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Der Stasi-Mann
Jeden Morgen ging Joop Stevens im Bois de Waibes joggen. Er absolvierte einen zehn Kilometer langen Parcours, der ihn ungefähr zur Mitte hin auf eine Anhöhe führte, von der man einen wunderschönen Blick auf Thuin hatte.
So auch an diesem Morgen. Er stand auf der Spitze der Anhöhe, dehnte und streckte sich und atmete die kühle Luft ein.
Dann hörte er den lauten Schrei. Es klang nach „Hilfe“. Jemand schrie auf Deutsch um Hilfe.
*
Ishmael konnte sich noch sehr gut an seine erste Orange erinnern.
Er war acht, oder neun Jahre alt, es war Weihnachten und seine Eltern putzten die Wohnung. Wie Verrückte entfernten sie jeden Fleck, jedes Staubkorn und sonstige, unliebsame Partikel. All das kam ihm komisch vor, da zu Weihnachten nie jemand zu Besuch kam.
Schick angezogen waren seine Eltern danach ebenfalls, und auch er musste die gute Hose und das weiße Hemd mit dem dicken Pullover tragen, den er nicht mochte, weil er so kratzte. Es gab besseres Essen als sonst, was nicht hieß, dass es gutes Essen gab. Gans mit Rotkohl und Klößen, wie bei anderen Familien, war nicht drin.
Es gab keinen Tannenbaum, es gab überhaupt keinen Firlefanz, den andere Familien in die Wohnung stellten, es gab nur das gute Geschirr, die schöne Tischdecke und ein paar Kerzen. Aber das reichte, um es feierlich zu machen.
Am Mittag stellten sie ihm den Teller hin, mit den Nüssen und der Orange.
Er sah ihn noch genau vor sich, den gewellten Teller aus Pappe, mit dem weihnachtlichen Motiv aus Tannennadeln und Engelsfiguren, und natürlich die Nüsse. Erdnüsse und Walnüsse.
Und in der Mitte des Tellers, die Orange.
Jetzt in der Erinnerung kam sie ihm strahlender vor, als sie es damals wahrscheinlich war. Vielleicht lag es auch ganz einfach am Kontrast. Dort die trockenen, braunen Nüsse, hier die orangene, fleischig-saftige Frucht.
Er aß sie nicht gleich, nein, er wollte den richtigen Moment abwarten. Er nahm sie fast vier Stunden überall hin mit, von der Küche in sein kleines Zimmer, von seinem Zimmer in das Zimmer seiner Eltern, das auch gleichzeitig das Wohnzimmer war und von dort ins Badezimmer.
Spät am Abend, nachdem er mit seiner Mutter und seinem Vater den ganzen Abend Logica gespielt hatte, ging er dann in die Küche, holte ein Messer und schnitt die Orange. Sorgfältig, wie bei einem chirurgischen Eingriff, entfernte er die Schalen und legte die Frucht frei.
Dann zerlegte er die Frucht in drei gleich große Teile, ging zurück ins Wohnzimmer und gab seinem Vater und seiner Mutter jeweils eines. Sie strahlten alle über das ganze Gesicht, als sie hinein bissen und ihnen der Saft aus dem Mund über die Finger rann.
*
Nun saß Ishmael auf einem Baumstumpf in einem Waldstück an der belgisch-deutschen Grenze, eine Makarow in der Hand. Vor ihm lag ein anderer Mann, im nassen Herbstlaub, gefesselt, geknebelt, in Embryohaltung.
Nach einigem Hin und Her gelang es dem Verschleppten, den Knebel auszuspucken.
Er keuchte, beruhigte sich dann, aber sagte erst einmal nichts.
„Wer sind sie?“, fragte er schließlich ruhig.
Ishmael reagierte nicht. Er zitterte, das sah man an seiner Hand.
Es wirkte, als habe er den am Boden Liegenden aus einer Laune heraus verschleppt, als habe er es nicht geplant, als sei er ihm zufällig begegnet und habe ihn dann gleich eingepackt und mitgenommen. Aber so war es nicht. So war es überhaupt nicht.
Ishmael fiel auf die nachvollziehbare Frage des Verschleppten nichts ein.
