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Der Stern von Bethlehem
Seit zwei Stunden fahren wir bergab. Es ist stockdunkel, ich weiß nicht, ob man Sterne sehen könnte, wenn das Autodach aus Glas wäre. Eva und mir knurrt der Magen. Die letzten Kekse sind verbraucht, nur noch Krümel, überall dort, wo sie stören. Der Motor brummt mit lästiger Monotonie, wir schweigen, wie so oft. Die lange Wanderung über das verschneite Hochplateau hat mich total erschöpft, ein desillusionierendes Gefühl nach all den großartigen Natureindrücken, den im Abendrot feurig leuchtenden Sandsteinzinnen. Jetzt hat uns die Routine des Reisealltags wieder fest im Griff, unerwartet lange dauert die Abfahrt auf der serpentinenreichen Strecke. Mir schmerzen die Beine, Eva leidet wahrscheinlich genauso sehr. Die Straße soll zu irgend so einem Ort führen, dessen Nachbarorte alle ‚weit weg’ heißen. Von dem Dorf weit und breit keine Spur, keine Anzeichen von Menschen, Entspannung, Nahrung. Dann geschieht das Wunder: In der Ferne taucht ein kleines, gelbes Licht auf. Es verschwindet wieder, aber nach einer Haarnadelkurve ist der helle Fleck erneut zu sehen. Nach jedem Verschwinden kommt das Licht größer zum Vorschein. Der Stern von Bethlehem, denke ich, die Erlösung, unser Ziel. Eva lächelt mich sogar an. Wir erkennen sofort das wohltuende M - die Leuchtreklame einer Imbisskette.
Ich muss dauernd an eines denken: an etwas Nahrhaftes, Herzhaftes, etwas, das den Bauch schnell füllt, saftig und salzig. Auch wenn ich die Argumente gegen Fast Food kenne - im Moment interessieren mich ausschließlich Kalorien, ganz ohne schlechtes Gewissen, das Verlangen nach wohltuender Sättigung überwiegt. Ach was, Kalorien sind etwas Gutes, sie tun dir nichts, beißen doch nicht, sind dazu da, verschlungen zu werden. Nach annähernd einer Stunde ist es endlich soweit, Eva und ich stürmen in das beinahe leere Lokal.
Herrliche Düfte schlagen uns entgegen, gebratenes Fleisch, Zwiebeln, süßliches Ketschup, alles untermalt vom himmlischen Geruch brutzelnden Fetts. Wir sitzen am Tisch, wohlig gefüllt. Meine Hände kleben vom Saft des Hamburgers, ein Tropfen läuft mir am Unterarm bis in das aufgekrempelte Hemd, Evas Mund glänzt, als hätte sie trotz ihrer Mattigkeit Lip Gloss aufgelegt. Es ist aber nur Mayonnaise. Sie bemerkt meinen prüfenden Blick. Ertappt. Fast schon beschämt schaue ich zur Seite. Nicht einmal diese Art von Intimität kann uns verbinden. Mein voller Magen unterstützt die bereits vorhandene Müdigkeit, im Moment hält der stark gezuckerte Kaffee mit seinem Koffein wohltuend dagegen. Dieser Zustand zwischen Aktivität und Entspannung fühlt sich einfach großartig an, entscheidungsloser Raum, eine Welt der Freiheit. Dankbarkeit kommt in mir auf, welch geniale Idee, praktisch fettlose Kartoffeln mit Fett zu vermählen, Salz, Wärme, Knusperduft, zarte Berührung - das alles gleichzeitig, ein Konzert aus Genuss-Akkorden, eine Hymne an ein überwältigendes Geschmackserlebnis. O Belgien, du kleines, kaum beachtetes, aber auserwähltes Land, welch großes Geschenk gabst du der Menschheit, der Menschheit gabst du ein großes Geschenk! Ich sehe die Massen gelben Goldes, goldgelb, herzhaftes Aroma verströmend aus diesem Land ausgehen, weiter gereicht von Hand zu Hand, Heerstraßen freudig vergebener Tüten mit Pommes Frites, grenzüberschreitend, sehe Menschen, sich wohlfühlend, verbrüdernd.
Huch - ich war eingenickt. Geistesabwesend reibe ich mir die Augen, in einem Augenwinkel brennt etwas Salz. Wo steckt Eva bloß? Ihre Tasche und die Jacke sind weg. Vielleicht ging sie zur Toilette? Doch nicht mit ihrer Jacke. Auf ihrer Papierunterlage, zwischen verschiedenen bunt gedruckten Salatangeboten, bei dem ‚All you can eat-Menü’ sehe ich eine mit Lippenstift geschriebene Notiz. Zwei Wörter. Das ist alles:
Mir langt's
Zwei Wörter, nicht einmal ein Ausrufezeichen. Ich gehe zur Kasse.
„Haben Sie die Frau gesehen, die bei mir war?“
„Glaub es war ein goldener Truck, sie ist weg.“
Achselzuckend bezahle ich, laufe rüber zum Motel. Ein Truck, sechshundert PS pure Freiheit, na ja. Ich brauche nur noch ein Einzelzimmer. Jetzt und die nächsten Tage, Monate, Jahre?
Die Leuchtreklame taucht den Parkplatz in gelbes Licht. Sie sieht schmutzig aus, ist nichts weiter als verdrecktes Plastik. Beharrlich stoßen die letzten lichthungrigen Motten mit ihren Köpfen daran.
Morgen werde ich weiterfahren, brauche ein neues Ziel.
Irgendein neues Ziel wird sich schon finden, schließlich ist in ein paar Tagen Weihnachten.