Der springende Punkt
Durchatmen. Hinter dieser Tür steht er, am Rande des Daches. Was hatte der Portier eben gesagt? Er hatte sich als Schriftsteller ausgegeben, der eine Geschichte über einen Selbstmörder schreiben möchte. Scheiße. Guter Trick, um einen Weg aufs Dach zu finden. Von wegen Recherche.
Na gut, auf geht´s. Tür auf, raus an die frische Luft. Schöner Tag eigentlich. Nicht mal all zu windig hier oben. Ok, da steht er. Die Arme hinter dem Rücken verschränkt, nach unten schauend. Nicht gerade das typische Verhalten eines Suizidgefährdeten. Ok, ganz ruhig.
„Da sind Sie ja endlich.“
Meint der mich? Natürlich, hier is ja sonst keiner. Da, er dreht sich um. Grinst mich an. Oh, nein. Bitte nicht einer von diesen „Hilfe, beachtet mich, sonst spring ich“ – Typen. Ich hasse diese Arschlöcher.
„Kommen Sie, wir sollten reden! Lassen Sie sich helfen!“ leiere ich meine Floskel herunter, seine erste Aussage ignorierend.
„Strecken Sie auch noch eine Hand nach mir aus? Dann hätten wir ja das Hollywood – Klischee perfekt.“
Verwirrung. Wenn er nicht so verdammt selbstbewusst und gut gelaunt klänge, könnte ich ihm das alles als Galgenhumor durchgehen lassen. Irgendwie stimmt hier was nicht.
„Ähm...“ Verdammt! Ich bin Psychologe, ich sollte mit so was umgehen können!
„Sie sind verwirrt, nehme ich an.“ Jetzt fängt der auch noch an, auf und ab zu gehen. Zwei Zentimeter neben einem hundert Meter tiefen Abgrund.
„Nun, ein wenig“, gestehe ich. „Mir scheint, Sie haben gerade ihre Lebensfreude ein wenig zurück erlangt. Gibt es vielleicht doch nicht etwas in Ihrem Leben, was es wert wäre, weiter gelebt zu werden?“ Puh, sicheres Terrain. Kurve noch gekriegt.
„Nein, wohl nicht. Meine Frau ist kurz nach unserem Erstgeborenen gestern im Kindbett gestorben, ich bin völlig bankrott und sitze auf der Strasse.“ Er bleibt stehen und lächelt mich freundlich an.
Es fällt mir schwer, ihm das zu glauben, so wie er lächelt. Wahrscheinlich hat er eine schwerwiegende Psychose. Gut, nachdenken. Er ist wohl Mitte Zwanzig.
„Was ist mit Ihren Verwandten und Freunden? Sie werden Ihnen doch mit Sicherheit über diesen schweren Verlust hinweg helfen!“ Mist, ich habe vergessen, ihm mein Beileid zu bekunden.
„So, meinen Sie? Mal ehrlich, was würden Sie machen, wenn ein Freund von Ihnen mein Schicksal erleiden würde? Würden Sie sich mit Ihrem Bekanntenkreis abstimmen, und Ihrem Freund womöglich über Monate, vielleicht Jahre, seelischen Beistand leisten? Ich schätze, Sie würden nach einer Woche anfangen, sich weniger um ihn zu kümmern; Sie haben ja schließlich auch noch ein eigenes Leben. Was Verwandte angeht, so habe ich keine in meiner unmittelbaren Nähe. Und man braucht Menschen um sich herum, nach einem solchen Verlust. Wenn einen die Einsamkeit übermannt, die Verzweiflung, und dann grade niemand da ist, der einem zur Seite steht, dann möchte ich Sie mal sehen.“
Alles ganz freundlich vorgetragen, so als ob er an der Uni dozieren würde.
„Aber Ihre Freunde werden doch mit Sicherheit Anteil an Ihrem Leid nehmen, sie werden Ihre Frau doch mit Sicherheit auch gekannt haben!“ Vorsicht! Nicht diskutieren.
„Meine Freunde nehmen so viel Anteil, dass sie mir nicht einmal eine Unterkunft für wenige Tage anbieten. ‚Du weißt schon, wegen der Kinder’ oder es ist schlichtweg kein Platz. Ich schätze, sie wollen einfach nicht mit einem Unglücksfall wie mir ständig konfrontiert sein. Das würde ihnen vor Augen führen, wie zerbrechlich das Leben an sich ist. Und wie unwichtig ihre ganzen kleinen Problemchen.“ Er zuckt die Schultern, lächelt und schaut einen Moment nach unten. „Die Feuerwehr hat aber lange gebraucht.“
Also gut, während er abgelenkt ist, mal sammeln und zusammenfassen. Er sitzt auf der Straße, hat keine Familie mehr und ist wohl auch ansonsten einsam.
