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Der Stein des Anstoßes

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10.05.2007
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Der Stein des Anstoßes

... lag auf dem Parkett im Wohnzimmer meiner Urgroßmutter, direkt vor meinen Füßen. Ich hatte vor der Wohnungstür meine Schuhe abgestreift und saß jetzt in Socken auf einem der drei Ledersessel, erblickte den winzigen Stein, während Uroma den Flur putzte. Wir nannten sie Oma Hilde, obwohl sie mit vollem Namen Hildegard hieß. Vor fünf Jahren, damals war ich zwölf, hatte ich sie das letzte Mal besucht. Seitdem war sie zwischendurch zweimal bei meinen Eltern und mir auf Besuch gewesen.

Eigentlich war der Stein nur ein Splitt- oder Schotterkörnchen. Aber er stach sofort ins Auge auf dem glänzenden Boden, wie ein Fremdkörper in dieser geordneten rechtwinkligen Wohnlandschaft. Ich schmiss den Störenfried in die Hausmülltonne der engen Küche.

Nun kam Oma Hilde in die Stube herein, in ihrer Linken hielt sie noch den Putzlappen und suchte mit ihren hervorquellenden Augen aus einem hohlwangigem Gesicht den Boden vor mir ab nach diesem zwergenhaften Schotterbrocken. Sie sagte, sie hätte ihn dort liegenlassen und wolle ihn nun nach draußen bringen zu den anderen an die Straße. Der Heizungsableser habe ihn reingeschleppt. Kein anderer habe ihre Wohnung mit Straßenschuhen betreten.

Ich sagte ihr, dass ich das Steinchen bereits entsorgt hätte in dem Müllsack in der Küche. Oma Hilde, die eben noch in beflissenen Körperbewegungen agierte, erstarrte augenblicklich. Nicht nur ihre Augen signalisierten mir ihren Schrecken. Seit mehr als einem viertel Jahrhundert habe sie korrekt den Müll getrennt, und nun hätte ich dies geordnete Leben mit einem Streich beendet. Ich bemühte mich, sie zu beruhigen, denn es handelte sich schließlich nur um einen Splitt mit einer Oberfläche von ein paar Quadratmillimetern. Jedoch darunter schienen sich unendlich mehr Anteile als unter der Spitze eines Eisbergs zu verbergen.

Oma Hilde kramte eine Plane aus dem Keller hervor, welche die Maler im Sommer bei der Renovierung hatten liegen lassen. Sie breitete die Folie im Wohnzimmer aus. Die Küche wäre dazu zu klein gewesen und draußen auf der Terrasse war es regnerisch und kalt. Dann kippte sie den Inhalt der Mülltonne aus und verteilte ihn, gab mir ein Paar Latexhandschuhe und forderte mich auf, nach dem Steinchen zu fahnden, und zwar akribisch in jeder Falte eines zerknüllten Papiertaschentuchs.

Nachdem ich jedes Teil sorgfältig untersucht hatte, beförderte ich es zurück in die Tonne. Am Ende hatte ich kein Steinchen Bauschutt entdeckt. Oma Hilde war betrübt, räumte die Plane fort und bereitete uns eine Kaffeetafel mit Selbstgebackenem. Wir lenkten unser Gespräch weit weg von dem Steinchen, das uns wie ein riesiger Granitfelsen auf der Seele lag; unterhielten uns darüber, wie es meinem Vater und meiner Mutter ging, als plötzlich die Sonne die Regenwolken durchbrach und aufs Parkett strahlte. Und wenig später strahlte auch Oma Hilde, denn sie hatte ein winziges Steinchen ausgemacht, das einen riesigen Schatten geworfen hatte, unweit von der Stelle, wo es ursprünglich gelegen hatte.

Ich wunderte mich, wie es dahin kommen konnte. Oma Hildes Welt nahm wieder ihre alte Ordnung an. Ich verbrachte das Steinchen nach draußen an die Straße zu den anderen. Als ich das Splitterchen so zwischen den Fingern hielt, kam es mir so vor, als hätte es eine etwas länglichere Form als das, welches ich in den Müll transportiert hatte, behielt es aber für mich.

