Der Splitter
Der Splitter
Franz sehnte sich nach dem Ende der Schmerzen. Diese klopften immer heftiger und jeder Augenblick brachte einen neuen Schub, was seinen Schädel beinahe bersten ließ. Er traute sich kaum in den Spiegel zu sehen da das, was die Schmerzen verursachte, unglaublich war. Unglaublich lang und scharf – und tief in seinem Körper. Wie gelähmt stand er da in seinem Bad und zählte die Sekunden und die Wassertropfen, die aus dem Wasserhahn herabfielen. Im Waschbecken lag ein mit Blut durchtränktes Handtuch, das von weitem aussah wie ein Stück Hirn. Das ehemals gelbe Handtuch war zusammengeknüllt und gab den herabstürzenden Wassertropfen einen fleischigen Klang. „Keine Bewegung ... keinen Millimeter!“, dachte er sich und ließ nur ein Augenzwinkern zu. „Eine Bewegung und sie kommen wieder ...“, er betrachtete den Splitter „... diese Schmerzen.“ Seine Blicke wanderten lahm und ängstlich an seinem Körper auf und ab. Er atmete vorsichtig und konzentrierte sich auf die kommenden Schmerzen. Anfangs versuchte er den Splitter herauszuziehen, anfangs stand er auch unter Schock und spürte nichts. Doch den Splitter bekam er nicht heraus. „Hoffentlich kommt jemand, um mir zu helfen!“, flüsterte er sein Spiegelbild an und schaute dann auf die halb leere Flasche Whiskey, die am Waschbeckenrand stand. Gelegentlich ein Schluck, am Ende immer mehr und alles wurde für einen Moment lang kalkulierbarer. Langsam ließ er seine Hand in seine Hosentaschen gleiten, um an sein Handy zu kommen. Er klappte es auf und ließ seinen Daumen über die Tasten gleiten. Nachdem er die Pinnummer eingegeben hatte, schaute er gebannt auf das Display. „Verdammt! Mach schon!, Er bewegte sich und der Splitter auch. „Verdammt!“, zischte er „Schmerzen!“, der Splitter, der vorne wie hinten mehrere Zentimeter aus seinem Körper herausragte, bewegte sich. „Kein Empfang!“; fluchte er und warf das Telefon auf den Boden. Franz tastete ihn vorsichtig ab – die Form des Splitters war die eines Eiszapfens – am Anfang eine dünne Spitze und zum Ende hin mit einem größeren Durchmesser versehen. Und nun steckte dieses fast ein Meter langes Etwas in seinem Körper. Quer von oben Rechts an seiner Wirbelsäule vorbei unten Links wieder heraus. Er hatte keine Ahnung von der Anatomie seines eigenen Körpers – aber eines wußte er: Nämlich das er ein verdammtes Glück hatte das er noch lebte, oder nicht? „Eigentlich wäre ich lieber tot.“
Draußen um Flur hörte er schritte, irgendwer ging gerade an seiner Wohnungstür vorbei.
„Haaaallooo!“, rief er – und beäugte seinen Splitter. „ Hallo!“, erneut rief Franz. Doch die Schritte gingen weiter. Das Licht das im Bad leuchtete, warf einen beängstigendes Schattenbild an die Wand. Sein Körper sah mit dem Splitter an der Wand aus wie ein unförmiges Monster, das jeden Moment darauf wartete, einen unschuldigen Menschen anzuspringen. Die Frage, wie dieser Splitter in seinen Körper gekommen war, war für ihn in diesem Moment unwichtig, er fragte sich nur wie er ihn wieder herausbekäme. Sein helles T-Shirt war vom Blut ganz verklebt und seine Jeanshose hing halb herunter. Er hatte die Gürtelschnalle geöffnet. Am hinteren Ende des Splitters hing ein kleines Stück Fleisch, das aber nach einer schwachen Bewegung zu Boden fiel.
Franz hörte erneut Schritte im Flur. Vorsichtig drehte er seinen Kopf zur Seite. „Ha ...Hallo!“, stotterte er beängstigt. „Mist, wieso hört mich niemand!“; fluchte er leise. Doch die Schritte blieben stehen. Leise wippte die Person auf den Sohlen auf und ab. „Hallo! Kann mir jemand helfen!“, rief Franz und hielt seine Hand aus irgendwelchen Gründen über den Splitter, beinahe so als ob er ihn damit abhalten wollte, sich zu bewegen. „Hallo! Hilfe! Ich kann nicht an die Tür kommen! Sie müssen Sie eintreten!“, rief Franz erneut. Die Schritte gingen einige Meter auf und ab. Dann blieben sie wieder stehen. Durch den Spiegel konnte er schräg auf die Wohnungstür sehen – und bemerkte, dass sich die Türklinke nach unten bewegte.