„Kommen Sie doch erst einmal vom Dachrand weg. Dann können wir in Ruhe reden. Nur Sie und ich.“
„Tut mir leid, aber ich werde nicht von hier weggehen. Mir gefällt´s hier.“ Er schaut nach oben, atmet ein und sagt: „Schönes Wetter, nicht wahr?“
Ja, schönes Wetter. Wenn du Drecksack hier nicht so ein selbstmitleidiges Theater veranstalten würdest, könnte ich jetzt mit meinen Hunden am Strand sein, blöder Penner.
„Ja, sehr schönes Wetter. Ich freue mich dann immer am Leben, zu sein.“ Ich bin wirklich nicht in Bestform.
Er lacht. „Netter Versuch, Sportsfreund. Aber Sie haben recht, bei solchem Wetter ist das Leben gleich viel lebenswerter.“
„Warum kommen Sie dann nicht wieder mit hinunter? Es gibt viele Menschen, die Ihnen helfen können und wollen! Sie sind doch noch so jung!“ Und ich bin dich dann los.
„Ich muss nur daran denken, dass meine Frau diese Luft nie mehr wird atmen können, von unserem Sohn ganz zu schweigen.“ Er lächelt. Und lächelt. Und treibt mich in den Wahnsinn.
Na gut, jetzt greife ich in die Glaubenskiste. „Sind Sie gläubig?“ Wie heißt er eigentlich? Scheiße, verdammte, das gehört doch wohl dazu! Standardfrage! Mann!
„Sehr sogar. So sehr sogar, dass ich gar keine Angst vor dem Tod habe.“
„Sind Sie getauft?“
„Ja, wenn ich auch aus der Kirche ausgetreten bin.“
„Wie ist Ihr Name?“
„Rudolf. Die Frage hatten Sie zu Anfang vergessen, stimmt´s?“
Wichser. „Nein. Ich versuche immer zuerst nur den Menschen an sich zu betrachten, ohne mich von Namen beeinflussen zu lassen.“ Ich kann lügen ohne rot zu werden.
„Sie können lügen ohne rot zu werden.“ Das war eine Feststellung, keine Frage, soviel ist klar. Was denkt der sich eigentlich?
„Also, ich,..., wie auch immer, Sie sind also gläubig.“
„So ist es.“
„Dann glauben sie an Gott?“
„Bedingt. Ich glaube nicht an eine Entität, die da oben sitzt und die Fäden in der Hand hält. Ich glaube an das ewige Leben.“
Jetzt hab ich dich, mein Freund!
„Wenn Sie an das ewige Leben glauben, müssten Sie doch auch daran glauben, dass Ihre Frau und Ihr Sohn irgendwo weiterleben?“
„Ja, so ist es.“ Er lächelt, dieser Schmock.
„Und glauben Sie nicht, dass es vielleicht einen Sinn hat, dass sie das alles erleben mussten? Dass es ein Ziel gibt?“
„Glauben Sie an so etwas?“
Was soll das? Wer stellt hier die Fragen?
„Ja, ich bin dieser Überzeugung!“ So´n Quatsch. Ich mach hier bloß meinen Job, damit ich meine Familie ernähren kann. Du bist mir scheißegal, und an Vorbestimmung glaub ich erst recht nicht.
„Sie können tatsächlich lügen ohne rot zu werden. So wie fast jeder in dieser Gesellschaft.“ Er schüttelt den Kopf, lächelt nicht mehr. „Ich werde jetzt springen.“ Er dreht sich um und breitet die Arme aus.
„NEIN!!“ rufe ich und mache einen Schritt auf ihn zu.
Er hält inne. Mein Puls rast, meine Knie zittern.
„Nanu, warum auf einmal so emotional? Ist es Ihnen nicht egal, ob ich springe?“
„Natürlich nicht!“ sage ich schwer atmend. Diesmal war es nicht gelogen.
„Warum, werden Sie schlechter bezahlt, wenn ich springe? Oder fühlen Sie sich schuldig?“
Ich sacke auf ein Knie nieder, mir ist schlecht. „Nein, nur...verdammt, Sie können doch nicht einfach Ihr Leben wegwerfen!“ Er lächelt wieder, angenehmer diesmal. Er kommt herunter und setzt sich zu mir.
„Warum nicht? Ist es nicht meine Entscheidung, wann ich aufhören möchte zu leben? Wenn es nichts mehr gibt, wofür es sich zu leben lohnt?“
„Aber es gibt immer etwas, wofür es sich zu leben lohnt.“
„Zum Beispiel?“
Ich denke nach.
„Sagen Sie, wofür Sie leben!“ fordert er mich auf.
Ich denke nach. „Ich möchte einmal einen angenehmen Lebensabend haben. Meine Kinder sollen es später einmal gut haben. Meine Frau.“ Ich halte einen Moment inne. „Es tut mir sehr Leid, was ihnen widerfahren ist.“ sage ich aufrichtig.
