Der Stoff aus dem Alpträume gemacht sind
Ich , Marie André , bin 18 Jahre alt und wohne zur Miete in einer winzigen , muffigen Wohnung eines Wirtshauses in einem kleinen Dorf namens Treasure in Alabama. Vor zwei Jahren habe ich die Schule geschmissen , ich wollte nur noch weg von Deutschland, weg von der Stadt, die sich einmal mein Zuhause nannte. Wollte weg von der Schule in der mir und meiner damals besten Freundin Guilia solches Unrecht widerfahren ist. Weg von den Eltern, die mir keinen Glauben schenkten. Weg von meinem alten Ich ,Sophie Reinhardt. Weg von Ihm. Nun erzähle ich die Geschichte von Sophie. Sophie ist tot.
*1*
Der Richter erhob sich langsam, gebot der Menge aufzustehen und riss mich damit aus meinen Gedanken. Schließlich setzten sich alle wieder und der Richter begann: "Wir haben uns heute versammelt um der Anschuldigung der schweren Vergewaltigung und Körperverletzung des Angeklagten an Guilia Vermont und Sophie Reinhardt nachzugehen."Er wandte sich an den Angeklagten und nahm ihm den üblichen Eid, sowie die Personalien ab. Dann ging es los .Ich saß heute noch im Publikum, doch morgen würde ich meine Aussage machen, heute war erst mal Guilia dran. Der Richter rief Guilia in den Zeugenstand, regelte das Formelle und ließ den Strafverteidiger auf sie los. Guilia war bereits seit dem Kindergarten meine beste Freundin. Sie hatte langes blondes Haar, stechende grüne Augen, war schlank und ziemlich groß. Doch seit letztem Monat, genauer seit der Nacht des 4.Juli, schien sie mir so klein und verloren. Sie war nicht länger die imposante Erscheinung, der alle Jungs auf dem Schulhof nachstarrten.
"Guilia Vermont. Wo waren Sie in der Nacht des 4. Juli ?"
"Ich,....,ich war mit meiner Freundin Sophie auf dem Weg zu einer Geburtstagsparty. Manuel aus der Parallelklasse...."
Der Anwalt unterbrach sie.
"Und sind Sie dort auch angekommen?"
Guilia wurde leichenblass und schrumpfte noch mehr auf ihrem Stuhl zusammen. Ich wusste genau, was sie gerade durchmachte. Sie erinnerte sich.
"Nein. Nein, wir sind nie dort angekommen. Kurz vor der Straße in der Manuel wohnt fuhr ein Wagen im Schritttempo neben uns her. Wir dachten uns nichts dabei. Schließlich ist es eine Spielstraße, man darf dort wegen der vielen Kinder nur zwanzig Kilometer pro Stunde fahren. Aber plötzlich.."
Sie stockte und Tränen stiegen ihr in die Augen.
"Plötzlich wurde Sophie in den Wagen gezerrt. Ich hörte nur noch ihren überraschten Aufschrei. Sie war bewusstlos. Ich wollte ihr helfen, aber da schockte er auch mich mit diesem Elektroschockerdings."
Der Strafverteidiger zog eine Augenbraue hoch und tat so, als wäre er sehr verwundert und überrascht über das, was sie gesagt hatte. Langsam schlenderte er den schmalen Raum zwischen Richtertisch und Zeugenstand hin und her.
"Ach ja?" Er machte eine übertrieben lange Pause. "Wie bitte, kann es dann sein, dass über ein Dutzend Zeugen aussagen, dass Sie und ihre Mitschülerin Sophie Reinhardt gegen dreiundzwanzig Uhr besagten Abends sehr betrunken von der kleinen Privatparty kamen und FREIWILLIG mit Herrn Thomas Weyden mitgefahren sind, um, nun ja, Geschlechtsverkehr mit ihm zu haben? Wollen Sie ernsthaft all diese ehrwürdigen Menschen eines Meineids beschuldigen? Ich bitte Sie!"
Dieser miese Kerl hatte ihr eine Falle gestellt. Und das mit Erfolg.
Sophies Stimme war zittrig, doch trotzdem deutlich: "Und ob ich das will."
