Der Stadtführer - Donauinsel
Wir sind hier, auf der Donauinsel, dort wo die Leute, die sich in Wien einst niedergelassen hatten, einen künstlichen Fluss errichtet haben, um sich von der Urgewalt, der Unberechenbarkeit und Unnahbarkeit der blauen Hure zu schützen, die ihre lüstern nassen Beine um eine Insel schlingt, ein Freizeitparadies und der Ort für das größte Freiluftfestival Europas, das einmal im Jahr statt findet.
Hier wollen wir also unsere Reise beginnen, unsere Stadtführung durch Wien. Durch eine Stadt, die viel erzählen könnte, von Krieg, Politik und Kultur, von Schönheit, Liebe und Tod. Hier auf der Floridsdorfer Brücke, die den Vorstadt ähnelnden Bezirk Floridsdorf mit dem Großstadtbereich verbindet, wollen wir unseren ersten Schritt wagen, den schwierigsten Schritt, wie man so schön sagt. Doch wir wagen ihn gerne.
Die Sonne lacht vom Himmel und die Schwalben ziehen ihre Kreise über grüne Wiesen, auf denen Kinder und Erwachsene Drachen steigen lassen und über kleine und größere Baumgruppen, die schattenspendend Igeln, Eichhörnchen und unzähligen Insekten beherbergen. Wege durchschneiden die Wiesen wie ein betoniertes Nervensystem, auf dem Radfahrer ihren Hobby nachgehen. Wir atmen tief ein und aus und fühlen uns wohl in diesem Freizeitparadies.
Doch auch hier gibt es Menschen die arbeiten, nämlich Lehrer und Schüler, die ihre Tage auf dem Schulschiff verbringen, um der hohen Kunst des Lehrens und Lernens nachzugehen. Wollen wir doch diesen ursprünglich russischen Katamaran zu unserer ersten Station machen. Ein geschlungener Weg führt von der Brücke hinunter direkt zu dem Haupteingang der Schule, dem einzigen Schulschiff Mitteleuropas, musst du wissen. 1994 wurde es eröffnet und die ersten sechs Klassen zogen ein. Nun – sieh dir das an! – ist das Schulschiff eine ausgewachsene Schule, eine AHS, die Kinder durch die Pubertät schließlich zur Reife führt. Oh, sieh dir die netten Schülerinnen und Schüler an, die uns auf unseren Weg entgegenkommen. Sind sie nicht äußerst liebenswert, wie sie uns zunicken und zulächeln auf ihren Weg nach Hause?
Und das Schiff selbst, ist es nicht schön? Ein weißer Katamaran, durchzogen von roten Streifen, bestehend aus zwei Teilen die durch zwei Brücken verbunden sind. Wie zwei strahlender Riesen, die sich umarmend im Wasser liegen und sonnen lassen. Wie soll an einem solchen Ort bloß Leistungsdruck und Lernstress aufkommen? Praktisch unmöglich!
Nun stehen wir direkt vor dem breiten Steg, der zum Haupteingang des Schiffes führt. Der reißende Strom von Schülern die nach Hause drängen hat sich nun in einen kaum wahrnehmbaren Rinnsal verwandelt und bietet uns nun die Gelegenheit, die Schule zu betreten, ohne jemanden zu stören. Außer dem Schulwart sollte nämlich niemand mehr anwesend sein und so schleichen wir uns hinein.
Eine neue Welt bricht auf uns herein und wir befinden uns in einer Schule, die sich kaum von anderen unterschiedet. Reihen von Spinden stehen an blauen Wänden, als würden sie auf die Exekution durch Erschießung warten und ein Geruch nach Schweiß, Papier und Gedanken erfüllt den Raum. Ja, nach Gedanken. Heute können wir sie riechen.
Vielleicht sollten wir den alten Gedanken folgen und sodass wir an der Kreation neuer teilhaben können. Der Geruch führt uns die Stufen hinauf und über die Brücke, wo wir aus den Fenstern auf das Wasser sehen können, das gegen das Schiff brandet und es ein wenig schwanken lässt. Wir befinden uns an einem sehr schönen Ort, das muss man sagen. Wir gehen weiter und erreichen nun einen neuen Gang, der dem ersten bis auf das i-Tüpfelchen gleicht. Spinde und Türen und eine blaue Wand. Und der Gedankengeruch, nun noch intensiver.