Er dachte an die ganzen Hollywoodfilme, in denen es Szenen wie diese oder ähnliche Szenen gab, und in denen die Kidnapper es immer irgendwie schafften, etwas zu sagen, dass bedeutungsschwanger, bedrohlich und cool klang.
Aber ihm fiel nichts ein. Er überlegte sich einige Antworten, verwarf diese aber und musste schließlich in sich hinein kichern, weil er es partout nicht schaffte, abgeklärt und hollywoodisch zu wirken.
„Nenn mich Ishmael“, sagt er dann und kicherte ob dieses Satzes wie ein kleines Mädchen.
Der gefesselte Mann war sichtlich irritiert. Aber auf eine sonderbare Art und Weise wirkte er sehr beherrscht. Man sah ihm förmlich an, dass er die missliche Lage, in die er da geraten war, sachlich analysierte. Er sah sich den Mann, der ihn verschleppt hatte, genau an. Er versuchte zu ergründen, wie sehr der Mann im Umgang mit Handfeuerwaffen geübt war, indem er beobachtete, wie dieser die Waffe in der Hand hielt. Er suchte den Augenkontakt um heraus zu finden, wie entschlossen und professionell der Angreifer war.
Aber selbst, als er sah, dass er es nicht mit einem Profi zu tun hatte, entspannte er sich nicht wirklich, denn es gab noch eine andere, ebenso gefährliche Möglichkeit.
Vielleicht, so dachte der Mann am Boden, habe ich es mit einem Psychopathen zu tun.
*
Einmal war Ishmael mit seinen Eltern im Restaurant gewesen. An seinem Geburtstag. Die Eltern hatten lange gespart, das Essen vorher war zwei Wochen lang das gleiche gewesen. Wieder trugen seine Eltern und er die schicken Sachen, die sie sonst an Weihnachten oder Neujahr trugen. Wieder waren sie in Feierlaune.
Er durfte sich das Restaurant aus drei Restaurants aussuchen. Er entschied sich für das Haus mit den großen Jagdwurstschnitzeln. Ein Kamerad aus seiner Klasse war dort schon mal essen gewesen und hatte ihnen in der Schule davon vor geschwärmt.
Im Restaurant waren viele Leute, der Rauch von Zigaretten hing in der Luft. Es war gute Stimmung, es wurde viel geredet und viel gelacht. Ishmael und seine Eltern mussten ein bisschen warten, bis ein Kellner sie an einen Tisch geleitete, aber es machte ihm nichts aus, er wusste, dass das normal war.
Sie aßen Soljanka vor dem Hauptgericht, gute Fleischsoljanka mit gekochtem Rindfleisch, Möhren und Zwiebeln.
Ishmaels Vater war guter Laune. Am Nachbartisch saß ein Freund seines Vaters und sie machten die ganze Zeit über Sprüche und Scherze. Seine Mutter saß still lächelnd daneben und sah in ihrer Verlegenheit irgendwie verliebt aus.
Nach dem Hauptgericht packte Ishmaels Vater seine Karo Zigaretten aus. Aber der Kollege des Vaters lachte nur, als er die Packung sah, und holte seine eigene Packung Duett hervor und bot dem Vater und der Mutter eine daraus an. Der Vater griff beherzt zu.
Ishmael wusste noch genau, wie es plötzlich leise geworden war. Die lauten Gespräche wirkten auf einmal wie geflüstert, die lockere und lässige Haltung der meisten Restaurantbesucher war plötzlich eine Spur steifer und angespannter geworden. Auch Ishmaels Vater und dessen Kollege veränderten sich ruckartig. Als Ishmael dem Blick seines Vaters folgte, fiel ihm sofort der große, gut gekleidete Herr auf, der gerade durch die Eingangstür des Restaurants kam. Er trug einen schönen, schwarzen Hut und wirkte sehr höflich und freundlich. Der Restaurantbesitzer grüßte ihn sehr freundlich.
Als Ishmael wieder zu seinem Vater sah, meinte er etwas zu sehen, was er so vorher bei seinem Vater so noch nicht gesehen hatte.
Angst.
*
„Wer sind sie wirklich, Ishmael“, fragte der geknebelte und gefesselte Mann erneut.
„Sagen Sie mir erst, wer sie sind!“, erwiderte Ishmael.
