Der Straßenmusiker
Wie jeden Tag um diese Zeit, so gegen fünf Uhr Nachmittags, sehe ich denselben Straßenmusiker neben dem kleinen Kiosk in der Fußgängerzone seine Lieder spielen. Um diese Zeit bin ich immer auf meinem Heimweg von der Arbeit und verweile jeden Tag für ein paar Minuten vor ihm. Da sitzt er nun wieder und spielt seine Lieder auf seiner alten, ramponierten Gitarre. Sie ist nicht perfekt gestimmt, aber genau das macht den Charme seiner Musik aus.
Und ich steh nun wieder hier und lausche seinen Liedern in A-Moll. Er schlägt die Saiten der Gitarre sehr sanft und mit viel Gefühl an. Eigentlich schlägt er sie nicht wirklich an, sondern er streichelt sie. Er streichelt sie so als würde er eine Katze im Arm halten und trotzdem ist er im Treiben der Fußgängerzone zu hören. Vor allem, wenn er mit seinem Gesang die Komposition vervollständigt. Eine kräftige, raue und rauchige Stimme, die unglaublich mit der alten, ramponierten Gitarre harmoniert.
Ganz ohne Verstärker und dem natürlichen Hall der Gassen singt er seine Lieder in A-Moll. Lieder über das harte und raue Leben. Genauso rau wie seine Stimme. So verschmelzen die Akkorde der Gitarre, mit dem unverwechselbaren Klangbild seiner Stimme und seinen Texten zu einem Gemälde. Ein Gemälde gezeichnet von seinen Gefühlen und den Gefühlen aller, die seinen Liedern lauschen. Und er sitzt wieder da, wie jeden Tag um diese Zeit, so gegen fünf in der Fußgängerzone. Gekleidet wie man sich einen Straßenmusiker vorstellt. Eine zerrissene Cordhose, die mit Flecken hier und da verziert ist, einem olivgrünen Parker mit diversen Aufnähern und natürlich die schwarzen Strickhandschuhe, bei denen die Fingerspitzen im Freien bleiben. Sein Gesichtsausdruck ist passend zum Lied. Die Augenlider sind verschlossen und seine Mundwinkel sind leicht nach oben gerichtet. Man merkt wie er in seiner eigenen Welt umherreist, während er diese Lieder spielt. In einer Welt in der Geld und Materialien keinen Wert haben. In einer Welt in der Farben und Gefühle zu seinen Liedern tanzen. Er spielt für sein Leben und genau das kann man hören.
Hin und wieder bleiben Passanten stehen und lassen sich für kurze Zeit in seinen Bann ziehen. Nach wenigen Sekunden werfen sie etwas Kleingeld in seinen Hut und gehen weiter. Und nach drei oder vier seiner Meisterwerke mache ich dasselbe. Ich suche nach Kleingeld in meinem Geldbeutel und werfe ihm ein paar Euros in seinen braunen Hut. Danach gehe ich immer unglaublich entspannt nach Hause.
Eines Abends in einer Bar erblickte ich diesen Straßenmusiker. Er saß alleine an der Bar und trank ein Bier. Nach kurzem Zögern faste ich doch den Entschluss mich zu ihm zu setzten und ihm etwas Gesellschaft zu leisten. Ich nahm rechts neben ihm Platz und ehe ich etwas sagen konnte entgegnete er mir: „Ich kenne Sie. Sie hören sich jeden Tag mehrere Lieder an, die ich in der Fußgängerzone spiele. Sie sind mir schon öfters aufgefallen, weil Sie länger stehen bleiben als alle anderen. Das weiß ich zu schätzen und freut mich wenn es ihnen gefällt. Jetzt fragen Sie sich aber bestimmt, wie sich so ein armer Straßenmusiker ein Bierchen in einer Bar leisten kann, Wenn Sie genauer auf meine Zeche schauen, sehen sie, dass es nicht nur eins ist.“ „Ganz ehrlich, das habe ich mir nicht gedacht“, unterbrach ich seinen Monolog. „Ich wollte ihnen nur meine Bewunderung mitteilen. Sie schreiben hervorragende Lieder, in denen so viel Herzblut stecken. Diese Lieder fesseln mich einfach jeden Tag und danach, da bin ich immer entspannt und kann die Sorgen, die die Arbeit im Büro so mit sich bringt auf der Straße lassen und brauche sie nicht mit nach Hause zu nehmen.“ „Ach hörn Sie auf!“ Sein Blick erschien etwas verlegen. „Eigentlich bin ich gar nicht der für den Sie mich halten. Ich hab genug Geld um für mich und meine Familie zu sorgen.“
Ich musste ihn nicht einmal auffordern mir eine Erklärung zu geben. Wahrscheinlich verriet mich mein fragender Gesichtsausdruck. Dann fuhr er fort: „Genau wie Sie habe ich immer jeden Tag einem Straßenmusiker zugehört, als ich von der Arbeit nach Hause gegangen bin. Er zog mich in seinen Bann ich hätte mir nicht besseres vorstellen können um von der Arbeit abzuschalten. Ich blieb jeden Tag stehen und eines Tages verwickelte er mich in ein Gespräch. Er erzählte mir wo und wie er lebt und wie er zu dem wurde wer er war. Eine traurige Geschichte kann ich Ihnen sagen. Na ja, eines Tages war er nicht mehr neben dem kleinen Kiosk in der Fußgängerzone zu finden. Als er die Tage darauf immer noch nicht an seinem Stammplatz spielte, bin ich zu „Alten Post“, den dort lebte er. Ich habe ihn auch dort gefunden. Dann erzählte er mir, dass er nicht mehr spielen kann, weil seine Gicht ihn daran hinderte die Akkorde auf der Gitarre zu greifen. Ich weiß auch nicht warum ich das gemacht habe, aber ich bin jeden Tag nach der Arbeit zu ihm und er hat mir gelernt wie man Gitarre spielt. Und später, als ich gut genug war, hat er mir gezeigt wie man seine Lieder spielt. Oft saß ich dort bis spät in der Nacht. Und dann hab ich angefangen an seinem Platz neben dem Kiosk zu singen, Seine eigenen Lieder. Das Geld habe ich ihm dann jeden Abend gebracht. Es war ja auch sein Geld. Dann haben wir uns immer unterhalten und manchmal schlief ich auch bei ihm in der Alten Post. Ich denke wir waren sehr gute Freunde. Ich hab ihm auch angeboten mit zu mir zu kommen, aber dieses Angebot hat er immer abgelehnt. Er wurde dann auch immer wütend. Seinen Stolz hat er immer behalten. Und na ja letztes Jahr ist er verstorben. Ich weiß auch nicht warum ich das weiter mache. Ich glaube ich mache es ihm zu Ehren, damit seine Lieder neben dem kleinen Kiosk in der Fußgängerzone weiterleben. Und das Geld, das ich jetzt erspiele und er leider Gottes nicht mehr benötigt, spende ich dem Obdachlosenheim. Vielleicht mach ich es auch für mich, weil ich sonst diese Lieder vermissen würde.“
Er lachte und trank von seinem Bier. Ich stellte mir dann meine Zukunft vor und musste dabei auch lächeln. Manchmal sind es die kleinen Dinge im Leben, so wie die Lieder neben einem kleinen Kiosk in der Fußgängerzone, die wir am meisten vermissen würden, wenn sie nicht mehr da wären.