Ah, waren das gerade Schritte?
Ja, es waren welche und sie kommen von dem Mädchen, dass am anderen Ende des Ganges auf uns zu komm. Sie scheint etwas aufgeregt zu sein und heftig über etwas nachzudenken. Das sieht man und man riecht es. Sie ist geradezu verpestetet vom Gedankengestank!
Sie ist hübsch, nicht wahr? Sechzehn Jahre, vielleicht siebzehn. Wer kann das in einer Zeit von Make-up und Piercings schon sagen? Wir können das jedenfalls nicht, denn Make-up trägt sie und gepierct ist sie auch, am Nabel nämlich, dort, wo der Rock beginnt und das T-Shirt noch lange nicht endet. Tja, sie ist wirklich hübsch, mit ihrem schwarz gefärbten Haar und den blauen Augen. Und eine nette Figur hat sie, mit langen, braun gebrannten Beinen...
Also, jetzt sollten wir uns aber schon etwa schämen, so lange auf die Julia zu gaffen. Wir wollen schließlich das schöne Wien erkunden und keine minderjährigen Mädchen beschauen.
Aber wo wir schon einmal hier sind, können wir ja auch gleich sehen, wie es weitergeht, rein Interessens halber, versteht sich. Dieser Geruch nach Gedanken ist nämlich etwas beunruhigend für zwei aufmerksame Entdecker, wie wir das sind.
Sie kommt auf uns zu und wir sollten jetzt lieber die Luft anhalten, damit sie uns nicht bemerkt. Denn schulfremde Personen sind hier gar nicht gern gesehen. Die könnten nämlich ganz unsittsame Gedanken haben, wenn sie die Schülerinnen sehen und dass will die Direktion natürlich gar nicht.
Wir halten also die Luft an und das ist auch besser so, denn der Gedankengestank hätte uns bestimmt umgeworfen. Beim Vorbeigehen erkennen wir, dass ihr Gesicht sehr besorgt wirkt, ihre Augenbrauen zusammengekniffen sind und sie sich ständig auf die Unterlippe beißt. Armes Ding, denken wir uns und können endlich ausatmen. So jung und schon so viele Sorgen... Andererseits können die Sorgen gar nicht so schlimm sein in diesen Alter. Um was soll sie sich schon sorgen? Um Musikvideos? Boy Groups?
Sicherlich unwichtige Dinge trüben ihr Gemüt, denn jetzt, da wir ihr folgen, fällt uns bei aller Sittsamkeit noch etwas auf: Ihr Rock ist heute besonders kurz und ihre Pobacken schwingen auffallend auffallend von einer Seite zur anderen. Wohin sie bloß so stolzieren mag...?
Wir gehen hinter ihr, leise genug, dass sie uns nicht höre kann. Gehen durch die sterilen, blauen Gänge mit den Spinden und Türen und spüren schon langsam Zuneigung zu dem Mädchen vor uns. Väterliche Zuneigung, versteht sich. Traurig ist dieses arme, unschuldige Ding, Sorgen spuken ihr durch den Kopf und lassen Gedanken entstehen, die ein nettes Mädchen, wie sie eines zu sein scheint, nicht denken sollte. An Hausübungen, sollte sie denken, an Filme und Süßigkeiten. Ach, Kinder...
Ja, da kommen wir ein bisschen ins Schwärmen, während uns Julia in zweifache Weise führt. Zum einen den gleichen Weg, den wir gekommen sind durch das Schiff zurück, aber auch zurück zu unserer eigene Kindheit, zu einem Leben ohne Sorgen in den Armen unserer Eltern. Noch irgendwie ...sittsam eben. Jetzt wirst du sagen, wir sind ja heut auch noch sittsam, das stimmt schon. Aber während wir uns damals bemüht haben, uns selbst anzuziehen, haben wir heute Schwierigkeiten, Mädchen wie die Julia nicht mit den Augen auszuziehen.