„Das habe ich doch schon“, sagte der gefesselte und geknebelte Mann. „Mein Name ist Holger Stamm. Ich bin siebenundfünfzig Jahre alt. Ich komme aus Münster und arbeite als Bankkaufmann in Herten. Sie können meinen Personalausweis aus meinem Portemonnaie nehmen. Ich… Ich war bei einer Freundin in Zolder, ich kenne sie noch aus..aus Studienzeiten und ich..ich..“
„Danke, das reicht schon“, sagte Ishmael.
Schweigen.
Der gefesselte und geknebelte Mann versuchte, sich aufzurichten. Er robbte so gut es eben ging auf einen Baumstamm zu und lehnte sich dann mit dem Rücken dagegen. Dann stützte er sich mit den Füßen ab, um seinen Oberkörper am Baumstamm aufzurichten. Seine verdreckten, braunen Lederschuhe schlitterten über den sandigen Grund und über buntes, feuchtes Herbstlaub.
Aber es gelang ihm.
Er saß nun an einen Baumstamm gelehnt und holte Luft. Trotz der eher moderaten Temperaturen rannen ihm einige Schweißtropfen von der Stirn.
Ishmael ließ ihn gewähren. Er glaubte nicht, dass sich um die Uhr- und Jahreszeit noch jemand in diesem Waldstück befand. Gemächlich fischte er eine Packung Zigaretten aus der Jackentasche. Er zeigte sie dem Mann am Baumstamm.
„Kennen Sie die?“, fragte Ishmael. „Duett Zigaretten?“
„Ich rauche Marlboro“, gab der Mann tonlos zurück.
„Ja, jetzt!“, lachte Ishmael. „Jetzt esse ich auch mehr Orangen, und nicht bloß an Weihnachten.“
„Sagen sie mir, wer sie sind?“, wiederholte Ishmael seine Frage.
„Aber das habe ich Ihnen doch schon gesagt“, erwiderte der Mann. „Ich bin Holger Stamm, ich bin Bankkaufmann, ich war in Belgien eine Freundin besuchen, ich..“
„Nein“, unterbrach Ishmael ihn, „ich habe mich falsch ausgedrückt. Ich will nicht wissen, wer sie jetzt sind. Ich will wissen, wer sie waren“.
*
Als Junge hatte Ishmael einmal Geld von seiner im Ausland lebenden Tante Käthe geschickt bekommen.
Es war ungewöhnlich, dass es in einem unversehrten Umschlag bei ihm ankam. Für gewöhnlich wurden die Briefe seiner Tante vorher von jemandem geöffnet. Einmal schickte die Tante ihm zum Geburtstag ein kleines Päckchen. In einem Brief, der dem Päckchen beilag, erzählte die Tante von einem Matchbox Auto, und dass sie ihm damit eine kleine Freude machen wolle. Das Päckchen war aber leer.
Jedenfalls war das Geld seiner Tante eine fremde Währung, mit dem man in seinem Land nicht bezahlen konnte oder durfte. Aber er konnte es bei der Staatsbank in Forumchecks umtauschen.
Mit diesen Forumchecks ging Ishmael dann in einen Intershop. Er war vorher noch nie in so einem Laden gewesen, aber er fühlte sich sofort sehr wohl, als er ihn betrat. Das lag vor allem am angenehmen, leicht süßlichen Duft, der den Laden durchströmte, aber auch an der eleganten und bunten Auslage der Produkte. Ishmael blieb fast eine Stunde im Laden, ehe er sich entschloss, Lux Seife, First Class Hochlandkaffee und Milka Schokolade zu kaufen.
Zuhause angekommen, breitete er die goldenen Gaben vor seinen Eltern auf dem Abendtisch aus. Seine Mutter war ganz gerührt.
„Immer denkst du an uns, das ist so schön“, sagte sie.
Ishmael war peinlich berührt. Er mochte seine Eltern und er freute sich, wenn sie sich freuten. Vor allem das Lächeln seiner Mutter war ihm einiges wert.
„Die Schokolade ist nur für mich“, sagte Ishmael dann trotzig, was seine Eltern zum Lachen brachte.
Nach dem Abendessen nahm er die Schokolade mit auf sein Zimmer. Er wollte sich die Tafel gut einteilen, um möglichst lange etwas davon zu haben. Sorgfältig öffnete er das Papier und langsam entfaltete er die konservierende Aluminiumfolie. Er brach sich einen Riegel mit drei Stücken ab, verschloss die Schokolade wieder im Papier und in der Folie und legte alles zurück in die Schublade.
