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Der stille Tod

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23.03.2017
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Der stille Tod

Ypern, 22. April 1915

Heute ist es also so weit. Schon nach dem Aufstehen hatte ich dieses ungute Gefühl, dass es ernst werden könnte. Kaum aus dem spärlichen Unterstand getreten, spürte ich den leichten Wind, der aus Nordosten durch den Graben wehte. Obwohl der Generalstab sich die größte Mühe gegeben hatte, von einer Grabendesinfektion war die Rede, blieb es nicht geheim. Konnte es auch nicht. Die Langweile in den Gräben bringt uns zum Sprechen, der Mangel bringt uns zusammen. Ich hatte auf der Suche nach einer Tasse heißen Kaffees vor ein paar Tagen davon gehört. Ein paar Jungs, denn nichts anderes waren diese kaum zwanzigjährigen ehemaligen Studenten, die beim „Desinfektionskorps“ dienten, hatten mir etwas von ihrem zu trinken angeboten und wir kamen ins Plaudern. Sie erzählten von einer neuen Offensive, einer anderen diesmal, einer, die uns den Durchbruch und damit den Sieg bringen würde. Ich hatte mich skeptisch gezeigt, denn jede Offensive bisher sollte anders sein und jede sollte den Durchbruch bringen. Mit Skepsis ist es so eine Sache, da ist der Grad zur Zersetzung der Moral der Truppe schmal, da muss man aufpassen. Aber sie hatten gelacht und mir von den Behältern erzählt, die sie in den Tagen zuvor in Stellung gebracht hatten. 40 Kilogramm schwer, Druckmechanismus zum Abblasen, randvoll mit dem stillen Tod.

Fritz Haber hatte persönlich am 11. April ihren Graben besucht und nach seiner Inspektion nur lobende Worte für seine braven Studenten gehabt, die mit ihm zusammen vom Schießplatz Wahn gekommen waren. Seit diesem Tag war alles bereit, erzählten sie mir, nur der Nordostwind fehlte noch. Ich werde schon sehen, es sei nur eine Frage von Tagen, rief mir einer noch im Hinausgehen zu. Seitdem wartete ich. Wartete auf den Nordostwind, denn der trägt uns auf sanften Schwingen zum Sieg.

Heute Morgen war er da, ich spürte ihn auf meiner Haut. Spüre ihn auch jetzt, im Graben kauernd, ein mit Chemikalien getränktes Tuch vor dem Gesicht, bereit loszustürmen, sobald die schrille Pfeife meines Zugführers mich dazu auffordert. Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass es beinahe so weit ist. Eine Minute vor sechs. Eine Minute, bevor es beginnen soll. Ob die armen Schweine dort drüben in Saint-Juliaan ahnen, was ihnen blüht? Wohl nicht, unsere Spähtrupps haben auf der Gegenseite nichts Auffälliges gemeldet. Wüssten sie es, hätten sie sich längst davongemacht. Noch während ich das denke, schiebt sich der Zeiger voran. Jetzt es ist es so weit. Ich sehe die Unruhe meiner Kameraden, aber noch zögere ich, den Blick über den Rand des Grabens zu heben. Die Franzosen sind ordentliche Schützen und unsere Helme mehr Zier als Schutz.

Als ich die überraschten Rufe von denen höre, die, mutiger als ich, einen Blick riskieren, siegt auch bei mir die Neugier und ich richte mich langsam auf. Dann sehe ich sie. Die gelbliche Wolke ist riesig. Sie bedeckt bereits den ganzen Horizont, aber noch immer strömt neuer Dunst aus den Druckbehältern. Nach nicht einmal zehn Minuten sind die Behälter leer, haben den stillen Tod ausgespien. Keiner von uns denkt mehr daran, nach einem kurzen Blick wieder in Deckung zu gehen. Wir sehen der gewaltigen Wolke zu, die, angetrieben vom Nordostwind, träge in Richtung der französischen Gräben walzt. Es ist beängstigend ruhig, schweigend stehen wir dem stillen Tod Spalier.