Die Nacht zum Sonntag konnte ich nicht einschlafen auf Oma Hildes Kannapee, wälzte mich unruhig umher in einem Meer von moralischen Missempfindungen. Ich musste ihr gegenüber aufrichtig sein und ich teilte ihr mit, dass der Stein nicht der Stein gewesen sei, sondern ein ähnlicher, der sich vielleicht in der Malerfolie versteckt gehalten habe. Ich wollte nochmals den Müll durchsuchen. Oma Hilde winkte ab. Die Nacht zum Montag durchstöberte ich heimlich wiederholt alles, jedoch ohne Erfolg. In meiner Vorstellung war die Oberfläche des Gesuchten in den Nanobereich geschrumpft, während seine Innenfläche gigantische Dimensionen angenommen hatte.

Bei meinem Abschied in der Frühe sah ich den Müllwagen wegfahren, nachdem Urgroßmutter die Tonne heraus gestellt hatte. Einen Monat später war Oma Hilde gestorben. Soweit ich weiß, wurde der Stein niemals gefunden. Wir trugen ihn innerlich mit uns herum, bis ans Ende, schweren Herzens.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Betula,

was soll ich sagen? Ich finde deine Geschichte fantastisch. Du fängst hier etwas ein, von dem ich dachte, es gäbe es nur in meinem Leben. Obwohl wenig so sinnlos ist, wie einen Stein korrekt zu entsorgen, wird es hier plötzlich sehr wichtig. Ich halte das für ein Luxusproblem, denn jemand aus einem armen Land, der Hunger leidet, wir schwerlich Verständnis für sowas aufbringen. Aber ich kann die Gefühle in deiner Geschichte absolut nachvollziehen. Bei mir ist es häufig so, dass ich Leben und Willen in tote Dinge hinein interpretiere. Z.B. lege ich ungern Waren ins Regal zurück, wenn ich sie einmal in der Hand hatte, weil ich das Gefühl habe, die Ware wäre sonst traurig, fühlt sich nicht wertig genug... verrückt, ich weiß ;)

Und genau dieses Gefühl hast du hier eingefangen. Oma Hilde ist es eben wichtig, es "richtig" zu machen. Ihr Enkel erkennt das und fühlt sich schuldig. Am Ende stirbt die Oma. Ich an der Stelle des Enkels wäre wohl mein Leben lang traurig, obwohl Oma Hilde den Stein wahrscheinlich schon längst vergessen hat. Aber der Oma war es eben wichtig.

Hat mir sehr gut Gefallen, deine Geschichte.

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EDIT: "Ein Trost ist höchstens, dass sie nicht wusste, dass es der falsche Stein war."
Diesen Satz habe ich gestrichen. Die Oma wusste es doch.

 

Hallo Betula,

einmal abgesehen davon, dass ich deinen Sprachstil manchmal etwas sperrig finde, fand ich die Idee, mal auf diese Weise die Abartigkeiten der Müllentsorgung auf's Korn zu nehmen, sehr gut.

Ihre Umsetzung hätte in puncto Satire noch krasser sein dürfen und können und insoweit fehlt mir eine deutliche Ecke mehr an Überspitzung. Insgesamt ist dir aber ein lesbares Geschichtchen gelungen, bei dem man schmunzeln muss. Besonders das Ende liegt mir sehr in Richtung Satire. Gut so.


ABER ich möchte noch einen für mich unangenehmen Punkt bezüglich deines User-Verhaltens anmerken, denn dies stößt mir sehr auf.

Ich sehe, dass du 53 Beiträge geschrieben hast und seit 2007 schon hier bist. In all dieser Zeit hast du bisher ausschließlich auf deine vielen eigenen Geschichten reagiert, aber KEIN EINZIGES MAL einem anderen User die Freude bereitet, ihm ein Feedback zu geben.

Mich irritiert deine Nehmerposition, die du hier eingenommen hast, zutiefst, weil ich bisher immer davon ausgegangen bin, dass irgendwann einfach bei jedem der Autoren die gute Kinderstube durchschlägt und dann zumindestens so etwas wie ein schlechtes Gewissen dafür sorgt, auch anderen Autoren eine Kritik zu schreiben.

Wieso klappt das nicht bei dir?

Lieben Gruß

lakita

 

Danke, JoGy, ist offenbar kein Text für dich. Abba macht ja nichts.

Danke, Henrik.

