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- Anmerkungen zum Text
Die Spielsucht hat in den letzten Jahren zugenommen. Oft sind Kinder die Leidtragenden.
Märchen können zu einem Gespräch anregen.
Der Steinwandler und die Tochter des Spielers
Es war einmal ein kleines Mädchen, das lebte mit seinen Eltern am Rande der Stadt Minimus. Sie hieß Livi und war acht Jahre alt. Noch etwas müde streckte sie die Beine aus dem Bett, um eilig ans Fenster zu laufen. Es war Samstag, sie musste nicht in die Schule und Mama nicht zur Arbeit. Vor dem Haus stand Papas großer Lastwagen. Wie unzählige Male vorher hatte er bis spät in die Nacht gearbeitet. Der Brummi, so nannte Papa seinen Lastwagen, gehörte nicht ihm, sondern der Firma, bei der er als Fernfahrer angestellt war. Jedes Mal, wenn Livi den riesigen Laster sah streckte sie ihr Stupsnäschen mit den fünfundzwanzig Sommersprossen, ein wenig höher in die Luft. Denn sie war megastolz auf ihren Vater, weil er einen so großen Lastwagen fahren konnte. Beim Frühstück würde sie ihn daran erinnern, dass er ihr versprochen hatte, sie einmal mitzunehmen. Sie wünschte sich so sehr neben Papa im Führerhaus zu sitzen. Der Brummi besaß zwei Schlafkabinen. „Du darfst oben schlafen, wenn ich dich mitnehme“, hatte er gesagt. Schnell schlüpfte Livi in Jeans und T-Shirt. Als sie im Badezimmer stand und sich hastig mit der Bürste durch die dunklen Locken fuhr, hörte sie die Stimmen ihrer Eltern.
„Ich weiß genau, dass ich das Geld für Livis Schulausflug hier versteckt habe, du hast es gefunden.“ Mamas Stimme klang rau und traurig.
„Habe ich nicht! Du wirst es irgendwo anders versteckt haben!“
Livi wusste genau, dass ihr Vater log. Denn außer ihren Eltern kam nur sie in die Küche und sie hatte das Geld nicht genommen. Sie presste ihre Hände auf die Ohren. Trotzdem hörte sie ihre Mutter.
„Livi? Hast du das Geld aus der Backpapierrolle genommen?“
Sie trat aus dem Badezimmer: „Habe ich nicht!“ Ihre Stimme zitterte durch den kleinen Flur.
Obwohl Mama sich immer tolle Verstecke einfallen ließ, fand Papa sie alle, wenn er Geld für die Automaten brauchte. Er lief zum Haus um die Ecke, wo die große Sonne über dem Eingang hing.
Einmal hatte Mama sie dorthin geschickt, um Papa abzuholen. In dem Raum war es dunkel gewesen, nur die Automaten leuchteten und blinkten. Voller Furcht hatte sie zwischen den stummen Menschen, die ebenfalls Geld in die Automaten steckten, ihren Vater gesucht.
„Livi hat das Geld nicht. Du hast es doch wieder verspielt. Jetzt kann sie nicht mit zum Schulausflug!“ Mama schrie und weinte gleichzeitig.
Livi schlich auf Zehnspitzen an der angelehnten Küchentür vorbei, schlüpfte ohne Strümpfe in die blauen Sportschuhe und schloss leise die Haustüre. Sie wollte nicht miterleben, was wieder und wieder passierte … Papa und Mama würden so lange streiten, bis Papa die Türe mit einem lauten Knall zuwarf und Mama weinend in der Küche zurückließ.
Auf diesen blöden Ausflug wollte sie sowieso nicht. Die anderen Kinder besaßen bunte, schöne Rucksäcke. Ihre Trinkflasche und die Brotbox steckten in einem Stoffbeutel mit dem Aufdruck: Eber – Transporte. Emmy und Lea, ihre beiden Freundinnen, durften sich bei jeder Klassenfahrt Eis oder Getränke kaufen. Sie bekam von Mama nie Geld mit.