Dann reißt uns das Pfeifen des Gruppenführers aus unserem andächtigen Schauen. „Angriff! Raus mit euch aus den Gräben!“, brüllt er und stürmt voran. Wir folgen, die Gewehre mit aufgepflanztem Bajonett in Position. Aus dem schwungvollen Loslaufen wird rasch ein langsames Traben, die Wolke zwingt uns ihre Geschwindigkeit auf. Aus unseren Reihen fällt kein Schuss. Aber worauf sollten wir auch schießen, vor uns ist nur die Wolke.
Ich setze einen Fuß vor den anderen, horche gespannt, um mich beim ersten Dröhnen des feindlichen Feuers auf den Boden zu werfen. In Deckung, nur in Deckung, wenn die Hölle losbricht. Aber sie bricht nicht los, nur Schweigen erwartet uns. Schritt für Schritt nähern wir uns dem Feind. Der Weg durch das schlammige Niemandsland zwischen den Grabensystemen scheint dieses Mal einfach nicht enden zu wollen.

Plötzlich taucht unvermittelt der erste feindliche Graben aus dem gelben Dunst auf. Ich warte auf die feindlichen Salven, denn sie müssen nun auch uns sehen können. Doch noch immer herrscht nur diese gespenstische Ruhe. Ich packe mein Gewehr fester und beschleunige meinen Schritt. Dann sind wir heran und ich springe mit einem Kampfruf in den Graben hinab. Als ich lande, gerate ich ins Stolpern und falle. Panik macht sich in mir breit, ich weiß, ich bin wehrlos. Schnell rapple ich mich hoch, bereit, mit dem Bajonett zuzustoßen, auf den Feind, der mich hier erwartet. Die Reste des Chlorgases brennen in meinen Augen und lassen sie tränen. Ich blicke mich um, aber alles, was ich sehe, ist der Tod.

Vielleicht dachten sie, es sei Rauch, der uns vor ihren Blicken verbergen sollte. Wer von ihnen sollte schon ahnen, dass es der stille Tod ist, der über sie hinwegzieht. Der stille Tod, der ihre Lungen verätzt, so dass sie sich mit Blut füllen. Jetzt liegen ihre im Todeskampf verdrehten Leiber in den Gräben, so weit ich sehen kann. Vier Kilometer stoßen wir vor, vorbei an Toten und Sterbenden, für die es keine Rettung mehr geben kann, sondern nur noch das Ende. Vier Kilometer ohne einen einzigen Schuss.

 

... von einer Grabendesinfektion war die Rede, …

Hallo Blumenberg,

schön – sollte man eigentlich bei diesem Thema nicht sagen -, dass Du diesen kleinen Beitrag zu unserer heldenhaft-glorreichen Vergangenheit thematisierst.

Schon das winzige Eingangszitat zeigt, dass faschistisches Gedankengut, das den Gegner herabwürdigte zu einem Bazillus und Ungeziefer, bereits in den teutschen Eliten Eingang gefunden hatte (nicht umsonst werden Hitler und Ludendorf sehr früh auf einem gemeinsamen Foto zu sehen sein) und – das eigentlich Schlimme – angesehene Wissenschaftler wie Prof. Haber an dieser Wunderwaffe arbeiteten, die bereits einige Jahre zuvor in der Haager Konvention geächtet wurde.

Weiter werde ich den m. E. gelungenen Text inhaltlich und formal nicht besprechen – weil ich gerade den Sammelband „1918“ mit Dokumenten von (Konrad) Adennauer, damals Oberbürgermeister von Köln, bis (Leopold) Ziegler, ein Schriftsteller, der heute nahezu vergessen ist, von der Obersten Heeresleitung bis hinunter zum Schützen Arsch, vom Kaiser bis hin zu Kurt Eisner, Anarchist und Schriftsteller, erster gewählter Ministerpräsident des „Freistaates“ Bayern (der Begriff des Freistaats kam mit der Räterepublik auf – eigentlich dürfte die Union ihn gar nicht pflegen, sondern nur mit der Pinzette anfassen), vom unpolitischen Thomas Mann bis zum Gymnasiasten Sebastian Haffner usw. usf. – und da passt Dein „unbehauener“ Text zu, denn den Stand deutscher Rechtschreibung (Duden hatte sich ja schon vor der Jahrhundertwende in Preußen durchgesetzt) krieg ich auch nicht hin (kann aber alles lesen und verstehen, wie ich ja auch Grimmelshausen und frühere noch im Original lesen kann.

So viel oder wenig für heute vom

Friedel

 

Hallo Blumenberg,
Auch wenn ich das Thema Krieg nicht besonders mag, muss ich wirklich sagen, dass ich beeindruckt bin, wie dicht, atmosphärisch und authentisch „Der stille Tod“ geschrieben ist. Chapeau!
Einzig am Ende des vierten Absatzes habe ich ein Kleinigkeit gefunden, die ich ändern würde.