Der Strafverteidiger zuckte nur kurz mit den Achseln. "In Ordnung, wenn Sie wirklich dabei bleiben wollen. Also, was ist ihrer Meinung nach dann geschehen?"
"Ich kam erst wieder zu Bewusstsein, als er auf einer kleinen Waldlichtung hielt. Dort...dort hob er uns, wir waren inzwischen an Händen und Füßen gefesselt, aus dem Wagen. Er vergewaltigte zuerst Sophie, dann auch mich.." Ihre Stimme brach erneut ab. "Er hatte uns nicht geknebelt, aber es wäre auch nicht nötig gewesen. Niemand hätte uns hören können."
Am nächsten Tag schließlich war ich dran. Auch ich blieb bei meiner Aussage, aber es brachte uns nichts. Wie sollten wir gegen Weyden, die Staatsanwaltschaft und diese ganzen miesen Lügner ankommen? Gar nicht.
An dem Montag nach der Verhandlung trafen Guilia und ich uns in der Unterrichtspause auf der Mädchentoilette. Wir stritten uns mal wieder. Wie sooft seit diesem Tag. Thomas Weyden hatte nicht nur unsere Körper und unsere Seelen geschädigt, sondern auch unsere Freundschaft. Es war einfach nicht mehr dasselbe wie früher. Während Weyden eine von uns vergewaltigte, war die andere gezwungen alles mit anzusehen. Gefesselt und außerstande der Freundin zu helfen. "..Wir sollten das wirklich tun." Völlig in Gedanken versunken hatte ich natürlich nicht mitgekriegt, was sie gesagt hatte. Sicher würde auch das ihr wieder einen Angriffspunkt für einen neuen Streit liefern, deshalb tat ich einfach so als hätte ich sie verstanden und hoffte darauf, dass sie das, "was wir tun sollten" im Laufe des Gesprächs noch einmal wiederholen würde. "Ich weiß nicht Guilia. Bist du dir ganz sicher?"
"Natürlich bin ich mir da sicher Sophie. Wir sollten hier abhauen, vielleicht nach Amerika. Irgendwohin. Hauptsache weg von hier. Irgendwohin, wo uns keiner kennt und er uns nicht findet." Mit "er" war wohl Weyden gemeint, wer sonst. Natürlich wollte auch ich hier weg, aber wie immer siegte die Vernunft in mir. "Guilia , versteh das jetzt nicht falsch. Klar will ich weg von hier, aber wie? Wir haben kein Geld, keine Ausbildung, noch nicht mal einen Reisepass. Wie soll das denn funktionieren?" Guilia verstand es natürlich falsch. "Sag doch einfach, dass du nicht mit MIR weg willst. Dass du mal wieder kneifst und mich hängen lässt, genau wie in der Nacht als..."Weiter kam sie nicht. Die Ohrfeige traf sie völlig unerwartet, genau wie mich. Noch nie hatte ich jemanden geschlagen, nein, ich sträubte mich sogar davor Fliegen zu erschlagen, egal, wie sehr mich die Biester auch nervten. Doch jetzt hatte ich sogar Hand gegen einen Menschen erhoben, gegen meine beste Freundin. Ehe Guilia noch etwas sagen konnte, rannte ich fluchtartig aus der Toilette und schlug die Tür hinter mir zu.
Die nächsten Tage fehlte ich während der Deutschstunden, ich wollte wegen dieser peinlichen und vielleicht auch ein wenig gemeinen Geschichte nicht angesprochen werden. Doch Frau Münch war nicht auf den Kopf gefallen und so fing sie mich freitags vor Unterrichtsbeginn vor dem Lehrerzimmer ab. "Sophie, wenn ich bitte kurz mit dir reden könnte." Wohl oder übel musste ich dieser "Bitte" wohl Folge leisten, denn um uns herum standen noch circa ein halbes Dutzend anderer Lehrer. Ich konnte nicht weglaufen. Außerdem kam bei mir wohl wieder einmal die Vernunft durch. Ich konnte ja nicht für die restlichen drei Jahre bis zum Abitur im Deutschunterricht fehlen und abwählen ging auch nicht, immerhin war es mein bestes Fach.