So saß er dann zwanzig Minuten auf der Bettkante, aß seinen Riegel und konzentrierte sich auf den Geschmack.
*
„Nehmen wir einmal an“, sagte Ishmael, „dass ihr Name wirklich Holger Stamm ist und sie wirklich aus Münster kommen. Wenn es stimmt was sie sagen, müssten sie meine folgenden Fragen schnell beantworten können!“.
„Welche Fragen“, fragte der Verschleppte.
„Na, zum Beispiel, wo sie zur Schule gegangen sind!“
„Gymnasium Paulinum“.
„Welche Straße haben sie gewohnt?“
„Am Stadtgraben 20 , ganz in der Nähe der Schule“.
„Wer war ihr Lieblingslehrer?“.
„Herr Marquardt, unser Lateinlehrer“.
„Wie hieß ihre erste Freundin?“.
„Anna Pelzer, ich hab sie in der Theater AG kennengelernt“.
„Nennen sie drei andere Städte im Münsterland!“.
„Bocholt, Dülmen, Coesfeld. Was soll diese Fragerei?“
Ishmael hielt inne.
„Sie antworten schnell. Sie haben sich gut vorbereitet. Sie haben sich alles bis ins kleinste Detail überlegt, nicht wahr?“
„Hören Sie, ich habe mir gar nichts überlegt. Ich bin, wer ich vorgebe, zu sein. Jetzt hören sie bitte mit diesem Katz und Maus Spiel auf. Sagen sie mir, wer sie sind, was sie wollen und für wen sie mich halten. Das Ganze scheint ein großes Missverständnis zu sein.“
„Ich bin Ishmael“, beharrte der Mann. „Mein Vater war Gregor Fechner“.
Als Ishmael den Namen seines Vaters nannte, beobachtete er die Augen seines Opfers. Er wollte sehen, ob der Name irgendeine Reaktion in ihm hervorrief. Er erwartete ein Aufblitzen, ein Zucken, ein versteinertes Gesicht oder eine Anspannung jeglicher Art. Stattdessen sah er nichts. Nichts als ein ratloses, zorniger werdendes Gesicht, wie es sich für jemanden gehört, der zu Unrecht verschleppt wurde.
Konnte es sein?, fragte sich Ishmael. Konnte es sein, dass er sich irrte? Konnte es sein, dass dies nicht der Mörder seines Vaters war?
*
An einem Dienstag, Ishmael wusste es noch genau, kam er nach der Schule nach Hause und fand die Wohnung leer vor. Das war sonderbar, da seine Mutter meistens zuhause war und ihm für gewöhnlich Bescheid gab, wenn sie nachmittags verhindert war. Auf der Herdplatte stand auch kein Essen zum Aufwärmen und auf dem Küchentisch lag keine Notiz.
Ishmael setzte sich in voller Montur an den Küchentisch und wartete. Die ersten dreißig Minuten blieb er relativ ruhig. Er verharrte still auf seinem Platz und horchte angespannt in den Flur hinein, in der Hoffnung, dass er jeden Moment den Schlüssel im Schloss hören und dann seine Mutter hereinkommen sehen würde. Doch er vernahm nichts weiter als dass Ticken der Porzellanuhr über der Küchentür.
Tick --- Tack --- Tick --- Tack --- Tick --- Tack.
Nach der ersten halben Stunde sinnlosen Wartens begann er, unruhig zu werden. Er scharrte mit den Füßen über die Fliesen des Küchenbodens, im Takt der Porzellanuhr. Im gleichen Takt schossen ihm Gedanken durch den Kopf, Vermutungen, die die Abwesenheit seiner Mutter erklärten. Vielleicht war sie bei einer Freundin? Was, wenn sie einen Unfall hatte? Vielleicht stand sie im Markt in der Schlange? Was, wenn man sie verhaftet hatte?
Nach einer guten Stunde begann Ishmael panisch zu werden. Aber diese Panik äußerte sich nicht in blindem Aktionismus, sondern in lähmendem Entsetzen. Die wirren Gedanken schossen in immer kürzer werdenden Intervallen durch den Kopf, so schnell und rasend, dass ihm fast schwindlig und schlecht wurde.
