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Der stille Tod
Ypern, 22. April 1915
Heute ist es also so weit. Schon nach dem Aufstehen hatte ich dieses ungute Gefühl, dass es ernst werden könnte. Kaum aus dem spärlichen Unterstand getreten, spürte ich den leichten Wind, der aus Nordosten durch den Graben wehte. Obwohl der Generalstab sich die größte Mühe gegeben hatte, von einer Grabendesinfektion war die Rede, blieb es nicht geheim. Konnte es auch nicht. Die Langweile in den Gräben bringt uns zum Sprechen, der Mangel bringt uns zusammen. Ich hatte auf der Suche nach einer Tasse heißen Kaffees vor ein paar Tagen davon gehört. Ein paar Jungs, denn nichts anderes waren diese kaum zwanzigjährigen ehemaligen Studenten, die beim „Desinfektionskorps“ dienten, hatten mir etwas von ihrem zu trinken angeboten und wir kamen ins Plaudern. Sie erzählten von einer neuen Offensive, einer anderen diesmal, einer, die uns den Durchbruch und damit den Sieg bringen würde. Ich hatte mich skeptisch gezeigt, denn jede Offensive bisher sollte anders sein und jede sollte den Durchbruch bringen. Mit Skepsis ist es so eine Sache, da ist der Grad zur Zersetzung der Moral der Truppe schmal, da muss man aufpassen. Aber sie hatten gelacht und mir von den Behältern erzählt, die sie in den Tagen zuvor in Stellung gebracht hatten. 40 Kilogramm schwer, Druckmechanismus zum Abblasen, randvoll mit dem stillen Tod.
Fritz Haber hatte persönlich am 11. April ihren Graben besucht und nach seiner Inspektion nur lobende Worte für seine braven Studenten gehabt, die mit ihm zusammen vom Schießplatz Wahn gekommen waren. Seit diesem Tag war alles bereit, erzählten sie mir, nur der Nordostwind fehlte noch. Ich werde schon sehen, es sei nur eine Frage von Tagen, rief mir einer noch im Hinausgehen zu. Seitdem wartete ich. Wartete auf den Nordostwind, denn der trägt uns auf sanften Schwingen zum Sieg.
Heute Morgen war er da, ich spürte ihn auf meiner Haut. Spüre ihn auch jetzt, im Graben kauernd, ein mit Chemikalien getränktes Tuch vor dem Gesicht, bereit loszustürmen, sobald die schrille Pfeife meines Zugführers mich dazu auffordert. Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass es beinahe so weit ist. Eine Minute vor sechs. Eine Minute, bevor es beginnen soll. Ob die armen Schweine dort drüben in Saint-Juliaan ahnen, was ihnen blüht? Wohl nicht, unsere Spähtrupps haben auf der Gegenseite nichts Auffälliges gemeldet. Wüssten sie es, hätten sie sich längst davongemacht. Noch während ich das denke, schiebt sich der Zeiger voran. Jetzt es ist es so weit. Ich sehe die Unruhe meiner Kameraden, aber noch zögere ich, den Blick über den Rand des Grabens zu heben. Die Franzosen sind ordentliche Schützen und unsere Helme mehr Zier als Schutz.
Als ich die überraschten Rufe von denen höre, die, mutiger als ich, einen Blick riskieren, siegt auch bei mir die Neugier und ich richte mich langsam auf. Dann sehe ich sie. Die gelbliche Wolke ist riesig. Sie bedeckt bereits den ganzen Horizont, aber noch immer strömt neuer Dunst aus den Druckbehältern. Nach nicht einmal zehn Minuten sind die Behälter leer, haben den stillen Tod ausgespien. Keiner von uns denkt mehr daran, nach einem kurzen Blick wieder in Deckung zu gehen. Wir sehen der gewaltigen Wolke zu, die, angetrieben vom Nordostwind, träge in Richtung der französischen Gräben walzt. Es ist beängstigend ruhig, schweigend stehen wir dem stillen Tod Spalier.
Dann reißt uns das Pfeifen des Gruppenführers aus unserem andächtigen Schauen. „Angriff! Raus mit euch aus den Gräben!“, brüllt er und stürmt voran. Wir folgen, die Gewehre mit aufgepflanztem Bajonett in Position. Aus dem schwungvollen Loslaufen wird rasch ein langsames Traben, die Wolke zwingt uns ihre Geschwindigkeit auf. Aus unseren Reihen fällt kein Schuss. Aber worauf sollten wir auch schießen, vor uns ist nur die Wolke.
Ich setze einen Fuß vor den anderen, horche gespannt, um mich beim ersten Dröhnen des feindlichen Feuers auf den Boden zu werfen. In Deckung, nur in Deckung, wenn die Hölle losbricht. Aber sie bricht nicht los, nur Schweigen erwartet uns. Schritt für Schritt nähern wir uns dem Feind. Der Weg durch das schlammige Niemandsland zwischen den Grabensystemen scheint dieses Mal einfach nicht enden zu wollen.
Plötzlich taucht unvermittelt der erste feindliche Graben aus dem gelben Dunst auf. Ich warte auf die feindlichen Salven, denn sie müssen nun auch uns sehen können. Doch noch immer herrscht nur diese gespenstische Ruhe. Ich packe mein Gewehr fester und beschleunige meinen Schritt. Dann sind wir heran und ich springe mit einem Kampfruf in den Graben hinab. Als ich lande, gerate ich ins Stolpern und falle. Panik macht sich in mir breit, ich weiß, ich bin wehrlos. Schnell rapple ich mich hoch, bereit, mit dem Bajonett zuzustoßen, auf den Feind, der mich hier erwartet. Die Reste des Chlorgases brennen in meinen Augen und lassen sie tränen. Ich blicke mich um, aber alles, was ich sehe, ist der Tod.
Vielleicht dachten sie, es sei Rauch, der uns vor ihren Blicken verbergen sollte. Wer von ihnen sollte schon ahnen, dass es der stille Tod ist, der über sie hinwegzieht. Der stille Tod, der ihre Lungen verätzt, so dass sie sich mit Blut füllen. Jetzt liegen ihre im Todeskampf verdrehten Leiber in den Gräben, so weit ich sehen kann. Vier Kilometer stoßen wir vor, vorbei an Toten und Sterbenden, für die es keine Rettung mehr geben kann, sondern nur noch das Ende. Vier Kilometer ohne einen einzigen Schuss.