Es ist beängstigend still, schweigend stehen wir dem stillen Tod Spalier.

Vielleicht wäre hier ein „ruhig“ statt des „still“ besser geeignet.

Ansonsten freue ich mich darauf, demnächst wieder etwas von Dir zu lesen.
Liebe Grüße,
Sven

 

Hallo Friedel,

mit dir habe ich ja einen treuen Kommentator meiner Werke gefunden, der immer wieder auf spannende Aspekte hinweist...vielen Dank dafür.

Auch wenn ich dir damit rechtgebe, dass in der Kaiserzeit bereits in Teilen faschistisches Gedankengut präsent ist, bezieht sich die von dir zitierte Textstelle auf etwas Anderes. Die Grabendesinfektion gilt dem deutschen Graben und als Vorwand dort heimlich die Gasbehälter zu installieren, wobei die Geheimhaltung innerhalb der deutschen Reihen nur leidlich klappt.

Der von dir angesprochene Aspekt des „Ungeziefers ist aber trotzdem sehr interessant, findet er doch letztlich innerhalb einer bestimmten Metaphorik – nämlich der des Nationalstaates als Garten und des Kaisers bzw. allgemeiner, der Führungsschichten als Gärtner statt. Zygmund Baumann hat diese Metapher in seinem hervorragenden Werk Moderne und Ambivalenz genau analysiert und zeigt daran die in der Moderne liegenden Wurzeln faschistischen Gedankenguts. Eine solche Metaphorik ist immer auf die Unterdrückung von Ambivalenzen ausgerichtet. Sei es nun von innerhalb oder außerhalb des Staates, abweichende Meinungen, Personen oder Völker, die unter Einbeziehung als modern geltender Wissenschaften wie Biologie, Anthropologie, Eugenik etc., als „Unkraut“ abqualifiziert werden, gilt es auszumerzen, da sie das Gedeihen des nationalen Gartens hemmen. Die durchaus ambivalente Figur des Prof. Haber – immerhin ein Nobelpreisträger – bildet das in meinen Augen wunderbar ab.

Das der Text in deinen Augen an manchen Stellen noch etwas „unbehauen ist“, muss ja in einem Literaturforum kein Nachteil sein. :-)

Hallo Sven,

vielen Dank für die lobenden Worte. Ich selbst bin auch kein Freund von heroisierenden Kriegsgeschichten, deswegen wollte ich hier versuchen etwas Anderes zu machen. So steht beispielsweise die Betonung der Stille in dem Text bewusst im Kontrast zu dem eigentlich immer als laut wahrgenommenen Kriegsgeschehen.

Es freut mich sehr, dass du den Text als authentisch geschrieben empfindest, das ist ja bei einem Ich-Erzähler zu dem Thema immer eine Sache, bei der man als Nachgeborener ohne Kriegserlebnisse ganz schön daneben liegen kann.

Den Hinweis auf den vierten Absatz werde ich einbinden (vielen Dank!), da er die unglückliche Dopplung des Wortes still in dem Satz vermeidet.

Beste Grüße und euch beiden eine gute Woche

Blumenberg

 

Hallo @Blumenberg,

auch mir fallen Geschichten über die Weltkriege schwer. Mich nimmt die Stimmung darin oft gefangen. Deine Geschichte ist kurz, da habe ich es mal gewagt.

Gut gelungen ist dir der Text, sehr beklemmend geschrieben.

Trotzdem bin ich der Meinung, du könntest den Text noch etwas griffiger gestalten.

Heute ist es also so weit.
Das also kann weg, wirkt so flapsig. Und dann hätte man auch nicht dieses soso.

Schon nach dem Aufstehen hatte ich dieses ungute Gefühl, dass es ernst werden könnte.
Das „dieses“ passt nicht ganz in den Lesefluss. Ich würde einfach nur „das ungute Gefühl“ schreiben

Kaum aus dem spärlichen Unterstand getreten, spürte ich den leichten Wind, der aus Nordosten durch den Graben wehte.
Irgendwie finde ich das Bild etwas schief. Der Unterstand ist im Graben, nicht wahr? Der Wind in den Gräben folgt ja nur den Gräben selbst, wie soll es dort drin eine Windrichtung geben?
Danach würde ich einen Absatz machen.