Diese Gedanken machten sein Herz so schwach, dass er sich nicht in der Lage fühlte, aufzustehen, geschweige denn, zu sprechen.
Vor ihm tat sich eine grausame Leere auf, ein Leben ohne Eltern, ein Leben in Heimen, ein Leben als geistig verkrüppelter Waise, ein seelischer Tod. Das Gefühl der Angst kroch ihm die Beine hoch und ließ ihn frösteln. Ohne meine Eltern, dachte Ishmael damals, will ich nicht sein.
Das Gefühl der Angst machte einem Gefühl grenzenloser Erleichterung Platz als Ishmaels Mutter am späten Abend zur Tür herein kam. Aber als Ishmael den gehetzten Gesichtsausdruck und die rot unterlaufenen Augen seiner Mutter sah, wusste er, dass etwas Schlimmes geschehen war.
„Sie haben ihn“, schrie Ishmaels Mutter. „Sie haben ihn geholt“.
*
„Ich werde nie“, sagte Ishmael zu seinem verschleppten Opfer, „den Gesichtsausdruck meiner Mutter vergessen, als sie zur Tür hereinkam. So sieht jemand aus, dachte ich, der lebendig begraben wurde. Hilflosigkeit, Enge, Schock, Panik, alles las ich in ihrem Gesicht. Sie weinte die ganze Nacht, das heißt, sie wimmerte in ihr Kissen hinein, denn sie wollte nicht, dass sich ihre Verzweiflung auf mich übertrug. Aber es half nichts. Auch ich lag die ganze Nacht wach. Was war mit meinem Vater geschehen?“
Der Verschleppte schwieg eine Weile.
„Hören Sie“, sagte er schließlich, „mir tut sehr leid, was sie erlebt haben. Ich habe schon viele, schlimme Dinge dieser Art gehört. Sie wissen schon, die Verhörmethoden, die gegenseitige Bespitzelung und das überall vorherrschenden Misstrauen. Ich kann nur erahnen, wie das Leben in einem totalitären Staat ist. Aber ich versichere Ihnen, dass ich nicht der bin, den sie suchen. Lassen Sie uns nach Münster fahren, von mir aus zu meiner Schwester, lassen Sie mich ihnen meine Bekannten und Verwandten vorstellen, die können meine Identität bestätigen. Ich bin wirklich Holger Stamm. Bitte, lassen Sie es mich beweisen.“
„Ich würde ihnen gerne glauben. Aber ich kenne die Wahrheit. Ich habe die Akte gesehen. Sie sind der inoffizielle Mitarbeiter, der meinen Vater der Republikflucht beschuldigt hat, nur um ihn aus dem Weg zu räumen. Sie sind der Mann aus dem Restaurant, der meinem Vater die Zigaretten angeboten hat. Sie gaben vor, sein Freund zu sein und horchten ihn in Wirklichkeit aus.“
Der Mann, der immer noch an den Baumstamm angelehnt war, begann zu wimmern.
„Hören Sie, bitte, hören Sie mir zu. Ich bin Holger Stamm. Ich bin siebenundfünfzig Jahre alt. Ich komme aus Münster und arbeite als Bankkaufmann in Herten. Sie können meinen Personalausweis aus meinem Portemonnaie nehmen. Ich… Ich war bei einer Freundin in Zolder, ich kenne sie noch aus..aus Studienzeiten und ich..ich..“.
„Hören Sie auf damit“, sagte Ishmael ruhig.
Dann stand Ishmael auf.
„Ich werde töten, ganz gleich, ob sie gestehen oder nicht. Sie sind es, da gibt es kein Vertun!“
*
Nach einer Nacht des Weinens, der Verzweiflung und der grenzenlosen Trauer begegneten sich Ishmael und seine Mutter am nächsten Morgen in der Küche. Seine Mutter nahm ihn ganz fest in den Arm, Tränen überkamen sie, aber sie beherrschte sich.
„Wir müssen Tante Käthe anrufen!“, sagte Ishmaels Mutter dann.
„Warum?“, fragte Ishmael.
Aber er erhielt keine Antwort.
Am späten Vormittag ging seine Mutter dann aus dem Haus, um das Telefongespräch beim Amt anzumelden. Sie bekam eine Erlaubnis für den späten Abend. Sie durften vom Apparat der Hausmeisterin telefonieren.