Da beendet sie diese Führung, indem sie nicht beim Hauptausgang hinausgeht, sondern kurz davor nach links abbiegt und an eine Tür klopf. Wir bleiben ruckartig stehen und die Wirklichkeit bricht wieder herein, wie Wasser in ein leckes Boot. Es scheint doch nicht eine so gute Idee gewesen zu sein, hierher zu kommen. Anscheinend sind hier viel mehr Leute, als ich angenommen habe.
„Servus Julia“, sagt eine Männerstimme aus der halb geöffneten Tür. Ein hart arbeitender Lehrer ist noch anwesend. Das Lob ich mir für einen Pädagogen, harte Arbeit bei der Erziehung unserer Jugend.
„Grüß Gott, Herr Professor“, sagt die Julia und beginnt zu weinen. Oje, die ist emotional wirklich überfordert. Armes Ding.
„Oje“, sagt auch der Herr Professor jetzt und beugt sich etwas hinunter. Jetzt können wir auch sein Gesicht sehen. Er hat graumeliertes Haar und kaltblau leuchtende Augen. Sein Gesicht wirkt etwas besorgt, oder unbeholfen, von hier kann man das nicht so gut erkennen. Harte Arbeit für einen wiener Pädagogen. „Komm doch `rein!“
Und s geht die Julia hinein und die Tür geht zu. Und wir stehen nun wieder allein hier. Tja, jetzt werden wir wohl nie erfahren, wie die Geschichte weitergeht und wie der Herr Professor seine Pädagogenheit benützt, um das kleine Mädchen zu trösten. Spionieren dürfen wir ja nicht, das wär wieder unsittsam, aber ich könnte dir einmal die Fenster des Schulschiffes zeigen wenn du willst. Von außen hat man nämlich einen sehr schöne Einsicht auf die Sicherheit, die die Administration des Schiffes gewährleistet. Komm mit!
Dafür brauchen wir nur einfach direkt durch die blauen Wände hindurchgehen, schwupp-di-wupp, und wir sind draußen. So schnell geht das heute.
Nun gut, das sind also die Fenster des Schulschiffes. Die sind deshalb besonders, da man sie nicht aufmachen kann, sondern nur kippen. Das haben die darum gemacht, weil sie sich gedacht haben, dass bei all dem Lernstress, der aber in einer so pädagogischen Schule eh nicht aufkommen kann, kein Kind auf die Idee kommt, Abwechslung darin zu suchen, die Unterseite des Schiffes zu studieren und danach vielleicht die ganze Donau hinunter bis hin zum Schwarzen Meer zu tauchen. Das haben die sich gut ausgedacht. Das aber Schüler in einer normalen Schule auf die Idee kommen könnten, aus dem Fenster zu springen, um etwaige Aggressionen abzubauen, darauf kommen die nicht. Denn Wasser ist ja viel gefährlicher als Beton. Naja, ich will mich da nicht einmischen.
Also, da musst du her schauen, da sind die Schlösser, mit denen die Fenster verrie... Oh, schau dir das einmal an! So ein Zufall! Jetzt haben wir direkt das Fenster erwischt, durch das wir die Julia mit dem Herrn Professor sehen können. Also so was.
Und wenn wir schon einmal da sind… Wir sehen, dass die Julia noch immer ein bisserl weint und der Herr Professor ihr die Tränen ein bisserl abwischt und sie ein bisserl umarmt und sie ein bisserl auf den Schoß nimmt. Der scheint aber wirklich Führsorglich zu sein, wirst du jetzt sagen und du scheinst wirklich recht zu haben. Weil wir ja ein wenig von den Lippen ablesen können, verstehen wir, dass es sich bei der Unterhaltung um ein Nicht Genügend im Fach Französisch bei der Julia handelt und sie sich das nicht leisten kann, weil sonst darf sie den Führerschein nicht machen und bekommt Hausarrest und überhaupt bricht eine Welt zusammen. Oje, das Arme Kind. Aber vielleicht hätte sie da schon ein bisschen früher was lernen sollen, denken wir uns und genau das sagt auch der Herr Professor, der die Julia jetzt ganz leicht am Nacken streichelt.
