Was ist neu

Der Spielmann

Mitglied
Beitritt
01.02.2004
Beiträge
5

Der Spielmann

Der Spielmann

MEISTER DER STADT. dröhnte es aus weiter Ferne zu ihm herüber und der Klang der fremden Stimme quoll als dicker Nebel aus einer Erdspalte und stieg zu ihm auf. Ächzend drehte der Meister den Kopf beiseite und durchfurchte die Luft mit seinen fleischigen Fingern, als wolle er die Stimme davon abhalten ihn zu erreichen. Doch der Nebel folgte seinen fahrigen Gesten nicht. Einen Augenblick verharrte er still, nachsinnend. Wie zu Eis erstarrt hing er in der Luft, schwerelos, ein bizarres Gebilde aus flüchtigem Hauch, für einen Augenblick so greifbar wie milchiges Glas. Dann aber waberte er auf den Meister zu und kroch in seine gierig flatternden Nüstern.
„Ah!“ seufzte der Meister und verdrehte genüsslich die Augen „Das ist schon besser, viel besser.“ Wie angenehm war dieser Duft des gut gewürzten Schlossbratens. Ein Lächeln zeigte sich auf seinem feisten Gesicht und seine kleinen listigen Augen funkelten. Wie hungrig er doch war, ihm war schon ganz flau im Magen. Aber dort saßen ja schon seine Kinder am Tisch und warteten ungeduldig, bis der Vater sich sein wohlverdientes saftiges Stück Fleisch abschnitt und ihm gegenüber saß auch sein gutes Weib, und blickte nicht weniger erwartungsvoll.
„Lass es dir schmecken“ rief sein Jüngster und der Meister ließ sich das natürlich nicht zweimal sagen, sondern beugte sich hungrig nach vorne und stieß das große Messer in die Schüssel. Doch irgendetwas war faul, er fühlte es. Das Messer, es...
Überrascht fuhr er zurück, Blut troff von der scharfen Schneide. Angeekelt ließ er es fallen und die Tochter schrie und der Sohn sprang so heftig zurück, dass sein Schemel nach hinten umkippte und scheppernd auf den Holzdielen aufschlug.
In der großen hölzernen Schüssel aber war nichts zu sehen als ein einziges Durcheinander von schmutzig braunen Fellen. Es waren große fette Ratten, die übereinander herkrochen. Eine von ihnen blutete aus einer klaffenden Wunde und ihre Schwestern fielen über das sich windende und quietschende Tier her, um sich an ihrem Blut und dem lebenden Fleisch zu weiden.
MEISTER DER STADT. drang die tiefe Stimme an sein Ohr und hörte der Meister nicht, dass diesmal so etwas wie Hohn in den Worten mitschwang? Hohnvoll, ja, hohnvoll hatten die dunklen Augen des jungen Schankmädchens dreingeblickt, als sie ihm seinen vierten Humpen Bier brachte und als er sie anstarrte. Als sich ein Lächeln auf seinem feisten Gesicht zeigte und seine kleinen Schweinsäuglein funkelten, hatte sie nur spöttisch auf ihn niedergeblickt. Dann aber hatte er seinen Beutel herausgeholt, den prallsten Lederbeutel in der ganzen Stadt, und hatte sein Gold gezählt. Die Münzen flutschten durch seine fettigen Finger und das Schankmädchens konnte den Mund nicht schließen vor Staunen. Da war sie auf seinen Schoß geklettert und hatte ihm ihre Arme um den Hals geschlungen und sein Gesicht mit Küssen bedeckt. Und später, als er ihr von seinem Bier gegeben hatte, bis sie nur noch kicherte und ihm ins Ohr wisperte, da nahm er sie mit ins Gastzimmer und verlor sich mit seinen groben Fingern in ihrer wilden Scham. Sie kicherte, das dumme Ding, und lüstern lachend beugte er sich nieder, um diesen wilden Wald aus krausem Haar näher zu besehen. Doch mit einem Mal verzerrte sich sein lüsternes Gesicht zu einer Grimasse des Abscheus. Eine hässliche graubraune Ratte hockte im Schoß des Mädchens und grub ihre gelben scharfen Zähne in sein nacktes Fleisch.
„Meister der Stadt!“ tönte es von unten herauf und der Meister fuhr mit einem Ruck in seinem gepolsterten Sessel hoch.