Als Ishmael abends mit seiner Mutter zur besagten Hausmeisterin ging, öffnete sie sogleich die Tür.
„Ich weiß schon Bescheid“, sagte sie und geleitete Ishmael und seine Mutter zum Telefon im Wohnzimmer. Dann setzte sie sich auf die Couch, nickte der Mutter zu, machte aber keine Anstalten, den Raum zu verlassen. Ishmaels Mutter stand für einen Moment verloren im Raum herum.
„Komm, mein Junge, du machst den Anruf“, sagte sie schließlich und stellte sich mit dem Rücken zur Hausmeisterin.
Ishmael nahm den Hörer vom Telefon. Noch bevor er die erste Nummer auf der Drehscheibe anwählte, hörte er ein lautes Knacken in der Leitung. Dann wählte er eine ellenlange Nummer. Nach einer ihm endlos erscheinenden Warterei hörte er die Stimme seiner Tante.
„Ja?!“
„Hallo Tante Käthe, ich bin’s!“
„Ach mein Junge, das ist aber schon dass du mal anrufst!“
Doch sogleich darauf verfinsterte sich ihre Stimme.
„Wie geht es euch?“, fragte sie, unruhiger werdend.
Ishmael sah seine Mutter an. Sie schüttelte mit dem Kopf und legte dabei ihren Zeigefinger auf die Lippen.
„Gut“, sagte Ishmael, „alles in Ordnung hier. Wie geht es dir?“
„Gut, gut“, erwiderte Tante Käthe.
„Frag sie“, unterbrach seine Mutter das Gespräch, „frag sie, ob sie sich immer noch so allein fühlt in dem großen Haus. Frag sie!“
Ishmael tat wie ihm geheißen.
„Ja“, erwiderte Tante Käthe, „es ist immer noch sehr einsam hier. Es kommt ja niemand her seit Onkel Hermann gestorben ist.“
Ishmael sah zu seiner Mutter.
„Frag sie, ob sie mit deinem Papa sprechen will?“, forderte sie ihn auf.
Auch diese Frage wiederholte Ishmael in den Hörer.
„Ja“, sagte Tante Käthe, „gib ihn mir mal!“
Ishmael schaute seine Mutter hilflos an.
„Sag ihr“, instruierte seine Mutter ihn, „sag ihr, er ist gerade nicht im Haus. Sag ihr, sie könne sich bestimmt denken, wo er grad ist. Sag es genau so, wie ich es gesagt habe.“
Ishmael verstand immer weniger. Was war das für ein blödes Gespräch? Warum sprach seine Mutter nicht selbst mit seiner Tante?
Als er die Antwort seiner Mutter wiederholte, glaubte er, Tante Käthe schluchzen zu hören. Eine Weile vernahm Ishmael nur das schwere Atmen seiner Tante.
„Mach’s gut, Junge“, sagte Tante Käthe schließlich. „Mach es gut! Und sag deiner Mutter sie soll auf sich aufpassen, ja?“
Ishmael wollte etwas erwidern, aber da klickte es in der Leitung und seine Tante war weg, nicht mehr zu hören. Die Leitung war tot.
Die Hausmeisterin stand auf, Ishmaels Mutter bedankte sich artig und beide gingen sie dann zurück in ihre Wohnung.
Was folgte, war eine weitere Nacht aus Tränen.
*
„Am nächsten Morgen“, sagte Ishmael, „am nächsten Morgen, so um sieben Uhr dreißig standen zwei Beamte von der Stasi vor der Tür. Sie hatten ein Stück Papier dabei, das ihnen erlaubte unsere Wohnung zu durchsuchen.“
„Tun sie was sie nicht lassen können“, sagte Ishmaels Mutter mit verheulten Augen. „Es spielt ja doch keine Rolle“.
