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Der Stein des Anstoßes
Der See liegt wie eine schwarze undurchsichtige Folie vor ihr. Der Wind hat nachgelassen, aber die klare Luft ist kalt. Der Mond verbirgt sich in der Einsamkeit des Erdschattens und lässt nur eine dünne Sichel im Licht zurück. Es ist völlig still. Um diese Stunde verirrt sich kein Fahrzeug herauf an den See. Einige Schritte geht sie ziellos dem Wasser entgegen, fühlt sich voll Energie und gleichzeitig verloren. Sie bückt sich, hebt einen kleinen Stein auf, versucht ihn kurz mit klammen Fingern zu kneten und zu quetschen. Dann holt sie aus, wirft, und die schwarze Folie vor ihren Augen zerreißt. Dort wo der Stein versinkt, bilden sich matt glänzende Kreise. Er dringt weit in die Tiefe vor und nichts an der Oberfläche bleibt wie es war. Abertausende Wassertropfen werden bewegt. Ein kleiner Stein bloß und doch hat er im begrenzten Raum die Macht alles zu verändern.
So wie Nadja die klösterliche Stille eines Tages mit einem unbeherrschtem „wo ist denn hier das Scheißtelefon?“ zerriss. Die Frau am See bleibt mit dem Saum ihrer schwarzen Schwesterntracht im Unterholz hängen. Wütend reißt sie den Stoff aus dem Geäst. Dann läuft sie. Läuft ohne Ziel durch die Nacht, nur um das Gefühl der Umklammerung loszuwerden. Sie ringt nach Luft. Doch sie möchte immer weiter laufen, möchte Nadjas warmem Atem in ihrem Nacken entkommen ….
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Nadja hatte sich vor zwei Tagen ein Moped bei einem Verleiher im Dorf gemietet und war damit in die Berge gefahren. Die Maschine war der steinigen alten Straße nicht gewachsen gewesen und war zwei Kurven vor dem Klostereingang am Straßenrand liegen geblieben. Nadja reagierte wie eine Furie als sie feststellen musste, dass das Kloster weder über Telefon noch Strom verfügte und sie der einbrechenden Dunkelheit wegen, in den Klostermauern festsaß.
Schon während des Abendessens begann sie ihre Kieselchen in das Meer der betenden Frauen zu werfen. Es machte ihr Mühe schweigsam den frommen Monologen der Schwestern zu lauschen. Sie seufzte, verdrehte die Augen und trommelte mit den Fingern auf den Tisch. Ihr ganzes Verhalten zeigte Abwehr. Wozu soll das gut sein, fragte sie, als das Beten endlich ein Ende gefunden hatte, dass man mit immergleichen Worten zur immergleichen Stunde, mit der immer gleichen lächelnden Maske bete. Wenn schon, dann solle man frei heraus mit Gott plaudern. Sie sprach von Zwang und von soldatenähnlichen schwarzen Uniformen die diese Rituale noch unterstreichen würden. Sie fühlte sich in der Rolle der Rebellin in ihrem Element und strahlte viel Leidenschaft aus.
Die Oberin reagierte heftig, sprach von ungedankter Gastfreundschaft und Anmaßung, während zwei Schwestern neben Nadja verständnisvoll lächelten und von der Liebe zum Herren und seinen verirrten Schäfchen sprachen. Sie meine das ja doch gar nicht so, nicht wahr? Das ist doch nur Unwissenheit, die Ärmste erkenne es halt nicht besser und man könne durchaus Nachsicht haben. Silvana fühlte sich von diesem unerwarteten Disput seltsam erregt. Sie fragte sich, wer denn nun tatsächlich anmaßend war. Die Frau, welche die Eigenständigkeit der betenden Schwestern in Frage stellte, oder jene die sich über sie erhaben fühlten. Und dort wo diese Frage in ihren Gedanken entstand, bildeten sich kleine Kreise.
Ohne ihr Einverständnis einzuholen, ordnete die Oberin an, dass Nadja in Silvanas Zimmer nächtigen solle. Silvana war das unangenehm, aber sie wusste, dass sie sich zu fügen hatte. Einer Anordnung der Oberin hatte man sich nicht zu widersetzen und Silvana hatte allein wegen der inneren Auflehnung bereits ein schlechtes Gewissen. Sie litt unter ständigen Schuldgefühlen. Schon seit damals als sie dem strengen elterlichen Haus entfloh. Ihre Mutter gab Silvana das Gefühl sie im Stich zu lassen. „Ist das der Dank für alles? Du bist egoistisch und denkst nur an dich. Wenn ich einst nicht mehr bin, wird es zu spät sein" heulte sie und verbarg ihren Zorn in einem zerknüllten Taschentuch.
