräusch, das die noch leiser gewordenen Atemgeräusche von Holger fast völlig übertönte.
‚Es ist noch immer nicht vorbei‘, dachte ich und hob den Kopf leicht an.
Die Erkenntnis durchfuhr mich wie ein Blitz.
Ich konnte meinen Kopf bewegen.
Meine Nackenmuskeln arbeiteten wieder.
Nun gut, nicht richtig, aber ich hatte eine Möglichkeit mich minimal zu bewegen.
Sofort trat mir der kalte Schweiß auf die Stirn und ich konzentrierte mich verzweifelt auf meinen Körper. Versuchte die Arme zu bewegen, oder wenigstens einen Arm.
Aber es ging nicht, ich bekam nicht mal ein Zucken hin.
‚Mir läuft die Zeit davon‘, dachte ich und versuchte das Gewicht der Kugel auf meinem Rücken zu orten. Aber so sehr ich mich auch bemühte, ich fühlte das Gewicht nicht mehr.
‚Oh mein Gott, sie ist geschlüpft und saugt bereits an mir. Deshalb fühle ich die Kugel nicht mehr. Warum tut das nicht weh?‘
Mit äußerster Konzentration hob ich wieder meinen Kopf an, wendete ihn leicht zur Seite, aber ich hörte keine weiteren schmatzenden oder schlürfenden Geräusche, außer denen von der Larve auf Holger.
Lange Zeit lag ich so da, starrte in die undurchdringliche Schwärze und wartete darauf, dass die Larve mich vielleicht von der Seite ansaugen oder auf mich rauf robben würde, um sich dann in meinem Rücken festzusaugen.
Ich konnte nichts tun, außer daliegen und mich abwechselnd auf meine Beine oder meine Arme zu konzentrieren und zu versuchen, dabei nicht verrückt zu werden.
Die Stunden vergingen zäh. Ich machte keine Fortschritte. Sollte ich einfach aufgeben? Aber was war mit Holger? Vielleicht konnte ich uns noch irgendwie retten. ‚Das kann es doch nicht gewesen sein, das darf nicht sein, ich will leben, ich will nicht, dass es das jetzt war...‘
Irgendwann hatte ich das Gefühl, dass ein ganz zarter Hauch von Licht die Höhle zu ertasten begann. Zuerst so unmerklich, dass ich mir nicht sicher war, ob ich mir das nur einbildete, dann aber zunehmend stärker und als ich meinen Blick hob und zu Holger hinüberschaute, befiel mich ein nicht für möglich geglaubtes Grauen.
Sein Körper und Gesicht waren grau und eingefallen.
,Wie bei Onkel Markus, damals auf der Krebsstation, kurz vor Ende…. Nein, oh bitte nein! Holger…!‘
Seine Arme und Beine nur noch Haut und Knochen, aber seine Augen hatten mich noch im Blick.
Ich stöhnte auf, als ich realisierte, dass er noch immer bei Bewusstsein war.
In dem Moment weiteten sich seine Augen und ich konnte deutlich Hoffnung in ihnen lesen.
Erst dadurch wurde mir klar, dass ich einen Laut von mir gegeben hatte.
Ein Stöhnen nur, aber immerhin.
Ich dachte erneut ganz fest an meine Arme und sie zuckten tatsächlich.
Ganz langsam, aber sie bewegten sich!
Ich konnte sie über den Steinboden ziehen und zu meinem Gesicht hin bewegen.
Ich starrte auf meine Hand, als hätte ich sie nie zuvor gesehen.
Dann bewegte ich die Beine.
Es war unendlich mühsam und ging sehr langsam, aber ich gewann die Kontrolle zurück.
‚Schneller, Himmel nochmal, das muss schneller gehen. Bitte, Holger, bitte nicht sterben, ich hole einen Rettungswagen und alles wird gut, bitte halt durch, bitte stirb nicht!‘
Ich zog meine Arme zu meinem Körper, atmete zwei oder dreimal durch und versuchte mich hochzustemmen.
Es gelang nicht beim ersten Mal, aber schließlich konnte ich mich schwankend in eine sitzende Position bringen.
Eine Art Triumph durchströmte mich und da sah ich auch die Kugel, die auf meinem Rücken gelegen hatte. Sie musste irgendwie von mir runtergerollt sein und die geschlüpfte Larve hatte sich offensichtlich „verirrt“, jedenfalls schien sie in die falsche Richtung gerobbt zu sein und lag jetzt irgendwie eingefallen, vertrocknet und bewegungslos gut drei Meter von mir entfernt auf dem Boden.