„Republikflucht, Frau Fechner“, sagte der größere der beiden Männer, „ist kein Kavaliersdelikt.“
„Hören Sie doch auf mit diesen Mätzchen. Republikflucht, dass ich nicht lache. Sie haben ihn sich geschnappt, so sieht es aus. Also Schluss mit dem Kasperltheater.“
„Ich kann verstehen“, entgegnete der Mann kühl, „dass sie frustriert sind. Da haut ihr Mann einfach ab, und lässt sie und ihren Sohn einfach hier. Das tut weh. Aber das erleben wir immer wieder, dass die Frauen ihre Frustration an uns auslassen. Dabei ist es doch ihr Mann, der keinen Charakter und kein Rückgrat hat.“
Ishmaels Mutter kämpfte sichtbar mit sich selbst. Das Verlangen, diesen Männern ins Gesicht zu springen und ihnen die Augen auszukratzen, war kaum zu unterdrücken.
„Irgendwann“, sagte Ishmaels Mutter mit zusammengebissenen Zähnen, „irgendwann werdet ihr auf der anderen Seite stehen und euch rechtfertigen müssen. Und bei Gott, ich schwöre euch, wenn dieser Tag kommt, dann werdet ihr quieken wie ein Schwein.“
„Na, na“, sagte der andere Mann in einem herablassenden Tonfall. „Sie machen es uns nicht leicht, Frau Fechner.“
Ishmaels Mutter schwieg und lief in die Küche. Unterdessen nahmen die beiden Männer fast die komplette Wohnung auseinander, sammelten Dokumente und packten einige Wertgegenstände in einen gewöhnlichen Reisekoffer. Nach einer Stunde waren sie fertig.
„Frau Fechner“, sagte der größere Mann im Hinausgehen, „bitte setzen sie sich mit uns in Verbindung, falls ihr Mann sie kontaktiert. Sollten Sie das nicht tun, um ihn zu schützen, machen sie sich strafbar.“
„Hauen Sie ab“, sagte Ishmaels Mutter tonlos.
Wann, so fragte sich Ishmael in der Nacht, versiegen die Tränen meiner Mutter.
*
„Ein Jahr später stürzte meine Mutter sich vom Balkon. Sie war sofort tot“.
Der Verschleppte schwieg.
„Sie hat gekämpft“, sagte Ishmael, „auch für mich, ein Jahr lang. Aber sie hat es letztendlich nicht verwunden. Mein Vater war weg. Und es gab keine Nachricht. Sie sprach bei den verschiedenen Behörden vor, aber immer rannte sie gegen eine Mauer des Schweigens. Aber das war noch nicht alles. Die wenigen Vertrauenspersonen meiner Mutter wandten sich ab. Wir lebten auf einer Insel der Isolation. Ich konnte es nicht stoppen. Ich war zu jung.“
Wie sollte der Verschleppte auf so etwas reagieren?
„Ich kam dann in ein Heim. Und wie die Heime bei uns waren, muss ich ihnen wohl nicht erzählen. Einmal wurde ich adoptiert, von einer Lehrerin, die auch Parteisekretärin war, aber das ging nicht lange gut. Sie gab mich wieder zurück. Wie beschädigte Ware.“
„Hören Sie…“, sagte der Verschleppte.
„Nein..hören Sie! Ich will ihnen sagen, für wen ich sie halte. Ich habe die Akten gelesen, über meinen Vater, über meine Mutter, und über jenen Mann, der meinem Vater damals im Restaurant die Duett Zigaretten angeboten hat. Ich glaube, dass sie dieser Mann sind. Sie haben mit meinem Vater die Flucht geplant, aber dann hat die Stasi Wind davon bekommen und ihnen ein Geschäft angeboten. Sie sollten für sie als Inoffizieller Mitarbeiter tätig werden, potentielle Dissidenten ausfindig machen und denunzieren. Sollten sie sich weigern, so drohte die Stasi, ihre Familie zu zerstören. Keine Zulassung zur Uni für ihren Sohn, Verhaftung und Vergewaltigung für ihre Frau, Zwangsadoption für ihre damals dreijährige Tochter. Und sie haben nachgegeben. Und sie haben ihre Familie behalten können, während ich meine verloren habe. So perfide war die Stasi. Eine simple Kosten/Nutzen Rechnung. Und so haben sie laut Akte immer weiter gemacht, machen müssen: Freundschaften geschlossen mit Personen, die die Stasi auf ihrer schwarzen Liste hatte. Eingeschmeichelt, über den Scheiß-Staat geredet, Fluchtpläne geschmiedet, und dann, kurz vor der Umsetzung in die Tat, der Stasi alles schön auf dem Silbertablett serviert. Und natürlich, niemand hat ihnen das übel genommen, sie haben ja nur ihre Familie schützen wollen. Man hat sie erpresst, es ging um ihr Leben. Tja, und wenn es hart auf hart kommt, ist jeder sich selbst der Nächste. Blut ist schließlich dicker als Wasser, nicht wahr?“
*
Mein lieber Sohn,
wenn du das liest, bin ich nicht mehr. Ich vermisse deinen Vater so sehr, dass ich nicht weiter leben möchte. Ich habe versucht, für dich da zu sein, ich liebe dich, aber ich würde dir fortan nur noch eine schlechte Mutter sein. Ich hoffe du kannst mir eines Tages verzeihen, ich hoffe, du kannst verstehen, dass es mich nicht von dir fort treibt, sondern dass es mich zu deinem Vater hin treibt. Wir werden vom Himmel auf dich schauen, so wie wir es auf Erden getan haben, oder es versucht haben. Sei mir nicht böse, aber ich konnte nicht mehr.
