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Der Sprung ins Leben
Acht Stockwerke waren eine beachtliche Höhe. Früher, wenn er immer einfach nur so aus dem Fenster geschaut hatte, kam es ihm irgendwie nie so hoch vor. Aber jetzt, als er hier draußen vor seiner Wohnung auf dem Fenstersims stand, sah das alles ein bißchen anders aus. Er stand schon eine ganze Weile hier oben. Man hatte ihn auch längst entdeckt und ein riesengroßes Sprungtuch ausgebreitet. Der Menschenauflauf dort unten nahm ungeheure Ausmaße an. Das Polizei- und Feuerwehraufgebot war enorm, und drei Krankenwagen standen bereit. Er überlegte kurz, für wen die wohl alle sein sollten. Vermutlich nahm man an, daß er zwei von den Leuten dort unten auf den Kopf sprang. Vielleicht waren die auch für zwei alte Damen, die vor Aufregung einen Herzanfall kriegen könnten. Er wußte es nicht. Er hatte keine Erfahrung mit Sprüngen aus der achten Etage.
Die Luft war angenehm warm. Es mußte jetzt so gegen sechzehn Uhr sein. Seine Frau war heute Morgen bei der Entbindung gestorben. Das Kind, ein Mädchen, war viel zu früh und hatte es seiner Mutter gleichgetan. Für einen kleinen Augenblick waren sie zu dritt. Eine richtige kleine Familie. Jetzt war er allein und sah irgendwie nicht den Sinn, den das alles haben sollte. Wenn es einen Gott gibt, ist er ein selbstherrliches Arschloch, das Menschen sterben läßt, einfach nur deshalb, weil sich bestimmt irgendjemand darüber aufregen wird, was ihm, dem Gott, vermutlich unheimlich viel Freude macht. Zu gerne würde er dem ‚lieben´ Gott eins auswischen. Wie wäre es zum Beispiel, wenn plötzlich alle Menschen der Welt auf einmal krepierten? Dann könnte er niemanden mehr piesacken und würde höchstwahrscheinlich fuchsteufelswild werden und sich dann wohl über die armen Tiere hermachen, die dann wiederum darüber so verwirrt wären, daß sie vor lauter Unverständnis zu Grunde gingen.
An all dies, und noch einiges mehr, dachte unser Held dort oben im achten Stockwerk, und er beschloß, wenn er schon nicht alle Menschen auf einmal umlegen konnte, so hatte er doch selbst die Möglichkeit, wenigstens einen Anfang zu machen.
Er stieß sich heftig von der Mauer ab und gab sich allergrößte Mühe, das Sprungtuch zu verfehlen. Den Feuerwehrleuten, die das Tuch hielten, bereiteten seine lustigen Kursänderungsversuche keine Schwierigkeiten. Menschen können nun mal nicht fliegen. Auf Höhe der zweiten Etage sah er ein, daß er nicht vorbeiflog, um so richtig schön hart auf dem Boden aufzuschlagen. Also versuchte er, in einer Stellung zu landen, bei der er sich möglichst wenige Knochen brach, denn lange im Krankenhaus herumzuliegen hatte er auch keine Lust. Und außerdem wäre es ihm auch viel zu peinlich. Entweder man stirbt ganz oder gar nicht. Für halbe Sachen hatte er noch nie etwas übrig gehabt.
Er landete erstaunlich weich. Nur sein rechtes Knie knallte irgendwie gegen seine Unterlippe und ließ sie aufplatzen. Das war’s. Außer das er immer noch nicht tot war, war alles halb so schlimm.
Die Leute stürmten auf ihn zu und hauten ihm auf die Schulter und beglückwünschten ihn zu seinem Mut. Er war noch ein wenig wacklig auf den Beinen. Adrenalin pur. Ein Sanitäter tupfte seine blutende Lippe ab. Ansonsten war ihm scheinbar wirklich nichts passiert. Von weitem sah er ein paar Polizisten näherkommen. Typisch, dachte er, die sind immer die Letzten. Vermutlich machen sie es mit Absicht.
Noch immer wurde er von den Leuten gelobt. „Hey“, schrie einer, „Du hast mir gerade fünfhundert Piepen eingebracht.“
„Scheiße“, rief ein anderer, „und ich habe gerade fünfzig verloren.“ Er lachte trotzdem. Einige von ihnen hatten also Wetten abgeschlossen.
„Nichts für ungut“, rief er in die Menge. Er lachte auch. Plötzlich fühlte er, daß er leben wollte. Es konnte auch Spaß machen. Hin und wieder. Tränen schossen ihm in die Augen. Trotz allem. Er war irgendwie glücklich.
Ein alter Mann stellte sich vor ihm hin. Typ Seebär. Weiße Haare auf dem Kopf und im Gesicht. Zusammengekniffene Augen. Kein Lächeln, aber eine angenehme tiefe Stimme: „Weißt du, mein Sohn, ich habe viel gesehen und genauso viel erlebt in all den Jahren. Ich habe meine Frau verloren und meine Kinder. Das ist schon viele Jahre her. Ich bin immer ein Spieler gewesen, habe gewonnen und verloren. Auch du hast vermutlich etwas verloren. Ein Verlust, der so schmerzhaft zu sein scheint, daß du sterben wolltest, sonst wärest du nicht gesprungen. Ich bin alt. Ich habe eine stattliche Summe darauf verwettet, daß du nicht springst. Ich dachte nicht, daß so ein Jüngling wie du, der das echte Leben in seiner ganzen Härte wahrscheinlich noch nie zu Gesicht bekommen hat, so etwas fertig brächte. Ich habe mich geirrt. Dir gehört mein ganzer und ehrlicher Respekt. Du hast den Willen und den Mut zum Sterben, den ich nie aufbringen konnte, gezeigt. Ich gebe dir also, wonach du verlangt hast.“
Niemand konnte der Polizei später sagen, wohin der alte Mann verschwunden ist, nachdem er dem Springer eine Kugel in den Kopf gejagt hatte.