Livi stand vor der Haustüre und überlegte: Vielleicht sollte sie in den Wald gehen und dort leben, da gab es Pilze und Beeren. Aber auch Leute, die einen Spaziergang machten, bedachte sie. Ihr fiel die Höhle auf dem Kilians Berg ein. Leider wuchs direkt vor dem Eingang ein stacheliger Hagebuttenstrauch. Das war aber nicht der einzige Grund, warum ihre Freundinnen nicht in die Höhle wollten.
„Da drin gibt es bestimmt Kreuzspinnen“, hatte Emmy gesagt und sich geschüttelt.
„Mein Bruder hat erzählt, in der Höhle gibt es einen tiefen Schacht. Da drin sind schon Kinder verschwunden. Gruselig!“ Lea hatte Emmy und Livi an die Hand genommen und fortgezogen.
Trotzdem, würde sie jetzt genau da hingehen und nie wieder zurückkommen.
So schnell sie konnte, stieg Livi den steilen Hang am Kilian Berg hinauf. Sie achtete nicht auf die Silberdisteln, über die sie sich sonst freute, wenn sie eine in dem hohen Heidegras entdeckte. Auch das Zittergras, das so lustig an den Beinen kitzelte, spürte sie nicht. Immer höher, an Wacholderbüschen und Ginster vorbei, bis zu dem Kreidefelsen mit der zartrosa blühenden Hagebutte davor. Livi musste einen Moment verschnaufen, bevor sie sich schwer atmend zwischen dem Felsen und dem stacheligen Strauch in die Höhle zwängte. Der Eingang war so schmal, dass sie ihre Arme vorstrecken musste, um hindurch zu schlüpfen. Sie lag auf dem Bauch, kühl und feucht spürte sie Erde unter sich. Was, wenn es diesen Schacht wirklich gab? Vielleicht war er dicht neben ihr? Vielleicht würde sie hineinfallen, wenn sie weiter nach vorn kroch! Mit zittrigen Beinen setzte Livi sich auf und blieb dicht am Eingang sitzen. Sie schlang die Arme um die Knie und starrte in die Dunkelheit. Gab es hier wirklich Kreuzspinnen? Sie zog den Kopf ein. Dann dachte sie an Mama. Ob sie wohl schon nach ihr suchte? Sollte sie sich ruhig Sorgen machen, sie war selbst schuld! Warum musste sie sich ständig mit Papa streiten? Und warum verspielte ihr Vater alles Geld? Sie dachte an die Schule und die mitleidigen Blicke ihre Freundinnen, weil sie nie mit ins Kino oder Freibad konnte. Jeder Gedanke ließ eine dunkle Kälte zurück. Dunkler und kälter als die Finsternis der Höhle. Livi weinte. Nie, nie wieder werde ich zu euch nach Hause kommen, rief sie in die Höhle und schluchzte laut. Kurz darauf hörte sie ein Kratzen. Erschrocken lauschte Livi und traute sich nicht mehr zu atmen. Ein Geräusch, wie Fingernägel, die über eine Wand schaben, wurde lauter und lauter. Etwas befand sich mit ihr in der Höhle. Es war ganz in der Nähe. Die Finsternis wich einem dunklen Grau. Deutlich sah sie nun einen Schacht, aus dem Licht strahlte, das an den Höhlenwänden auf und ab tanzte. Livi überlegte, ob sie verschwinden sollte, doch sie traute sich nicht, auch nur einen Fuß zu bewegen.
Aus der Dunkelheit der Schacht strecken sich zwei lange Spinnenbeine. Zwei Trocken schluckte Livi, kein Tröpfchen Spucke war mehr in ihrem Mund. Etwas Graues schob sich aus dem Loch.