Mutter
Es waren dieselben Männer, die ein Jahr zuvor ihre Wohnung durchsucht hatten. Sie kamen, um ihn ins Heim zu bringen. Der größere las ihm den Brief vor.
„Deine Mutter“, sagte er trocken, „war eine Volksverräterin, genau wie dein Vater. Aber du musst dir keine Sorgen machen, wir werden uns um dich kümmern. Du wirst jetzt erst einmal in ein Heim kommen, aber du wirst sehen, die Bürger dieses Staates, die ordentlichen Bürger werden sich deiner erbarmen und deiner annehmen. Wär doch gelacht, wenn wir aus dir keinen strammen Kerl machen können.“
Ishmael schwieg. Er saß hinten im schwarzen Barkas Wagen und schaute aus dem Fenster. Die Straßenbilder seiner Stadt zogen an ihm vorbei, er sah Menschen auf dem Weg zur Arbeit, Kinder, die durch Pfützen hüpften und über den Dächern, am Horizont, einen Regenbogen. Aus den gerade noch dunklen Wolken brach nun die Sonne hervor und ließ auch die mausgrauen Fassaden der Reihenhäuser in einem warmen Licht erstrahlen. Es war ein schöner Tag.
Aber Ishmael fühlte nichts. Er war mit einem Schlag unempfindlich geworden. Das Leben, die Straßen, die Kinder, die Menschen, die Sonne, all das schien ihn nichts mehr anzugehen.
*
„Ich werde töten“, sagte Ishmael zu seinem Verschleppten. „Das hatte ich ihnen gesagt.“
Ishmael holte ein Teppichmesser aus seiner Jackentasche, drückte mit dem Schieber die Trapezklingen heraus und ging auf den Verschleppten zu. Als er sich ihm bis auf wenige Meter genähert hatte, bückte er sich, legte das Teppichmesser in das Laub und krempelte seine Jackenärmel hoch.
„Wissen sie“, sagte Ishmael, „ich habe mich immer gefragt, wie man einem anderen Menschen das Leid verständlich machen kann, für das er verantwortlich ist, aber von dessen Ausmaß er nur eine geringe Ahnung hat. Ich kann verstehen, dass viele Menschen den Impuls verspüren, Rache zu üben. Ich kann verstehen, wenn Menschen der Überzeugung sind, dass sie die Schmerzen nachempfinden müssen, die ich gefühlt habe.“
„Tun sie’s nicht“, sagte der Verschleppte leise.
„Tun sie was nicht? Ich soll sie nicht töten? Sehen Sie, ich bin Pazifist. Ich will sie nicht töten. Ich bin mir ja nicht mal hundertprozentig sicher, dass sie wirklich der sind, für den ich sie halte. Und sollte sich nachher heraus stellen, dass ich den Falschen erwischt habe, würde ich mir das nie verzeihen. Also hab ich mich für andere Vorgehensweise entschieden. Ich zeige ihnen meinen Schmerz.“
Ishmael hob ohne zu zögern das Teppichmesser vom Boden auf und brachte sich selbst an seinem linken Handgelenk einen tiefen, vertikalen Schnitt bei. Zuerst sprudelte, dann quoll, dann sickerte Blut aus dem schmalen Spalt hervor.
„Schauen sie mal“, sagte Ishmael fast jovial, „da geht das Leben.“