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Der Straßenbahnschaffner
Der Straßenbahnschaffner:
Der Straßenbahnschaffner:
Ich bin Straßenbahnschaffner, fahre die Linie 1 durch die Stadt und Abends, wenn meine Bahn im Schuppen steht, gehe ich noch einmal mit der Taschenlampe durch die Waggons. Nachschauen ob alles in Ordnung ist.
Heute ist der 24. September. Ich lasse den Lichtkegel meiner Taschenlampe über die orangenen Sitzschalen gleiten.
Ich bin 19 Jahre alt, mittelgroß, mittelblond und mittelmäßig gutaussehend. Ganz durchschnittlich, denke ich, gar nicht so übel. Ein durchschnittlicher Straßenbahnschaffner eben.
22 Uhr, der letzte Waggon. Sie sitzt da und weint. Ich setze mich zu ihr, lege meinen Arm um sie und frage was los ist. Sie antwortet nicht. Dann reiche ich ihr mein Taschentuch, frage, ob ich sie nach Hause bringen soll. Keine Antwort.
Ich nehme sie mit in meine Wohnung, überlasse ihr mein Bett. Schlafe auf der Couch.
Ich bin Straßenbahnschaffner und fahre die Linie 1 durch die Stadt.
Ich bin zufrieden mit meiner Arbeit, und Abends, wenn ich nach Hause komme, sehe ich meistens noch eine Weile fern.
Heute ist der 25. September. Ich komme nach Hause und schalte den Fernseher an. Was gestern geschehen ist, habe ich schon längst wieder vergessen.
Ich bin Straßenbahnschaffner und fahre die Linie 1 durch die Stadt.
Jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit schaue ich mir die Angebote im Schaufenster des Reisebüros an. Dann gehe ich weiter.
Heute ist der 26. September. Ich lese: 3 Wochen Australien, nur 1.999 DM. Schon immer wollte ich nach Australien, aber es wird wohl für immer ein Traum bleiben.
Ich bin Straßenbahnschaffner und fahre die Linie 1 durch die Stadt.
Freitags habe ich meinen freien Tag. Morgens gehe ich dann immer zum Kiosk an der Ecke und kaufe mir eine Zeitung.
Heute ist der 27. September und auf der Titelseite steht in großen schwarzen Buchstaben: Selbstmord: Unbekannte wirft sich vor eine Straßenbahn. Darunter ihr Bild. Erkenne sie wieder.
Ich gehe nach Hause, nehme ein weißes Papier und schreibe darauf: Ich kündige! Stecke es in einen Umschlag und schicke es ab. Dann gehe ich ins Reisebüro und buche einen Flug nach Australien. Der Fernseher bleibt heute aus.
DL 1998