Der Vater, der seiner Tochter jegliche freie Entscheidung, jede Selbsterfahrung untersagte, sprach von Verderbnis und Fegerfeuer als sie sich in die ausgebreiteten Arme jenes Mannes stürzte, von dem sie sich endlich Achtung und Liebe versprach. Doch diese Arme konnten auch zuschlagen und es dauerte fast drei Jahre ehe sie dieser unberechenbaren Gewalt entkam. Heimlich packte sie ihren Koffer und schlich geduckt davon. Sie war zerfressen von Selbstzweifel bis sie sich eines Tages durch einen Zufall in dem Kloster wiederfand. Sie war es gewohnt sich Regeln zu unterwerfen und fühlte sich schnell geborgen zwischen den Hilfsseilen der Gebote, welche ihr als Halt dienten. Vor allem aber fand ihre Hingabebereitschaft im Glauben ein neues Ventil. Ein Gott den man nicht sehen, nicht greifen aber an den man glauben konnte, war manipulierbar. Sie konnte gar nicht enttäuscht werden.
Nadja wusch sich mit dem kalten Wasser, zündete sich eine Zigarette an und legte sich entspannt auf das mit gestärkter weißer Wäsche überzogene Bett. „Du wirst frieren, die Nächte sind sehr kalt hier oben. Im Schrank ist ein zweites Nachthemd. Du kannst es gerne haben.“ bot Silvana an. Sie fühlte sich durch die Nacktheit der fremden Frau provoziert. Nadja rollte sich zur Seite, sog an der Zigarette und blies kleine Kreise in die Dämmerung. Sie gab keine Antwort.
Silvana zog sich verlegen die Robe aus, fühlte sich durch die Blicke Nadjas gedemütigt und schutzlos. „Du musst sehr schönes Haar gehabt haben. Sogar jetzt wo es kurz geschnitten ist, sieht man noch den ungebändigten Wuchs, wie kraftvoll es ist." Sie kam herüber und streifte sacht mit der Hand über Silvanas Kopf. Silvana spürte den warmen Atem in ihrem Nacken und schloss die Augen. Nadja zeichnete mit einem Finger Nadjas Hals und ihre rundlichen Schultern nach, ließ den Finger den Rücken hinab gleiten. Dann wandte sie sich wieder ab.
Schnell zog Silvana ihr Nachthemd über und kniete zum Abendgebet nieder. Dann legte sie sich hin und zog die Decke hoch bis ans Kinn. Seltsame Gefühle machten sich breit in ihr. Wann hatte ein anderer Mensch sie zuletzt zärtlich berührt? Zwei Jahre vielleicht, oder mehr? Dort wo der Finger der fremden Frau in die Tiefe verdrängter Leidenschaft eintauchte, entstanden kleine Wellen der Erregung die Silvanas Innerstes aufwirbelten. Tränen traten in ihre Augen und sie hatte Mühe ihr Weinen zu unterdrücken.
Nadja kam durch den Raum, setzte sich an Silvanas Bettkante, zündete sich erneut eine Zigarette an. „Erzähl, was ist denn mit dir? Wieso versteckst du dich denn bloß hier in diesem alten Gemäuer? Wir sind Mädchen unter uns, das große Ohr der ehrwürdigen Mutter Oberin kann uns hier ja wohl nicht hören?" spottete sie. Silvana richtete sich langsam auf. Sie blickte Nadja direkt in die Augen und schien nun sehr gefestigt. Der Angriff auf ihre Mitschwester ließ sie ihre Scheu vergessen. „Musst du alles verhöhnen, nur weil du es nicht verstehst? Diese Frauen hier sind wunderbare Menschen die viel Gutes tun. Ich war ohne Hoffnung und sie haben mich aufgenommen und mich mit ihrer Wärme umgeben. Das sind keine Relikte vergangener Zeit wie du vielleicht denkst, sondern Menschen voll Lebenslust und von Demut erfüllt.“
„Ja, aber natürlich. Und vor allem ist es so bequem ihnen die Verantwortung für dein Leben zu überlassen nicht wahr?" Nadja drückte die Zigarette im Wasserglas aus und ging zu Bett. Silvana rollte sich zusammen. Den Polster umarmend und mit angezogenen Knien lag sie da und starrte in die Dunkelheit. „Warum bist du so voller Zorn?“ fragte sie. Nadja drehte sich zur Wand. „Warum gestehst du dir nicht ein, dass ich recht habe?" Die Worte blieben unbeantwortet im Raum stehen. Beide fanden lange keinen Schlaf.