„Ist schon in Ordnung. Wie stellen Sie sich ihren Lebensabend vor?“
Ich zucke die Schultern. „Das Leben genießen, ohne Stress. Kochen. Im Garten arbeiten. Einfach mit meiner Frau und meinen Kindern das Leben genießen.“
„Warum fangen Sie nicht sofort damit an? Das geht, Sie müssen nur mehr auf die kleinen Dinge achten. Wie zum Beispiel das schöne Wetter.“
Ich schaue ihn nur an. Irgendwie hat er ja recht.
„Sie meinen wahrscheinlich, dass das gar nicht so einfach ist, nicht wahr?“
Ich nicke. „Nein, es ist nicht einfach. Wenn ich an all die Dinge denke, die man so täglich erledigen muss, fällt es einem schon schwer, die ganzen kleinen Dinge zu beachten, die das Leben schön machen.“
Er nickt. „Kommen Sie, schauen wir einmal hinunter.“ Er hilft mir auf, ich lasse mich von ihm zum Dachrand führen. Vorsichtig schaue ich mit ihm hinunter. Unten tummeln sich Menschen, Polizeiautos, Feuerwehrleute und natürlich die Presse. Sensationsheischende Aasgeier.
Die Feuerwehr hat ein großes Polster aufgebaut, auf dem man vermutlich unverletzt landen würde, sollte man tatsächlich springen.
„All diesen Menschen habe ich wohl den Tag versaut, schätze ich.“ Da dürfte er recht haben. Mir hat er den Tag auch erst mal versaut gehabt. Zumindest dachte ich das.
Er blickt mich an. „Die sind dann wohl alle umsonst gekommen, was?“
„Es sei denn, es springt noch jemand!“ sage ich im Scherz. Was habe ich da gerade gesagt? Scheiße, so was sollte man einem potenziellen Selbstmörder doch nicht sagen! Kacke!
„Sie sind nicht zum Psychologen geboren, was?“ Er grinst.
„Wenigstens nicht heute.“ muss ich gestehen.
„Was stört Sie denn an Ihrem Beruf ?“
Stört mich was an meinem Beruf? Ja. „Wenn wir mal ehrlich sind, dann müsste ich doch mit jedem Menschen, der mir begegnet, ein therapeutisches Gespräch führen. Heutzutage hat doch fast jeder mindestens eine schwerwiegende Psychose.“ Ich halte einen Moment inne. „Zuerst sollte ich dann wohl auch mit mir selbst reden.“
Er grinst. „Da haben Sie wohl recht. Warum sind Sie dann Psychologe geworden?“
Ich zucke mit den Schultern. „Ich wollte immer der sein, der andere versteht, anderen hilft, etc. Aber irgendwie haut´s für mich nicht hin.“
„Was wollen Sie denn sonst machen?“
„Leben, für´s erste.“
„Dann fangen Sie doch jetzt damit an!“ Eine einladende Geste über den Dachrand hinaus.
„Ich glaube, Sie haben mich falsch verstanden! Ich möchte leben, nicht...“
„Ja ja, ich weiß! Aber glauben Sie wirklich, Sie würden den Flug nicht überleben?“ Er lächelt wieder.
Ich schaue hinunter. Der Abgrund ist gar nicht so tief. Das Wetter ist schön. Ein Vogel fliegt vorbei. Ich blicke zu Rudolf. Er lächelt. Und lächelt. Und lächelt. Ich gehe noch einen Schritt weiter an den Rand. Unten wird alles hektisch.
„Kommen Sie, ich springe mit!“ Rudolf stellt sich neben mich, lächelt mich an und breitet die Arme aus.
Der Flug ist schön. Das Leben rauscht in meinen Ohren, die Sonne scheint auf alles. Wie in Zeitlupe fliege ich auf das große Polster zu. Ist es aus Gummi?
„Warum haben Sie das getan?“ fragt mich ein Mann. Eine Frau sitzt daneben und weint.
Ich selbst sitze in einem Krankenwagen, hinten auf der „Ladefläche“. Ein netter Mensch hat mir einen Tee gegeben und mir eine Decke umgelegt. Hier unten sitzen wir im Schatten. Sehnsüchtig blicke ich wieder nach oben.
Der Mann wiederholt die Frage. Er klingt irgendwie gehetzt.
„Ich wollte leben!“ erkläre ich ihm. Ist das nicht offensichtlich?
„Wie geht es Rudolf?“ frage ich.
„Wem?“ fragt der Mann verwirrt, während die Frau heftiger zu weinen beginnt. „Oh, Gott“ schluchzt sie in ihr Taschentuch. Irgendetwas kommt mir an ihr bekannt vor.
„Wer ist Rudolf?“ fragt der Mann, sehr bedächtig diesmal.
„Na, der Mann, der mit mir gesprungen ist! Der sich zuerst das Leben nehmen wollte!“
Die Frau wimmert hysterisch.