Konnte es auch nicht.
Kann weg. Genau das erklärst du ja im Satz danach.

Die Langweile in den Gräben bringt uns zum Sprechen, der Mangel bringt uns zusammen.
Eher andersrum, erst kommen sie zusammen und dann sprechen sie.

Ich hatte auf der Suche nach einer Tasse heißen Kaffees vor ein paar Tagen davon gehört.
Vielleicht:
Vor ein paar Tagen hatte ich auf der Suche nach einer Tasse heißen Kaffees davon gehört.

hatten mir etwas von ihrem zu trinken angeboten
Das ist mir zu ungenau. Würde er das so sagen? Ich würde das „zu trinken“ durch ein Getränk ersetzen.
Und warum „hatten sie es angeboten“? Das PQP erscheint mir hier und an anderen Stellen zu umständlich, es ist klar, in welcher zeitlichen Ebene wir uns befinden:
Ich hatte mich skeptisch gezeigt
Aber sie hatten gelacht
Hier passt es wiederum:
die sie in den Tagen zuvor in Stellung gebracht hatten.
Vielleicht magst du die Stellen noch mal prüfen, wär doch schön wenn man auf ein paar „hatte“s verzichten könnte.

randvoll mit dem stillen Tod.
Vielleicht solltest du das hier noch weglassen. Zu dem Zeitpunkt weiß doch noch keiner genau, wie es laufen wird und ob es klappt, oder? Würde es nicht Sinn machen, wenn es erst nachdem Einsatz „der stille Tod“ genannt wird?

Seitdem wartete ich. Wartete auf den Nordostwind, denn der trägt uns auf sanften Schwingen zum Sieg.
Ich frage mich ja was die Franzosen die ganze Zeit machen. Warum greifen die denn nicht an?

Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass es beinahe so weit ist.
Hatte ein normaler Fußsoldat schon eine Armbanduhr?

Die Franzosen sind ordentliche Schützen und unsere Helme mehr Zier als Schutz.
Gut beschrieben.

Als ich die überraschten Rufe von denen höre, die, mutiger als ich, einen Blick riskieren, siegt auch bei mir die Neugier und ich richte mich langsam auf.
Wirklich? Sie rufen? Verraten sie dann nicht alles?

Sie bedeckt bereits den ganzen Horizont
Das erscheint mir etwas übertrieben.

haben den stillen Tod ausgespien
Siehe oben.

Es ist beängstigend ruhig, schweigend stehen wir dem stillen Tod Spalier.
Hier passt es!

unserem andächtigen Schauen
Andächtig erscheint mir nicht ganz passend, wenn bei etwas so grausamen zuschaut. Oder ist es für die Soldaten wirklich feierlich, weil sie die Franzosen so besiegen?

die Gewehre mit aufgepflanztem Bajonet
Das aufgepflanzt klingt mir zu salopp. Oder sagt man das so?

Aus unseren Reihen fällt kein Schuss.
Auch nicht aus den anderen Reihen.

Aber worauf sollten wir auch schießen, vor uns ist nur die Wolke.
Würde ich weglassen.

Aber sie bricht nicht los, nur Schweigen erwartet uns.
Wie geht es dem Protagonisten damit? Ist er erleichtert? Ist er verängstigt?

Plötzlich taucht unvermittelt der erste feindliche Graben aus dem gelben Dunst auf.
Plötzlich und unvermittelt sagen das gleiche. Streich eins davon.

Ich warte auf die feindlichen Salven, denn sie müssen nun auch uns sehen können.
Das finde ich etwas zu naiv dargestellt. Klar, sie setzen das Gas das erste Mal ein, aber sie erhoffen sich schließlich davon alle zu töten. Wenn er bis dahin nichts gehört hat, sollte doch klar sein, dass da in den Gräben nicht mehr viel los ist.

beschleunige meinen Schritt
Meine Schritte oder meinen Gang.

mit einem Kampfruf
Damit alle gucken? :p

ich weiß, ich bin wehrlos
Das weiß der Leser auch. Kann weg.

Vier Kilometer ohne einen einzigen Schuss.
Wieder ist mir das zu weit weg geschildert. Und das kommt von mir und mir wird schon immer Emotionslosigkeit vorgeworfen. :Pfeif:
Ich meine nicht, dass du hier auf die Tränendrüse drücken oder es kitschig werden lassen sollst. Aber irgendeine Einschätzung des Protas fände ich schon interessant.