‚Ha, das geschieht dir recht, du Arschloch‘, dachte ich und wendete mich angeekelt ab.
Mein Blick fiel wieder auf Holger.
Seine Augen waren leer, sein Atem ging nicht mehr.
‚Nein, bitte Holger, oh nein, bitte nicht, lass mich nicht allein!‘ Tränen liefen mir über die Wangen. Aber dann stieg ein neues Gefühl in mir auf. Hass auf das widerliche Ding auf Holgers Bauch, das immer noch an seinem Körper hing und saugte und schmatzte und mittlerweile halb in ihm versunken war.
Ich sah mich kurz um und mein Blick fiel auf einen Stein.
‚Faustgroß, genau richtig.‘
Meine Hand gehorchte mir.
Sie packte den Stein und schleuderte ihn unbeholfen in Richtung des Schmatzens.
Der Stein verfehlte die Larve um gut einen Meter.
Ich heulte auf, als hätte ich mich verletzt - und verfiel dann in eine Schreckstarre.
‚Was wenn das Riesenvieh noch da draußen ist?
Wenn es mich gehört hat?‘
Ich schluckte zweimal trocken, bevor ich wieder atmen konnte.
Ich lauschte in die Stille und auf das schier immerwährende Schmatzen der Teufelsbrut.
Von draußen rührte sich nichts.
Es dauerte bestimmt noch eine halbe Stunde, bis ich auf allen vieren unbeholfen und steif in Richtung des Lichts kriechen konnte, das durch die Öffnung in die Höhle drang.
Ich wollte mich von Holger verabschieden, aber ich konnte es nicht. Ich schämte mich für den Ekel, den ich vor seinem Leichnam und diesem furchtbaren Ding darauf empfand. Als Abschiedsgruß brachte ich nur ein ersticktes Schluchzen zustande.
An der Grenze zum Licht lugte ich ganz vorsichtig ins Freie, aber ich konnte nichts erkennen, das bedrohlich wirkte.
‚Also dann. Wann, wenn nicht jetzt?‘
Ich zitterte am ganzen Körper vor Anstrengung, als ich unbeholfen ins Freie kletterte.
Holger war tot, aber ich noch nicht.
So schnell ich irgendwie konnte, schwankte ich über den weichen Sand, fiel immer wieder der Länge nach hin, kroch auf allen Vieren weiter, rappelte mich ein ums andere Mal auf und erreichte nach einer gefühlten Ewigkeit das Auto, das immer noch auf dem Übergang zwischen Piste und Strand geparkt stand.
Erst jetzt fiel mir ein, dass Holger den Schlüssel hatte.
Mir wurde schwindelig und ich übergab ein wenig Magensäure.
‚Ich kann da nicht wieder hin.
Ich kann da nicht wieder hin‘.
Immer wieder hämmerte dieser Satz durch meinen Kopf, bis ich mich schließlich umdrehte und ziemlich weit entfernt das Strandtuch erkennen konnte, das uns vor scheinbar unendlich langer Zeit als Picknick-Decke gedient hatte.
Heute erinnere ich mich nur noch undeutlich, wie ich den Weg zum Strandtuch geschafft habe, den Schlüssel für das Auto fand und den Weg zurück zum Auto hinter mich brachte. Auch an die Fahrt zurück in die Zivilisation erinnere ich mich kaum. Nachdem ich in Costa Calma einfach mitten auf der Straße angehalten hatte, ausgestiegen und zusammengebrochen war, hatte man mich in ein Krankenhaus gebracht.
Ich war in einem bemitleidenswerten Zustand, lebensbedrohlich ausgetrocknet und noch immer mit Lähmungserscheinungen belastet. Dennoch hat die Guardia Civil meine Geschichte aufgenommen und ist zu dem von mir beschriebenen Küstenabschnitt gefahren.
Sie fanden auch die von mir beschriebene Höhle, aber diese war angeblich vollkommen leer gewesen.
Später schob man die von mir gemachten Angaben auf eine vorübergehende geistige Verwirrung, verursacht durch die Austrocknung und einen Schock. Man versuchte mir begreiflich zu machen, dass die Wunde im Bauch einem Unfall mit dem Melonenmesser geschuldet wäre und ich einen Schock erlitten hätte, als ich mitansehen musste, wie mein Mann von einer Unterströmung im Atlantik erfasst wurde und ertrank.
Noch immer wagen sich trotz aller Warnungen in jedem Jahr Menschen am Strand von Cofete in den Atlantik und ertrinken aufgrund der gefährlichen Unterströmungen.
Ich weiß es besser.