Also folgte ich ihr in einen leeren Klassensaal. Frau Münch setzte sich auf einen Stuhl und bat mich ebenfalls Platz zu nehmen. Jedoch konnte ich meine Trotzhaltung ihr gegenüber dann doch nicht ganz aufgeben und stellte mich mit vor der Brust verschränkten Armen vor sie. Mein Blick hätte töten können. Sie aber tat so als würde sie das gar nicht bemerken und fing mit leiser, aber sicherer Stimme an : "Sophie, du kannst nicht ewig wegrennen vor dem was passiert ist. Natürlich kann ich mich nicht in dich hineinversetzen und ehrlich gesagt will ich das auch gar nicht. Ich möchte dir nur helfen. Ich glaube nicht dass die Sache mit der Vergewaltigung nur ein Versuch war, Aufmerksamkeit zu bekommen. Dafür bist du viel zu vernünftig." Sie musste grinsen. "Ich hätte auch nicht gedacht, dass du mich so frech belügen würdest. Und dann auch noch so schlecht. Also Sophie, nochmals, wenn irgendetwas ist oder wenn du darüber reden möchtest, dann kannst du mich jederzeit anrufen." Sie legte einen Zettel mit zwei Nummern auf den Tisch vor mir. Dann ging sie und ließ mich zurück. Ich war verblüfft. Es war uns so vorgekommen als glaube uns niemand, doch anscheinend tat sie es. Ich würde die Nummern zwar sicher nicht wählen, aber trotzdem steckte ich den Zettel in meine Jackentasche und ging genau mit dem Gong in den Unterricht.
Dort angekommen suchte ich nach irgendetwas, dass ich an ihr Zimmerfenster werfen konnte. Das hatte ich schon oft in Filmen gesehen und dort klappte es auch jedes Mal, ohne das eine einzige Fensterscheibe zu Bruch ging. Ich ging in die Hocke und suchte im matten Licht der Straßenlaterne nach einem Steinchen. Doch ich fand keins. Als ich mich gerade wieder aufrichten wollte, schweifte mein Blick noch mal in Richtung des Vermontschen´ Gartens ab. Irgendetwas kam mir verändert vor. Sicher nichts besonderes, wahrscheinlich eine neue Pflanze oder etwas in der Art, dachte ich, bis ich sie sah. Mein Schrei ließ in sämtlichen Häusern in der Nachbarschaft das Licht angehen.
Am nächsten Morgen stand es in sämtlichen Zeitungen. Guilia Vermont hatte sich im elterlichen Garten an einem Baum erhängt. Die Polizei ging davon aus, dass das Mädchen mit seiner unglaublichen Lüge, dass der bedeutendste Mann der Stadt sie vergewaltigt hätte nicht mehr Leben konnte und sich deshalb aus Schuldgefühlen das Leben genommen hatte.
Ich stand tagelang unter Schock. Von Schlaf war nicht zu reden, Tag und Nacht saß ich einfach da, in der Ecke neben meinem Kleiderschrank, starrte die Decke an und sah doch nur das Gesicht von Guilia; Guilia wie wir als Kinder zusammen im Sandkasten saßen, Guilia am Tag unserer Einschulung, Guilia auf meiner 16. Geburtstagsparty und immer wieder Guilia, am Baum hängend mit weit aufgerissenen Augen voller Angst. Ich konnte und wollte es einfach nicht glauben. Und nachdem ich vier Tage lang so in meinem Zimmer saß und nachdachte, war ich mir schließlich völlig sicher das Guilia ermordet worden war. Und in einem war ich mir noch sicher. Ich würde sie rächen und wenn es das letzte sein würde was ich tat.