Ein Stein, so groß wie ihr Kopf, kam auf acht Beinen auf sie zu. Nichts wie weg! Livi drehte sich um und wollte zum Ausgang.
„Ich tue dir nichts! Du kannst ruhig hierbleiben!“ Die Stimme klang so sanft, dass Livi sich umdrehte. Von der Steinspinne war nichts mehr zu sehen. Statt ihrer stand da jetzt ein kleines Mädchen. Ungläubig starrte Livi es an.
„Entschuldige bitte, wenn ich dich erschreckt habe. Ich bin ein Steinwandler und damit du dich nicht fürchtest, habe ich mich in ein Kind verwandelt. Warum weinst du denn?“
Livi spürte erst jetzt, dass ihr immer noch Tränen über die Wangen liefen. Sprachlos über die Verwandlung schaute sie in die blauen Augen des blonden Mädchens.
Das Mädchen in dem roten Kleid trat neben sie. „Darf ich dich in den Arm nehmen?“
Zaghaft nickte Livi.
„Es wird alles wieder gut werden“, tröstete es Livi und wiegte sie sanft hin und her.
„Nein, nichts wird gut werden! Und ich werde auch nie, nie wieder nach Hause gehen.“
„Komm mit, und erzähl mir alles.“ Das Mädchen zog Livi zum Schacht.
„Schau, dort unten haben meine fleißigen Helfer ein Netz für uns gesponnen. Wir brauchen uns nur fallen zu lassen. Gib mir deine Hand, wir springen zusammen!“ Das Mädchen griff nach Livis Hand, und zog sie in den Schacht. Livi schloss die Augen.
Sie hüpften einige Male auf und ab, bevor sie von dem Spinnentrampolin steigen konnten. Das Mädchen fasste sie wieder an der Hand und gemeinsam liefen sie durch einen Gang, der ins Innere des Berges führte. Er endete in einer riesige Höhle. Mit einem großen Stein verschloss das Mädchen mühelos den Gang. Tausende Glühwürmchen leuchteten an der Decke. Blumen blühten auf einer Wiese und ein schmaler Bach schlängelte sich an Hahnenfuß und Sumpfdotterblumen vorbei. Inmitten der Wiese stand ein kleines Haus, aus dessen Fenster ihr ein Junge und ein Mädchen zuwinkten.
Lächelnd zog das fremde Mädchen Livi zu der Holzbank, die einladend vor dem Haus stand. Behutsam legte es den Arm um ihre Schultern. „Jetzt erzähle mir einmal, warum du geweint hast.“
Livi berichtete von Mama und Papa und wie traurig sie sich fühlte, wenn die beiden miteinander stritten. Von den Automaten, in die ihr Vater so viel Geld steckte. Von den Freundinnen und wie sehr sie sich schämte, weil sie nie ins Kino oder ins Freibad mitkonnte. All ihren Kummer vertraute sie dem Mädchen an.
„Das alles tut mir leid“, sagte das Mädchen zu ihr, als Livi mit hängenden Schultern schwieg. „Möchtest du hier bleiben? Es würde dir bei uns gut gehen.“
„Für immer?“ Livi riss bei der Frage die Augen weit auf.
„Ja. Möchtest du mit uns im Berg leben?“
Livi runzelte die Stirn und dachte angestrengt nach. Oh je, was sollte sie jetzt machen? Sie hatte doch nie wieder nach Hause gehen wollen und hier war es auch wirklich schön. Nur, Mama nie wiedersehen und mit Papa nie im Lastwagen mitfahren. Die beiden würden sicher schrecklich traurig sein und weinen, wenn sie nicht wieder nach Hause kam. Nein, so ernst war das nicht gemeint. Sie war doch nur so schrecklich wütend und traurig gewesen. Livi schüttelte den Kopf, so dass ihre Locken nach allen Seiten flogen. „Nein, ich möchte nicht hierbleiben. Ich möchte doch lieber wieder nach Hause.“
Das Mädchen lächelte sie an. „Nun gut, dann werde ich dir zum Abschied einen Wunsch erfüllen.“
Es gab nichts auf der Welt, was Livi sich mehr wünschte, als dass ihr Vater mit dem Spielen aufhörte. Dann würde Mama nicht mehr weinen.