Ganz langsam.
Auf und ab.
Doch die Tür ging nicht auf. Franz Blicke wanderten auf den Schlüssel, der im Schloss steckte. Er schloss seine Wohnungstür immer ab. „Nein, bitte gehen Sie nicht weiter!“, rief er. „Was soll ich nur tun...“, dachte er nach – einen Moment lang wurde ihm schwarz vor Augen. Es mußte der Blutverlust gewesen sein. Mit einer Hand hielt er sich am Waschbeckenrand fest. „Nein, nicht hinfallen!“, flehte er sich selbst an. Er stellte es sich vor, wie er mit dem Splitter nach vorne auf den Boden fallen würde. Der Fremdkörper würde sich weiter in seinen Leib bohren und ihn am Ende töten. Das breiter werdende Ende des Splitter würde die Organe zusammenpressen und ihm ein schnelles Ende bereiten. „Schneller töten?“ Franz dachte einen Moment lange nach. „Das wäre meine Rettung, ich werfe mich auf den Boden und alles ist aus.“ Er schaute auf den mit Blut durchtränkten Boden seines Badezimmers. Sein Handy lag weiter weg und gab einen Piepton von sich. Es hatte sich gerade ins Netz eingewählt. „Nein, das darf doch nicht sein!“, fluchte er. „Das Handy, dieses verdammte Handy! Nun hat es Empfang!“, er schaute auf den Boden. Die Schritte im Flur gingen weiter, entschwanden aus Franz Gedächtnis.
Er dachte nur daran, irgendwie an das Handy zu kommen. „Ich muss ganz langsam an die Stelle kommen, an der es liegt.“ Er balancierte mit Bedacht nach vorne. War eben noch völlige Bewegungslosigkeit das Thema, so war nun die leise Hoffnung über das Telefon Hilfe zu rufen wichtiger. „Gaaannzzz ...“, er schaute auf den Splitter „.... vorsichtig!“, er hob einen Fuß an und setzte ihn inmitten einer Blutlache, dann drehte er sich äußerst besonnen in die Richtung des Telefons. Nun sah er sein Spiegelbild von der Seite. Allerdings reichte der kleine Spiegel über dem Waschbecken nicht aus, um die ganze Länge des Splitters zu sehen. Dann schaute er wieder auf das Handy, es lag etwas mehr als einen Meter vor ihm auf dem Boden. „Gleich hab ich dich!“, er peilte auf das Gerät. „Dann werde ich jemanden zur Hilfe rufen und mir geht es wieder gut!“, er tastete sich Millimeter für Millimeter nach vorne. „ ... so ...“, er kam immer näher, hielt zur rechten Seite an der Wand fest. Das Waschbecken lag nur hinter ihm, der Spiegel war weg. Hinter dem Handy war das Klo. Plötzlich klingelte das Handy. „Ein Anruf! Von wem?“, er versuchte einen Blick auf die Nummer zu werfen, die auf dem Display stand. Beinahe wäre alles zu schnell gegangen – der Splitter bewegte sich leicht und verursachte ein rasendes schmerzhaftes Klopfen in seinem Leib. „Nein ... langsam, verdammt, langsamer machen!“, sagte er zu sich selbst.
Das Handy klingelte nicht mehr.
Gelähmt vor Schmerz und Ärger, dass er das Gespräch nicht annehmen konnte, blieb er stehen, einen halben Meter vor dem Handy. Seine rechte Hand hielt sich an der Badezimmerwand fest, sein Blick kreiste um den Splitter. Sein nach vorne geneigter Kopf starte minutenlang auf dieses „Ding“, das da in seinem Körper steckte, das ihn lähmte und zugleich noch leben ließ. Sollte er es tun? „Soll ich es herausziehen?“, fragte er sich. Und das war nicht das erste mal. Oft plagte ihn dieser Gedanken, doch den Mut dazu hatte er bisher noch nicht gehabt. „Den Mut...“, dachte er sich. „Einfach diesen Splitter herausziehen...“, über Mut hatte er bereits nachgedacht, aber nicht soweit, dass er daran dachte den Splitter zu ziehen. War er nun soweit? Nun, als sich herausstellte, das er sich selbst helfen mußte? Zum Handy war es nur ein halber Meter, doch sollte ihm wirklich jemand helfen können? Die Tür war verschlossen. „Dann muß man sie eintreten.“, fügte er seinem Gedanken hinzu. „Einfach mit einem festen Tritt aus den Angeln treten.“, doch dazu mußte er erstmal an das Handy kommen. Und das war sein Problem, er konnte keinen Kontakt zu einem anderem Menschen aufnehmen. Er würde sich hinknien müssen, um an das Gerät zu kommen, und was wäre, wenn er ausrutschte? Er schaute zurück um Waschbecken, sah den Spiegel, das Handtuch und die Flasche Whiskey.