Schnell ließ ich sämtliche Erinnerungen an Augenblicke, die Guilia und ich gemeinsam mit ihren Eltern verbracht hatten, Revue passieren. Konnte der Vater, der sein kleines Mädchen lachend auf seinen Schultern reiten ließ, konnte die Mutter, die ihrem einzigen Kind jeden Wunsch von den Augen ablas zu solch einer schrecklichen Tat fähig sein? Nein. Energisch schüttelte ich den Kopf um diesen Gedanken ganz schnell wieder loszuwerden. Ja, sie hatten Guilia das mit der Vergewaltigung nicht geglaubt, aber sie hatten sie dennoch geliebt. Abgöttisch geliebt. Ich nahm die Untersuchung des Tatortes wieder auf. Schon eine Stunde und dreißig Minuten lang suchte ich, ohne auch nur etwas zu finden. Die Polizei hatte wohl gründlich sauber gemacht. Also machte ich mit Guilias Zimmer weiter. Da ich wusste, wo Frau Vermont ihren Ersatzschlüssel aufbewahrte, sie war ziemlich vergesslich, war das Betreten des Hauses nicht weiter problematisch. Innen ging ich den langen Flur entlang, dann die Treppe hinauf, die ins obere Stockwerk führte. Vor ihrer Zimmertür hielt ich inne. Es wäre das erste Mal, dass ich ihr Zimmer betreten würde, seit dessen Bewohnerin tot war. Schließlich holte ich noch einmal tief Luft, drückte die Klinke herunter und trat entschlossen ein. Guilias Mobiliar und sämtliche Besitztümer standen wie gewohnt da, als würde sie jeden Augenblick ins Zimmer spazieren und sich mir gegenüber auf das Bett setzen um mir den neusten Tratsch zu berichten. Ich suchte alle Schubladen, Regale und Schränke durch, sah sogar unter ihr Bett, wo ich außer Staub aber auch nichts fand. Enttäuscht ließ ich mich in einen der zwei roten Plüschsessel fallen und seufzte. Es konnte doch nicht sein, dass ich so schnell schon aufgeben musste. Ich rutschte ein Stück weiter nach hinten an die Lehne und plötzlich raschelte es. Schnell schoss ich aus dem Sessel und kniete mich davor. Aus einer Ritze zwischen den Polstern lugte ein kleiner roter Zettel, der mir wegen seiner Farbe nicht aufgefallen war. Ich zog den Zettel vorsichtig heraus und las. Es war ein Brief von Guilia an mich:
Entschuldige Sophie. Das in der Schule war ziemlich gemein von mir. Ich weiß du verzeihst mir. Das tust du doch immer . :-) Ich hab eine gute Neuigkeit für dich. Ich habe Beweise. Jetzt können wir dieses Schwein anzeigen und glaub mir, dieses Mal werden nicht wir die Verlierer sein. Komm morgen nach der Schule zu mir, dann erklär ich dir alles.
Ich hab dich lieb
Guilia
Schmerzlich an den riesigen Verlust meiner besten Freundin erinnert, brach ich in
Tränen aus und rollte mich auf dem kalten Parkettboden vor dem Sessel zusammen, den Brief an meine Brust gedrückt. So lag ich da, zwar nur dreißig Minuten wie ich später feststellte, aber mir kam es vor wie eine halbe Ewigkeit. Ich lag einfach nur da, weinte um das, was mir und Guilia genommen worden war, trommelte wütend mit den Fäusten auf den Boden, bis meine Fingerknöchel schon anfingen vor Schmerz taub zu werden.
Bis der Knall einer zuschlagenden Autotür dumpf in meine Gedanken drang. Ich schaute erschrocken auf die kunterbunte Wanduhr, die ich Guilia zu ihrem sechsten Geburtstag geschenkt hatte. Guilia hatte sie gleich begeistert über ihrem Bett aufgehängt, wo sie nun schon seit mehr als zehn Jahren hing. Es war erst Viertel nach elf und die Vermonts kamen normalerweise nie vor zwölf Uhr von ihrem Brunch zurück.
Seltsam. Ich zog mich wackelig und mit Tränen verschleierten Augen auf die
Beine um nachzusehen wer da gekommen war. Wenn es wirklich Guilias Eltern waren müsste sie sich dringend etwas einfallen lassen. Doch nach einem vorsichtigen Blick aus dem Fenster wurde mir schnell klar, dass es nicht die Vermonts waren, die da in der Auffahrt parkten. Nein, in der Fahrt stand ein silberner Mercedes, da ich mich nicht mit Autos auskenne, kann ich nicht sagen welcher, aber der Wagen sah schon sehr neu und vor allem sehr teuer aus. Und als die Fahrertür sich langsam öffnete stieg kein anderer als Thomas Weyden, in einem seiner maßgeschneiderten Anzüge und mit einer kleinen schwarzen Sporttasche in der Hand, aus dem Wagen.