Das Morgengebet fand in der Dämmerung statt. Silvana machte sich auf den Weg und betrachtete beim Hinausgehen verstohlen den Körper Nadjas. Sie hatte das Laken zwischen den Beinen eingeklemmt und sah seltsam verletzlich aus. Der dunkelrote Nagellack wirkte wie Blutstropfen auf dem weißen Laken. Die junge Schwester senkte den Blick und gemahnte sich ihre Aufwallung zu unterdrücken. Sie schloss leise die Tür und lief hinüber in die Abtei. Sie schob gewohnheitsmäßig die Hände unter die Ärmel ihres schwarzen Kleides und ließ sich von der feierlichen Stimmung in der Kapelle auffangen. Die Anspannung der letzten Nacht ließ nach und sie stimmte in den vertrauten Gesang mit ein. Nach der Messe gingen die Nonnen ihren gewohnten Arbeiten nach. Im Klostergarten wurde es still.
Als Silvana später am Vormittag oberhalb der Straße, auf einer kleinen Terrasse, Wäsche zum Trocknen an die Leine hängte, vernahm sie das Knattern eines alten Lastwagens. Der Mopedverleiher war aus dem Dorf heraufgekommen und brachte sein beschädigtes Fahrzeug und die bereits vermisste Lenkerin zurück ins Tal. Silvana unterbrach ihre Arbeit und sah dem Wagen nach. Sie war erfüllt von einer Wehmut ohne Namen. Als der Wagen eine Kehre nahm, winkte sie der Frau am offenen Seitenfenster zu. Diese sah durch dunkle Sonnenbrillen zu ihr hoch und fast schien es als würde sie den Gruß nicht erwidern. Erst im letzten Moment hob sie langsam die Hand und winkte zurück.
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Der Abend ist warm, die Luft nicht so klar und frostig wie oben auf dem Berg wo sie die vergangene Nacht verbracht hatte. Das Lokal ist zum Bersten gefüllt mit modisch gekleideten Menschen. Rauchschwaden ziehen durch die Menge. Sprechblasen, gefüllt mit unzusammenhängenden Wortfetzen dringen vermischt mit Musik in Nadjas Ohr. Sie tanzt lasziv. Der Mann an den sie sich schmiegt ist ihr unbekannt. Er riecht nach gutem Parfum, summt „knock knock knocking on heavens doo-or“ und bleibt ein Fremder.
Nadja fühlt sich durch die Nähe des Mannes plötzlich bedrängt. Sie murmelt eine Entschuldigung und geht hinaus. Auf der Toilette benetzt sie vorsichtig das geschminkte Gesicht. Was ist denn nur los mit ihr? Ständig muss sie an die vorwurfsvollen Worte Silvanas denken. Ein Freigeist wie sie wehrt sich eben gegen jede Bevormundung und kann nicht begreifen wie ein junger Mensch sich freiwillig für das Unterordnen entscheiden konnte. War es nicht geradezu ihre Pflicht das Mädchen auf ihr eingeengtes Dasein hinzuweisen, ihr mangelnden Stolz zu unterstellen?
Zornig wirft sie das Papierhandtuch in den Abfalleimer. Sie zieht ihre Lippen mit rotem Stift nach und hält in der Bewegung inne. Neid, es ist Neid, den sie in sich aufkeimen fühlt, stellt sie fast wehrlos, eher verwundert, fest. Neid auf das einfach gestrickte Lebensmuster dieser Frauen. Es scheint ohne Knoten und mit warmer Wolle gefertigt zu sein. Sie hatte die Schwestern trotz der hierarchischen Führung nicht als unselbständig erlebt. Sie tun was zu tun ist und genießen danach die Stille der Natur, fernab vom schrillen Licht und lauten Geräuschen. War sie deshalb so sehr dagegen wie diese Frauen lebten, weil sie selbst nicht den Mut hatte sich für etwas Bleibendes zu entscheiden? War die Angst sich zu verlieren, vor Kontrollverlust jene Macht, der sie selbst sich unterwarf ohne es zu erkennen? Vielleicht waren diese Frauen am Berg längst am Ziel, während sie stetig auf der Suche nach unbekannten Bahnhöfen und immer neuen Zügen war.
Sie blickt, während sie sich eine neue Zigarette anzündet in den Spiegel. Ihr Blick scheint matter als sonst, müde vielleicht. Und kleine Wellen der Sehnsucht nach Ankommen und Beständigkeit durchfluten sie.