Das waren jetzt viele Anmerkungen, aber das meiste sind nur Ideen, Vorschläge, die man auch ignorieren kann. Nimm dir davon was dir gefällt.

Wie gesagt, finde ich den Text als Gesamtwerk schon sehr gelungen.


Liebe Grüße,
Nichtgeburtstagskind

 

Hi @Blumenberg,

ich finde deine Geschichte nicht schlecht. Sie ist gut zu lesen. Allerdings - das wäre mein Hauptkritikpunkt - doch irgendwo noch eine Mischung aus sachlichem Bericht und einer wirklichen Geschichte. Das kann man ja machen, eine Geschichte in Berichtform schreiben. Trotzdem überzeugt mich das hier noch nicht so ganz. Dummerweise kann ich aber höchstens unklar sagen, warum das so ist.

Ob es damit zusammenhängt, weiß ich nicht, aber den Einstieg finde ich nicht so gut: "Heute ist es soweit" - und dann gleich einen Schritt zurück zum Informationsstand beim Aufstehen, der ja passé ist. Und dann gleich noch einen Schritt zurück. Spontan lese ich ja den dritten Abschnitt ("Heute morgen war /der Nordostwind/ da, ich spürte ihn auf der Haut ...") als den besseren Anfang. Dann hast du eine klare Spannungssituation und von da aus lässt du dir gemütlich Zeit, das Vorgeplänkel einzuschalten und hast mich aber schon am Haken. Ich weiß nicht, ob der spontane Eindruck richtig ist, aber es scheint mir so.

Hier wäre aber auf jeden Fall mal ein Beispiel für eine Stelle, an der ich gerne mehr Geschichte - mehr Action - und weniger schnellen Bericht lesen würde:
"Ich hatte mich skeptisch gezeigt"
-- Da wäre womöglich ein Dialogfetzen gar nicht übel. Und gerne etwas anschaulicher: Wie hocken sie da? Wer redet mit ihm? Usw.

Den zweiten Abschnitt ("Fritz Haber ...") finde ich dagegen in der Berichtform genau richtig.

"ein mit Chemikalien getränktes Tuch vor dem Gesicht"
-- gerne genauer: Womit getränkt?

"Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass es beinahe so weit ist."
-- Der Satz könnte aus meiner Sicht gerne weg. Das ist mir zum einen zu umständlich (und zu ausgelutscht) formuliert, zum anderen braucht es das sicher nicht.
Der nächste Satz heißt ja:
"Eine Minute vor sechs."
Dann wird er also wohl auf die Uhr geschaut haben, wenn er das weiß. Muss man nicht unbedingt dazu schreiben.

Auch diesen Satz:
"Wohl nicht, unsere Spähtrupps haben auf der Gegenseite nichts Auffälliges gemeldet."
würde ich streichen. Die wichtigere Erklärung kommt anschließend:
"Wüssten sie es, hätten sie sich längst davongemacht."
Das reicht doch eigentlich. Mit irgendwelchen Spähtrupps will ich mich in der spannungsgeladenen Situation nicht so gerne beschäftigen.

"Noch während ich das denke, schiebt sich der Zeiger voran."
-- Dass sich der Zeiger stetig vranschiebt, klingt trivial. Vielleicht springt er voran, dann erschient mir das sinnig.

"Die Franzosen sind ordentliche Schützen und unsere Helme mehr Zier als Schutz."
-- Eigentlich hübsch, das mit den Helmen. Nur: "Schützen" und "Schutz" so knapp hintereinander finde ich nicht perfekt.

"siegt auch bei mir die Neugier und ich richte mich langsam auf."
-- Auch das klingt mir ahn der Stelle zu umständlich, zu behäbig, möchte ich fast sagen. Dazu die so oft gegärte Formulierung: "siegt die Neugier". Da baust du mit wenigen Worten einen großen Abstand zwischen mit und dem Geschehen auf.

"Nach nicht einmal zehn Minuten"
-- Solche Zeitangaben finde ich oft nicht so günstig, da frage ich mich immer, ob die Figur das wirklich so genau misst. Hier kann das aber gut sein. Allerdings gerne deutlicher, so und er Art: "
Sechs Uhr acht. Nach nicht einmal zehn Minuten usw."