In diesem Moment kam ein weiteres Auto in der Auffahrt der Vermonts zum stehen. Diesmal waren sie es persönlich. Maria Vermont stieg aus der Beifahrertür, blickte nur ganz kurz zu Weyden herüber, der inzwischen lässig an der Hausmauer lehnte, und ging dann mit gesenktem Kopf und schnellem Gang zur Haustür, fingerte nervös in ihrer Tasche nach dem Schlüssel und schaffte es nach mehreren Versuchen dann auch endlich die Tür aufzuschließen und ins Hausinnere zu treten. Auch Herr Vermont war inzwischen ausgestiegen. Er schloss das Auto noch ab, dann ging er raschen Schrittes auf Weyden zu. Die beiden Männer schienen sich zu streiten, jedoch war ich mir da nicht ganz sicher, da in Guilias Zimmer kein Wort von ihrem Gespräch zu hören war. Aber den Mienen beider Männer war eine offensichtliche Verärgerung anzusehen. Schließlich übergab Weyden Marc Vermont noch die Sporttasche, die er mitgebracht hatte, stieg in seinen Mercedes und fuhr um die nächste Biegung davon.
Seitdem rätselte ich also schon, was wohl in dieser Tasche war. Geld vielleicht. Aber eigentlich hatte ich den Gedanken, dass Guilias Eltern etwas mit ihrer Ermordung zu tun hatten, bereits aufgegeben. Allerdings, was sollte denn sonst in dieser Tasche sein? Ich würde diese Nacht dank dem Geheimnis der Tasche wohl keinen Schlaf finden. Dachte ich. Gegen Mitternacht musste ich dann doch eingeschlafen sein.
Als ich am nächsten Tag in der Schule ankam, kam mir eine Idee. Ich musste nur noch überlegen, wie sie am besten umzusetzen war. Sollte ich sie belügen und benutzen, oder ihr die Wahrheit sagen und sie benutzen? Ich entschied mich für die Wahrheit.
In der Großen Pause lauerte ich ihr vor dem Lehrerzimmer auf. Frau Münch war zunächst nicht sehr angetan von meinem Plan, doch schließlich stimmte sie zu.
Donnerstagnachmittag war es dann so weit. Frau Münch und ich gingen in die Lerchstraße dreizehn. Ich versteckte mich im Garten hinter dem Baum an dem Guilia vor einigen Tagen leblos gebaumelt hatte. Ich konnte keinen einzigen klaren Gedanken fassen, weil mir immer wieder ihre albtraumhafte Erscheinung mit diesen furchtbar grünen Augen in Erinnerung trat. Aber ich würde meine Sache trotzdem gut machen, ich würde während Frau Münch den trauernden Eltern ihr Beileid ausschüttete und ein wenig mit ihnen über ihre ehemalige Schülerin plauderte ins Haus gehen und die Tasche finden um den mysteriösen Inhalt zu durchsuchen. Das war ich Guilia schuldig. Meine Lehrerin klingelte. Maria Vermont öffnete die Tür, wechselte ein paar Worte mit ihr und ließ sie schließlich eintreten. Sobald sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, sprang ich wie von einer Wespe gestochen aus meinem Versteck. Noch ein wenig länger und ich hätte es dort nicht mehr ausgehalten.
Mit ein paar großen Schritten war auch ich an der Haustür und trat ein. Frau Vermont hatte sie nicht wieder abgesperrt und so brauchte ich nicht einmal den Schlüssel hervorzuziehen. Vorsichtig und auf meine Schritte bedacht, jede Faser meines Körpers zum Bersten gespannt ging ich durch den Flur, lugte kurz in das Wohnzimmer um mich zu vergewissern, dass auch Frau Münch ihre Sache gut machte und Guilias Mutter ablenkte. Aber natürlich konnte ich mich auf sie verlassen. Das einzige was mir nun noch in die Quere kommen könnte war Herr Vermont. Donnerstag war eigentlich sein freier Tag und da er nicht im Wohnzimmer saß musste ich annehmen, dass er entweder auch im Haus, oder bei einer Golfpartie mit Freunden war. Ich hoffte, dass Zweites zutraf, aber da ich mir natürlich nicht sicher sein konnte ging ich nun noch vorsichtiger Richtung Treppe. Die Treppe hinauf ging ich extrem langsam und immer darauf bedacht, direkt neben dem Geländer zu laufen, da dies die einzige Stelle war an der die Treppe nicht knarzte.