Er legte seine Hände auf das vordere Ende des Splitters, der vor ihm aus seinem Oberkörper herausragte. Er verschloß seine Augen und verschweißte sie feste. Blind geführt begann er mit den Fingerspitzen auf dem Splitter zu klopfen, leise tippte er eine Melodie seines Lieblingsliedes auf den Fremdkörper. „So, alles gut, alles ist gut...“, dachte er sich. Dann klammerte er beide Hände um das Teil und hielt es fest, seine Arme standen leicht angewinkelt vor ihm und waren nun bereit den Splitter aus sich herauszuziehen. Vorher hatte er seine Beine gespreizt um sicher und stabil zu stehen, ausrutschen war nun nicht mehr möglich. Er stand eingekeilt da und wartete auf den Moment, der seine Arme und Hände ihn befreien würden.
Er zog.
Sachte.
Der erste Schmerz.
Er zog erneut – langsam unter starken Schmerzen bewegte sich der Splitter. Blut tropfte am anderen Ende, hinter ihm zu Boden. Knochen und Fleisch erzeugten einen leisen, schaurig vermischten Ton. So ähnlich wie Holz, das leise zerbrach, gaben die Knochen unter der nachgebenden Last des Splitters nach. Franz biß auf seine Lippen, so sehr, das sie erst bluteten und dann zerfetzt nach vorne hingen. Dieser Schmerz war nichts im Vergleich zu dem, was sich einige Zentimeter tiefer abspielte. „Komm raus!“; fluchte er einen Gedanken. „Raus sag ich!“, langsam bewegte sich der Splitter wie geplant nach vorne, immer mehr zog sich Franz diesen Feind aus seinem Leib. „Raus!“, schrie er und öffnete die Augen. Er sah, das er den Splitter zur Hälfte herausgezogen hatte. Fleisch und Blut klebte an ihm. „Komm ... komm ...“, sagte er zu seinem Feind. Immer weiter rutschte das Teil heraus, vorne zeigte sich nun eine größerer Öffnung, noch einige Millimeter und der Splitter war draußen. Erschöpft und erleichtert zugleich warf er ihn vor sich auf den blutigen Boden. Er knallte in die Blutsoße und rollte einige Kacheln weit. Franz löste seinen Körper aus der Anspannung und schaute auf das Loch, das nun in ihm klaffte. „Schmerzen...“, dachte er sich – „Sie sind noch da ... aber nicht mehr so stark.“, seine Blicke fielen auf sein Hände, langsam beugte er sich und nahm es auf. Er wählte eine Nummer und rief den Notarzt.
„Ich hab es geschafft!“, rief er laut. „Ich habe es endlich hinter mich gebracht!“; triumphierend ballte er seine Fäuste. Er warf das Handy zu Boden, es landete neben dem Splitter auf den Boden des Badezimmers. Er tippelte zurück zum Waschbecken und schaute in den Spiegel, dann auf das Handtuch. Und zum Schluß auf die Flasche Whiskey. „Na du, ohne deine Hilfe habe ich es geschafft! Was sagst du dazu?“, er starrte die Flasche an. Wenige Augenblicke später konnte man bereits den Krankenwagen hören. Er näherte sich laut und deutlich vernehmbar dem Haus, in dem Franz wohnte. Die Helfer rannten die Treppe hinauf und suchten nach der Wohnung, in der Franz wohnte. Als sie an der Wohnungstür ankamen, klingelten und klopften sie an die Tür. „Hallo! Machen Sie auf!“,
Von innen war nichts zu hören. Sie wiederholten sich, aber es kam keine Antwort.
Die zwei Männer waren ratlos. „Was nun?“, fragten sie sich. Kurz darauf öffnete sich auf der anderen Seite eine Wohnungstür. Eine ältere Frau stand im Schlafanzug in der Tür. „Na, hat der es endlich geschafft?“, krächzte sie. „Was?“, fragte die beiden Helfer gleichzeitig. „Hat er sich endlich zu Tode gesoffen?“.
Franz lag in seinem Badezimmer, er hörte nichts mehr. Er lag regungslos da – in seinem picobello sauberen Bad. Neben ihm auf dem Boden lag die leere Flasche Whiskey, aber kein Splitter.
Franz war tot.
Ende