"Keiner von uns denkt mehr daran, nach einem kurzen Blick wieder in Deckung zu gehen."
-- Der kurze Blick kann wieder gerne weg, finde ich. Ich finde das leicht unstimmig: Nach einem langen Blick gehen sie ja auch nicht wieder in Deckung, sie gehen vielmehr gar nicht wieder in Deckung. Dann könntest du es eigentlich auch so schreiben: "Keiner von uns denkt mehr daran, wieder in Deckung zu gehen."

Hier noch mal eine Stelle, wo ich es gerne sinnlicher hätte:
"Aus dem schwungvollen Loslaufen wird rasch ein langsames Traben"
-- wie laufen sie denn? Wie ist der Untergrund? Wie ist das, sich der Wolke zu nähern? Und solche Dinge.

"Der Weg durch das schlammige Niemandsland zwischen den Grabensystemen scheint dieses Mal einfach nicht enden zu wollen."
-- Und dann kommt da ja der Untergrund, aber für meine Geschmack zu spät und - zu unsinnlich.

Und auch diese Passage:
"Dann sind wir heran und ich springe mit einem Kampfruf in den Graben hinab. Als ich lande, gerate ich ins Stolpern und falle. Panik macht sich in mir breit, ich weiß, ich bin wehrlos. Schnell rapple ich mich hoch, bereit, mit dem Bajonett zuzustoßen, auf den Feind, der mich hier erwartet."
-- da kann ich nicht mitfühlen, ich sehe die Abläufe vor mir, aber sie spielen sich nur ab, da lebt nichts drin.

Viel konkreter dagegen schon:
"Die Reste des Chlorgases brennen in meinen Augen und lassen sie tränen."
So was in diese Richtung hätte ich gerne mehr. Nicht ständig, aber hier und da, so dass es mich im Hintergrund ständig begleitet. Zu diesem Satz allerdings noch: "lassen sie tränen" - das ist wieder so ein distanzierter Ausdruck. Weniger distanziert - nicht das du das so machen sollst, nur zur Veranschaulichung - wäre womöglich: "Die Reste des Chlorgases brennen und pressen mir Tränen aus den Augen." Etwas schwülstig, schon klar, aber wie gesagt: Nur für die Richtung.

Das wiederum ganz deutlich distanziert berichtende Ende finde ich gar nicht so schlecht. Es könnte natürlich auch direkter, schmutziger aussehen. Aber distanziert ist da gar nicht so verkehrt, würd ich sagen. Besser wäre halt nur, wenn du vorher etwas mehr Fleisch an die Sache packen würdest, dann könnte ich das Ende als schockierte Distanz wahrnehmen, und das würde mir dann eher noch eins mitgeben.

Besten Gruß
erdbeerschorsch

 

Hallo @Blumenberg ,

ich kann es heuer kurz machen: Dein Text gefällt mir. Kurz musste ich an die ein oder andere Szene aus „Im Westen nichts Neues“ oder „Legenden der Leidenschaft“ denken.
Dein Text ist intensiv, jedes Wort scheint durchdacht und das Ende ist alles andere als siegreich. Gerne mehr davon!

Viele Grüße
Mädy

 

Hallo Maedy,

wenn Reaktionen kurz ausfallen, ist das entweder ein gutes oder ein katastrophales Zeichen, ich freue mich, dass es bei diesem Text ersteres war.
Ich finde in der letzten Zeit leider wenig Ruhe zum Schreiben, hoffe aber hier im Laufe des Jahres ein oder zwei neue Texte einzustellen.

Hallo Nichtgeburtstagskind und Erdbeerschorsch,

vielen Dank für die ausführlichen und hilfreichen Anmerkungen, sie liefern mir einiges zum Nachdenken.

@Nichtgeburtstagskind

Auch mir fallen Geschichten über die Weltkriege schwer. Mich nimmt die Stimmung darin oft gefangen. Deine Geschichte ist kurz, da habe ich es mal gewagt.

Mir geht das genauso, trotzdem halte ich Krieg, für ein wichtiges Thema und komme immer mal wieder darauf zurück. Wichtig finde ich aber, dass man Heroisierungen al la Soldat James Ryan und ähnliches was Hollywood da in der letzten Zeit so ausspuckt unbedingt vermeidet. Maedy hat mit „Im Westen nichts Neues“ ein wunderbares Beispiel zitiert, wie´s auch anders geht. Im Krieg gibt´s in meinen Augen keine Gewinner, sondern nur Verlierer. Für den ersten Weltkrieg gilt das ganz besonders.