Na ganz große Klasse, wirst du jetzt sagen, dass sich der Lehrer so um seine Schüler kümmert und mit so viel Körpereinsatz seinen pädagogischen Pflichten nachkommt. Wir hätten da ganz anders reagiert, nicht mit soviel Wärme. Aber das ist wahrscheinlich das, was das Kind braucht. Wärme. Und deshalb ist auch der Herr Professor Herr Professor und ich nur ein Stadtführer, der hat das schließlich gelernt.
Nun sehen wir einmal, wie er weiter reagiert, vielleicht können wir da noch was lernen. Er streichelt die Julia also am Nacken und die Julia drückt sich jetzt an ihn, da sie anscheinend noch mehr Wärme benötigt. Und... Oje, vielleicht sollten wir das jetzt gar nicht mehr sehen, denn so wie es aussieht reagiert der Herr Professor nicht nur, sondern erregiert auch. Und ganz plötzlich rutscht die Julia von seinem Schoß hinunter, direkt zwischen seine Beine und es scheint, als würde sie sich wieder hochziehen wollen, um ihn für seine Hilfe zu danken, aber gerade als sie sich beim Gürtel hochziehen will, geht der auf und die ganze Hose von dem Herrn Professor rutscht hinunter.
Bestimmt nur ein Zufall, aber ich denke, dass es trotzdem besser wäre, wenn wir uns hier verziehen. Irgendwie ist mir jetzt ganz schlecht geworden, von so viel Pädagogik. Vielleicht kommt die Julia ja doch noch durch und wenn du jetzt sagst, dass das kein Wunder wäre, bei so viel harter Arbeit und so viel Französischnachhilfe, dann sage ich dir, dass das jetzt wirklich kein guter Zeitpunkt ist, um Witze zu machen. Gehen wir weiter. Gehen wir weg von dem Schulschiff, wir haben ja eh schon mehr gesehen, als uns lieb ist.
Schnell beeil dich, halt dich an den Flügeln einer Schwalbe fest und ziehen wir mit ihr hoch. Aus der Luft gibt es nämlich ganz schön viel zu sehen, Menschen, die sich in der warmen Juli-Sonne bräunen lassen, Boote, die in der Neuen Donau, der Donauregulierung, schwimmen und Inline-Skater. Ziehen wir noch höher und sehen wir rechterhand die spitze des Stephansdoms, zu dem uns unsere Reise noch führen wird, hinter uns den Kahlenberg und vor uns die Donau.
Schneller führt uns unsere Reise, Wiesen ziehen unter uns davon, Menschen sehen ganz klein aus und schließlich erreichen wir unser Ziel, die Reichsbrücke. Sie verbindet den 22.Bezirk Donaustadt, mit seinen Parks, Seen und Feldern mit dem 2.Bezirk, dort wo sich der Prater befindet, der unsere nächste Station sein wird.
Aber wollen wir kurz abspringen von der Schwalbe, uns herzlich bedanken und noch einen Moment auf der Brücke stehen bleiben. So wie sie angefangen hat unsere Reise, geht sie auch zu Ende. Die Donau unter uns fließt dahin, egal was mit irgend welchen Schülerinnen und Lehrern passiert und auf seltsame Weise gibt uns das wieder etwas Mut, zwar den perversen Mut eines Ignoranten, aber Mut ist Mut.
Braun ist die Donau, wirst du dir jetzt vielleicht denken und du kannst es ruhig laut sagen, das weiß hier eh ein jeder. Böse Zungen behaupten ja, dass es mit der Donau ein bisschen so ist, wie mit einer bekannten Österreichischen Partei: Sie heißt blau, aber wenn man genauer hinsieht, ist sie eigentlich nur braun. Ich sag das nicht, böse Zungen. Ich würd so was natürlich nie sagen.
Bist du nun bereit, für die nächste Station, dem Wiener Prater? Das wird wohl ein besonderes Ereignis für uns werden, lustig, heiter und froh, so wie Wien eben ist. Los.