Im zweiten Stockwerk ging ich zielstrebig und ohne mich auch nur einmal umzusehen ins Schlafzimmer des Ehepaares Vermont. Die Mitte des Raumes nahm ein großes Bett mit weißem Laken und ebenso strahlend weißer Bettwäsche ein. Mhmm, wo würde ich eine Sporttasche mit brisantem Inhalt verstauen ? Unter dem Bett? Nein, dort war sie schonmal nicht. Im Kleiderschrank? Auch dort nichts, außer den üblichen Kleidungsstücken und ein paar Handtaschen von Maria. Aber ansonsten stand kein Möbelstück in dem Zimmer, in das etwas von dieser Größe passen würde. Höchstens die Vermonts hätten das Geld, falls es überhaupt Geld war, bereits zur Bank gebracht. Missmutig und enttäuscht ging ich zum Fenster hinüber und stolperte schließlich über den großen Teppich, der sich fast über das ganze Zimmer erstreckte. Verwundert schaute ich mir den Teppich genauer an. Wie konnte ich über den gestolpert sein? Es sei denn... Schnell rollte ich den Teppich bis zu der Stelle auf an der ich gefallen war. Und tatsächlich, ich war über eine Art Falltür gestolpert. Na wenn das nicht das gesuchte Versteck war. An der Falltür befand sich ein kleiner eiserner Ring, der wohl zum Öffnen gedacht war. Ich zog die schwere Klappe auf, doch darin war nicht das, was ich erwartet hatte:
In dem kleinem Hohlraum stand eine kleine hölzerne Truhe, deren Schloss kaputt war und in die der Name "Guilia" mit Schmuckbuchstaben eingeritzt war.
Wow, wenn das nicht eine Entdeckung war! Ich beschloss, dass ich nun schon genug Zeit verbraucht hatte und die Tasche wohl wo anders oder schon längst weg und das Geld gut angelegt auf dem Konto der Vermonts lag, also war es nun an der Zeit Frau Münch aus ihrer gefährlichen Lage zu befreien. Ich schloss die Klappe, legte den Teppich wieder über die Öffnung und nahm die Truhe mit mir. Fünf Minuten später stand ich mit der Truhe unterm Arm vorm Haus, klingelte um Frau Münch das Zeichen zu geben, dass alles ok war und machte dann, dass ich um die nächste Ecke kam.
In ihr Haus könnte ich direkt einziehen war der erste Gedanke der mir kam, als ich mich im Flur und im Wohnzimmer umsah. Sie hatte Geschmack, das musste ich wirklich zugeben. Das Haus war sehr modern und hell eingerichtet, überall standen Pflanzen herum, denen es hier offensichtlich gut erging. Bei mir überlebte noch nicht mal ein Kaktus. Meine Lehrerin nahm mir das Video aus der Hand und schob es in den Recorder. Doch bevor sie ihn einschaltete wies sie mich noch an ihr zu sagen, was eigentlich auf dem Kassenbon stand. Ich schaute auf den Zettel in meiner Hand und las ihn durch, noch mal und noch mal. Wortlos reichte ich ihn an Frau Münch. Sie schluckte hörbar als sie die Schrift auf dem Zettel sah:
Es war ein Zettel für die Reparatur einer Videokamera und der sich darin befindlichen Kassette.
An jenem Abend der Vergewaltigung hatte Guilia ihre Kamera vergessen auszuschalten. So hatte sie alles aufgenommen. Doch Weyden hatte sie bemerkt und gegen eine Mauer geschleudert. Sie war zerstört und unser Beweismaterial damit vernichtet. Gewesen. Guilia hatte anscheinend einen Spezialisten gefunden, der die Kamera und das wichtige Band wieder hinbekommen hatte. Für einen stattlichen Preis übrigens: 365 Euro.