Ich will gerne auf einige Kommentare von dir eingehen, meine das aber in keiner Weise als kritikresistent, im Gegenteil dein Beitrag war für mich sehr hilfreich.

Du schreibst:

"Seitdem wartete ich. Wartete auf den Nordostwind, denn der trägt uns auf sanften Schwingen zum Sieg."

Ich frage mich ja was die Franzosen die ganze Zeit machen. Warum greifen die denn nicht an?


Das verrückte an einem Grabenkrieg ist, dass sich der Angreifer immer in einem taktischen Nachteil befindet, ein Grund warum sich im ersten Weltkrieg kaum etwas vor und zurückbewegt. Der Krieg damals bestand zu einem großen Teil einfach aus Warten. Der Gaseinsatz in Ypern ist der Versuch durch die Verwendung einer neuen Waffentechnik am etwas am status quo zu ändern.

"Sie bedeckt bereits den ganzen Horizont"

Das erscheint mir etwas übertrieben.


Die Gaswolke die in Ypern enstand war etwa sechs (!) Kilometer breit und mehr als 600 Meter tief.
Andächtig erscheint mir nicht ganz passend, wenn bei etwas so grausamen zuschaut. Oder ist es für die Soldaten wirklich feierlich, weil sie die Franzosen so besiegen?
Du hast Recht, es ist etwas Grausames, aber etwas das wortwörtlich im Nebel liegt und damit außerhalb des Wahrnehmungsbereichs des Erzählers. Außerdem wissen die Soldaten nicht, was da eigentlich überhaupt passiert.

Das aufgepflanzt klingt mir zu salopp. Oder sagt man das so?

Das ist eine stehende Wendung.

"Aus unseren Reihen fällt kein Schuss."
Auch nicht aus den anderen Reihen.
"Aber worauf sollten wir auch schießen, vor uns ist nur die Wolke."
Würde ich weglassen.

Hier liefert der zweite Satz, genau die Begründung, die du einforderst. Es gibt schlicht nichts worauf man schießen könnte, das gilt auch für die Franzosen.

"Ich warte auf die feindlichen Salven, denn sie müssen nun auch uns sehen können."
Das finde ich etwas zu naiv dargestellt. Klar, sie setzen das Gas das erste Mal ein, aber sie erhoffen sich schließlich davon alle zu töten. Wenn er bis dahin nichts gehört hat, sollte doch klar sein, dass da in den Gräben nicht mehr viel los ist.

Das ist richtig, aber das Verhalten ist genau das Gegenteil von naiv. Stell dir eine Umgebung vor in der die Artillerie jede Woche verkündet man habe die feindlichen Gräben nach stundenlangem Feuer leergefegt. Dann beginnt der Angriff und es zeigt sich jedes Mal, dass die Information Unsinn war und man stattdessen auf einen gut verteidigten Graben zu rennt. Da wird man misstrauisch und übervorsichtig.

"mit einem Kampfruf"
Damit alle gucken?

Eher um sich selbst Mut zu machen.

"Kaum aus dem spärlichen Unterstand getreten, spürte ich den leichten Wind, der aus Nordosten durch den Graben wehte."
Irgendwie finde ich das Bild etwas schief. Der Unterstand ist im Graben, nicht wahr? Der Wind in den Gräben folgt ja nur den Gräben selbst, wie soll es dort drin eine Windrichtung geben?
Danach würde ich einen Absatz machen.

Hier hast du absolut Recht, da muss ich mir eine Lösung überlegen. Der Nordostwind spielt deswegen eine Rolle, weil nur so ein Angriff möglich ist, sonst treibt die Gaswolke in die eigenen Gräben.

Hallo Erdbeerschorsch,

ich verstehe deinen Einwand und danke dir für die Hinweise. Die etwas behäbige und umständliche Sprechweise ergibt sich glaube ich aus zweierlei Gründen. Zum einen aus der gewählten Perspektive des Ich-Erzählers, die dazu nötigt zu versuchen, so zu schreiben, dass man mir abnimmt hier berichtet ein Mensch vom Anfang des 19. Jahrhunderts. Zum anderen, deshalb die Reflexionen von Vergangenem, hatte ich das Gefühl, ich behandle hier ein reales Ereignis, von dem ich ein näheres Wissen beim Leser nicht unbedingt voraussetzen kann. Die ersten, eher berichtenden Teile, sollen dazu dienen, beim Leser. ein ähnliches Verständnis der Dinge zu entwickeln, wie der Protagonist, der ja bereits über das erlebte nachgedacht hat. Daher auch manche Ungenauigkeiten bzw. Lücken, hier habe ich mich an den historischen Kenntnisstand gehalten, den ein etwas misstrauischer Soldat mit ein paar Kontakten haben konnte. Ein Zitat von dir betrifft eine solche Stelle.