„Ich wünsche mir, dass Papa aufhört, mit den Automaten zu spielen!“
Livis Herz klopfte schneller, war es wirklich möglich, dass ihr sehnlichster Wunsch erfüllt wurde?
Das Mädchen griff in die Tasche ihres Kleides und zog ein Geldstück heraus. „Hier gib es deinem Vater. Er wird damit noch einmal zu den Automaten gehen. Doch hab Vertrauen, er wird nicht spielen.“
Livi steckte die Münze in die Tasche ihrer Jeans.
„Komm!“, sagte das Mädchen und nahm sie an die Hand. Gemeinsam liefen sie zum Ausgang.
Abermals rollte das Mädchen den schweren Stein auf die Seite und das Leuchten der Glühwürmchen erhellte den dunklen Gang. Am Schacht angekommen, verwandelte sich das Mädchen zurück in die Steinspinne. „Halte dich an mir fest!“
Livi schlang ihre Arme um die Spinne und huckepack ging es den Schacht hinauf.
„Du darfst keinem Menschen etwas von dem, was du hier gesehen hast, erzählen, sonst wird dein Wunsch nicht in Erfüllung gehen. Sobald er sich bewahrheitet, wirst du alles vergessen“, erklärte ihr die Steinspinne zum Abschied.
Livi ging nach Hause. Ihr Vater warf gerade mit einem lauten Knall die Haustüre zu.
„Papa!“, rief Livi und umarmte ihn fest, wobei sie ihm unbemerkt das Geldstück in die Jackentasche steckte.
„Hallo mein Schatz! Ich muss noch kurz etwas erledigen. Bis später, ja?“
Livi war drauf und dran, ihrem Vater hinterherzulaufen. Sie wusste genau, wo er hinging, aber er würde böse werden, wenn sie ihm in die dunkle Spielhalle folgte.
So ging sie zu ihrer Mutter in die Küche, die weinend am Tisch saß. „Ach, meine Kleine, jetzt haben wir wieder kein Geld mehr.“
Livi nahm sie in den Arm. „Es wird alles gut werden, Mama, du brauchst nicht mehr zu weinen.“
Ihre Mutter wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. „Dafür bräuchte es schon ein Wunder, denn ich glaube, dein Vater ist schon wieder beim Spielen.“
„Ich habe Hunger Mama, soll ich dir beim Kochen helfen?“, versuchte Livi ihre Mutter abzulenken.
In der Spielothek stand ihr Vater vor seinem Lieblingsautomaten. Er griff in die Jackentasche, um das Geld für Livis Ausflug herauszuholen, als er die Münze spürte. Ich habe ja noch Kleingeld, dachte er, und wollte das Geldstück in den Automaten werfen. Da brannte es ihm wie Feuer zwischen den Fingern. Erschrocken sah er das Geldstück an. Es zeigte das Gesicht seiner weinenden Frau. Voller Panik drehte er die Münze um, auf der anderen Seite sah er das Gesicht seiner Tochter, auch ihr liefen Tränen über die Wangen. Da begriff der Mann, dass ihn etwas vom Spielen abhalten wollte und er die Schuld daran trug, dass seine Frau und sein Kind weinten.
Er rannte nach Hause und gab seiner Frau das Geld aus dem Backpapier zurück.
Livi durfte an diesem Wochenende mit ihrem Papa im Führerhaus mitfahren. Warum ihr Vater ein Geldstück in einem Bilderrahmen aufbewahrte, verstand sie nicht, denn an den Steinwandler konnte sich Livi nicht mehr erinnern.