Schnell war mir alles klar. Weyden hatte irgendwie herausgefunden, dass Guilia Beweise gegen ihn hatte und deshalb musste sie sterben. Die Vermonts dachten wohl, da man ihnen ihre Tochter sowieso nicht zurückgeben konnte, könnten sie wenigstens ein wenig Gewinn machen, indem sie Vermont mit dem Video erpressten. Aber nicht mit mir. Ich würde erneut vor Gericht gehen, man würde die Verhandlung wieder aufnehmen und Weyden würde büßen, büßen für alles was er mir und Guilia angetan hatte. Aber zuerst musste ich wissen, ob auf dem Video überhaupt das war, was ich vermutete. Um das Ganze nicht noch einmal miterleben zu müssen, bat ich Frau Münch es sich anzusehen und ging aus dem Wohnzimmer und rüber in ihre Küche. Setzte mich an den Tisch und wartete.
Eine halbe Stunde später betrat sie die Küche. Ich sah auf, wollte die Antwort auf meine Frage haben. Sie nickte nur und setzte sich mir gegenüber an den Tisch. Ich schaute ihr in die Augen. Sie hatte geweint. Gerührt von ihrem Mitgefühl schossen mir selbst die Tränen in die Augen. Sie sah wütend, verzweifelt und traurig aus, aber da war noch etwas.
"Sophie." Sie sprach so leise, fast ein Flüstern nur, sodass ich sie fast nicht gehört hätte.
"Ja?"
"Da auf dem Band, da war noch etwas. Anscheinend hat Guilia auf eigene Faust nach Beweisen gesucht und ihn in der Hoffnung, er würde sich selbst verraten, ständig mit ihrer Videokamera beschattet. Sie hatte Glück." Ein breites Lächeln erschien auf ihrem tränennassen Gesicht. "Sie hat Weyden bei einem Gespräch mit seinem Vater gefilmt, bei dem er alles, einschließlich des Mordes an Guilia, zugibt."
Ich war überglücklich, doch gleichzeitig musste ich nun unbedingt allein sein. Nun ja, nicht ganz. Ich hauchte ihr noch ein "Danke für alles" zu, dann zog es mich auf den Friedhof.
Ich ging zu Guilias Grab.
Ich strich kurz über den weißen Grabstein, dann setzte ich mich vor Guilias letzte Ruhestätte.
"Hallo Guilia. Ich hab deine Kamera gefunden. Ich werde Weyden anzeigen und dann wird er endlich das bekommen was er verdient. Das heißt du kannst nun endlich in Frieden ruhen. Es ist alles so trostlos und leer hier ohne dich. Aber eines Tages werden wir uns wiedersehen, das weiß ich Guilia. Wir werden uns wiedersehen. Ich hab dich lieb. Für immer."
Ich berührte noch einmal kurz den Grabstein und fast war es mir, als wäre er etwas wärmer und fröhlicher geworden. Dann ging ich. Ich hatte noch einige Anrufe, unter anderem mit meinem Anwalt, zu tätigen.
Einige Wochen später schließlich wurde das Verfahren gegen Thomas Weyden wiederaufgenommen. Er wurde zu 13 Jahren Haft verurteilt. Meiner Meinung nach viel zu wenig. Und einer monatlichen Zahlung von tausend Euro an mich und das bis an mein Lebensende. Mir wären ein paar Jahre Knast mehr lieber gewesen. Die Vermonts habe ich allerdings nicht angezeigt. Ich fand zwar sehr geschmacklos, was sie da getan hatten, aber ich fand auch, dass sie schon genug durchgemacht hatten. Und immerhin hatten sie Guilia geliebt.
Ich wäre zwar wahrscheinlich für die nächsten zehn Jahre zumindest sicher, aber ich wollte dennoch kein Risiko eingehen und ich fühlte mich nicht mehr wohl in Schaffstadt. Ich würde einen neuen Namen annehmen und sobald ich volljährig wäre auswandern. Vielleicht nach Amerika, wie Guilia es wollte.
Übermorgen werde ich in meine neue Wohnung ziehen, ich habe immerhin einiges gespart in den letzten Jahren. Diese Wohnung ist nur für den Übergang, meine war noch nicht direkt frei. Und morgen schon werde ich meine Ausbildung wieder aufnehmen.
Ich werde die Vergangenheit endlich hinter mir lassen. Ich werde leben.