"ein mit Chemikalien getränktes Tuch vor dem Gesicht"
-- gerne genauer: Womit getränkt?

An dieser Stelle habe ich auf deswegen auf genauere Angabe verzichtet, weil die Soldaten nicht wussten, was sie sich da eigentlich vors Gesicht binden. Trotzdem hast du Recht damit, dass der Satz etwas steif wirkt. Vielleicht wäre „ein nach Chemikalien stinkendes Tuch vor dem Gesicht.“ eine Lösung.
Vielleicht ist hat in diesen Passagen die Berufskrankheit geisteswissenschaflichen Arbeitens - immer alles erklären zu wollen - etwas überhandgenommen.

Die Hinweise darauf, die im Präsens gehalten Teile des unmittelbar Erlebten noch direkter zu schildern finde ich wirklich vernünftig. Dein Beispiel ist ein sehr hilfreicher Vorschlag. Ich werde mir das durch den Kopf gehen lassen werde und am Wochenende ein bisschen herumexperimentieren.
Das wiederum ganz deutlich distanziert berichtende Ende finde ich gar nicht so schlecht. Es könnte natürlich auch direkter, schmutziger aussehen. Aber distanziert ist da gar nicht so verkehrt, würd ich sagen. Besser wäre halt nur, wenn du vorher etwas mehr Fleisch an die Sache packen würdest, dann könnte ich das Ende als schockierte Distanz wahrnehmen, und das würde mir dann eher noch eins mitgeben.

Hier werde ich denke ich bei dem Distanzierten bleiben. Mir schien Distanz eine natürliche Reaktion auf ein solches, sicherlich auch für die deutschen Soldaten traumatisierenden Ereignis. Der letzte Satz („Vier Kilometer ohne einen einzigen Schuss.“) soll diese Distanz als Schutzmechanismus noch einmal ausdrücken, in dem er eine rein quantitative Zusammenfassung der Situation liefert.

Noch einmal Danke an euch drei, ihr habt mir eine Menge Stoff zum Nachdenken geliefert und ich bin zuversichtlich, dass das der Geschichte nochmal guttun wird.
Beste Grüße

Blumenberg

 

Kurios genug, ist mir ein Augenzeuge der ersten Chlorgaseinsätze zu Ypern unters Auge geraten,

lieber Blumenberg:

„Die französischen Soldaten beobachteten über die Brustwehr ihrer Gräben hinweg diese merkwürdige Wolke, die sie wenigstens für kürzere Zeit gegen das feindliche Feuer schützte; da sah man plötzlich, wie sie die Arme in die Luft warfen, die Hände um den Hals legten und sich dann am Boden wälzten, eine Beute des grausamen Erstickens. Viele erhoben sich nicht wieder, während ihre Kameraden, dem teuflischen Vorgehen gegenüber ohnmächtig, kopflos nach rückwärts flohen, als ob sie wahnsinnig geworden wären, um diesem scheußlich stinkenden Nebel zu entgehen, und liefen bis hinter die weit zurückliegenden Gräben.“ https://www.deutschlandfunk.de/pate...den-ersten.871.de.html?dram:article_id=300096

Achja, der Augenzeuge war (in alfabetischer Reihenfolge) Arzt, Brite und Schriftsteller: Arthur Conan Doyle.

Tschüss und ein schönes Wochenende wünscht der

Friedel

 

Hallo Friedel,

Zufälle gibt´s...

Diesen Augenzeugenbereicht kannte ich bisher noch nicht, aber man lernt ja nie aus. Er liefert eine Perspektive von der der anderen Seite aus. Mal sehen, ob ich ihn aufgetrieben bekomme. Gasmasken gab es damals auf beiden Seiten noch nicht, deswegen war das mit dem Wind so eine heikle Sache.

Ich wünsche dir ein schönes Wochenende

Blumenberg

 

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