Lakita, ich habe registriert, ihr habt hier auch Nur-Leser. Dann ist ja gut, wenn ich Texte reinstelle. Braucht ja keiner drauf antworten. Aber ich denke, wenn es trotzdem jemand tut, dann weil er gerne lektoriert. Ich habe wenig Ahnung von belletristischer Literatur, bin darin nicht belesen, schreibe nach Gusto. In den Texten der anderen krickel ich nicht herum.

LG Betula

 

In den Texten der anderen krickel ich nicht herum.

Bald krickelt auch keiner mehr in deinen Texten rum.

Abba macht ja nichts.

 

Betula

interessant, dass du sogar soweit gehst, die Dinge zu deinen Gunsten zu verdrehen:

Lakita, ich habe registriert, ihr habt hier auch Nur-Leser.

Oh ja! Davon haben wir sogar mehr als Autoren. Aber Nur-Leser heißt, was es heißt.

Und du gehörst eindeutig nicht zu dieser Gattung.

Ich hätte mir anstelle deiner lauen und obendrein noch höchst ungenauen Antwort dennoch ein wenig Respekt dir gegenüber abgerungen, wenn du wenigstens ehrlich geschrieben hättest:

"Stimmt, bin halt nur hier um mitzunehmen, was ich kriegen kann. Die Arbeit mit anderen Autoren interessiert mich nicht."

Lieben Gruß

lakita

 

Lakita, ich sehe das etwas anders. Ich stelle Texte zur Verfügung für die Nur-Leser. Handelte es sich um ein Forum, wo ausschließlich Autoren gegenseitig ihre Texte verbessern, müsste ich passen.

LG Betula

 

He Betula

Ich stelle Texte zur Verfügung für die Nur-Leser. Handelte es sich um ein Forum, wo ausschließlich Autoren gegenseitig ihre Texte verbessern, müsste ich passen.
wenn deine Texte so klasse wären, würd's ja (vielleicht) nicht stören, aber so:

:whocares::deal::thumbsup:

 

Ja, Isegrimm, da sprichst du mir aus der Seele. Ich habe mich Heiligabend gegenüber einem guten Bekannten, mit dem ich mich nur selten treffe, geoutet und ihm erzählt, dass ich im Internet Texte stehen hätte. Er grinste und meinte augenzwinkernd, im Schmierennetz. Wiederholt musste ich mir so etwas anhören von anderen Bekannten. Den besten Ruf haben Netztexte wohl allgemein nicht. Insofern dürfte keiner in seinen Erwartungen enttäuscht werden beim Lesen meiner Lektüre.

LG Betula

 

Hallo Betula,

vielleicht gibt es im Netz Foren mit miesen Texten. Hier aber ganz bestimmt nicht. Selbstverständlich findest du hier Qualitätsunterschiede, blutige, aber lernbereite Anfänger und richtige Könner. Und weißt du was? Gerade die sind es, die sich größte Mühe geben, den Anfängern zu helfen. Da wird viel Zeit und Zuwendung geschenkt. Ich habe mich noch nie geschämt, dieses Forum in meinem Bekanntenkreis vorzustellen, und da hat es allerhand kritische Geister. Ich selber lerne am meisten übers Kommentieren. Da muss man sich oft mehr outen als in den eigenen Texten. Ich wundere mich, dass du diese Chance in sieben Jahren nicht genutzt hast.

Gruß wieselmaus

 

Wieselmaus, das freut mich für dich. Und ich freue mich auch über Texter, die Literatur lieben. Ich gehöre nicht dazu. Aber ist ja eigentlich egal. Ich werde ja jetzt nur kritisiert wegen meiner Nichtlektorierung von den Texten der Mitautoren.

LG Betula

 

Aber ist ja eigentlich egal. Ich werde ja jetzt nur kritisiert wegen meiner Nichtlektorierung von den Texten der Mitautoren.

Also mein "Mitleid" hält sich angesichts deiner so überaus sozialverträglichen *Ihr-könnt-mich-alle-mal-gernhaben*-Statements sehr in Grenzen.
Ich muss schon sagen, dass ich selten eine so dermaßen unsympathische Attitüde hier in diesem Forum angetroffen habe. Auch eine "Leistung"!

 

Mitleid habe ich auch wenig mit den Leuten hier, die sich große Mühe geben mit ihren Kurzgeschichten, die ja doch keiner haben will. Die Leserschaft bevorzugt Romane.

LG Betula

 

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