„Was ist?“ stammelte er, sich benommen die steifen Glieder reibend „Ich habe Stimmen gehört, ich muss...“ einen Augenblick hielt er nachdenklich inne um sich zu entsinnen, es schien ihm, als sei ihm ein sehr wichtiger Gedanke entfallen. Aber er wollte und wollte ihm nicht mehr einfallen, so sehr er sich auch das Gehirn zermarterte.
„Ich muss geträumt haben.“ murmelte er schließlich. Da trat einer der Stadtschreiber an ihn heran.
„Meister!“ rief der junge Mann ganz aufgeregt „Drunten auf dem Marktplatz steht ein komischer Fremder, der dringend mit Euch zu reden wünscht.“
„Was will der Kerl?“ fragte der Meister ungehalten. Zwar konnte er sich nicht an den genauen Inhalt seiner Träume erinnern, aber die unheilvollen Bilder, die noch immer schemenhaft durch seinen Kopf geisterten, schlugen sich auf des Meisters Stimmung nieder.
Der Stadtschreiber zuckte nervös die Achseln. „Ich weiß es nicht, aber ich rate Euch dringend, Euch ihm zu zeigen, denn er brüllt schon eine Ewigkeit nach Euch und die halbe Stadt hat sich schon auf dem Marktplatz versammelt, um herauszufinden, ob man Euch an den Kragen will oder was sonst der Grund des Tumults ist.“
Ächzend hob der Meister seinen schweren Leib aus dem bequemen Sessel und schleppte sich ans Fenster, das auf den Rathausplatz hinunterzeigte.
Als er seinen fülligen Oberkörper hinauslehnte, fluchte er leise und schirmte seine Augen gegen das helle Sonnenlicht ab, das ihn unvermittelt blendete. Es dauerte eine ganze Weile bis seine Augen sich an das schmerzend grelle Licht gewöhnt hatten und er die Hand herunternehmen konnte. Erst jetzt erkannte er die hochgewachsene Gestalt des Fremden, der in einen schillernden Mantel gehüllt war, wie der Meister noch nie zuvor einen erblickt hatte. Vielleicht war er noch immer ein wenig geblendet, aber es schien ihm, als wechselte der Umhang bei jeder Bewegung die Farbe. Bald schien er in sattem Grün, bald in dunklem Blau zu leuchten. Die Einwohner der Stadt hatten einen Kreis um den Fremden gebildet, um ihn zu begaffen, aber keiner von ihnen hatte sich näher als fünf Schritte an die sonderbare Erscheinung heran gewagt. So stand er zwar in einer großen Menschenmenge und war doch ganz für sich allein.
„Schön, dass du dich doch noch zeigst, Meister der Stadt.“ meinte er und verneigte sich vor seinem Gegenüber. Er sprach nicht laut und doch war seine Stimme sehr kräftig und weithin vernehmbar. Der Meister blickte überrascht auf den Fremden nieder, für ein paar Augenblicke war es dem sonst so beredten Manne unmöglich zu antworten. Nichts Greifbares war es, was ihm die Sprache verschlug, nur glaubte er sich an irgendetwas zu erinnern... Irgendetwas Bedeutungsvolles. Aber er konnte den Gedanken so wenig fassen, wie man Nebel mit den Händen greifen kann...
„Wohlan“ sagte er schließlich, als er seine Worte wieder gefunden hatte „Wer seid Ihr denn und was ist Euer Begehr.“
„Ich begehre nichts als dir und euch allen zu helfen. Mir ist zu Ohren gekommen, dass ihr hier mit einem gewissen Problem zu kämpfen habt.“ Der Fremde lächelte.
Der Meister sog hörbar die Luft ein. „Was wollt Ihr damit...?“
Aber der Fremde lies ihn nicht ausreden. „Ach, komm schon! Du weißt genau wovon ich spreche. Hiervon natürlich...“
Und mit diesen Worten streckte er seine rechte Hand dem Meister entgegen und dieser erkannte voll Ekel, dass es sich um eine besonders fette Ratte handelte. Auch den anderen Einwohnern ging es nicht anders, voll unverhohlenem Abscheu beäugten sie das Tier in des Fremden Hand.
„Die hier habe ich gefangen, als ich hierher kam.“ erklärte er „Und ich habe mich nicht besonders geschickt anstellen müssen, denn es gibt die kleinen Biester hier in Massen, nicht wahr?“
Der Bürgermeister nickte zögernd. „Das ist wahr und wir haben schon alles versucht, um dieser Plage Einhalt zu gebieten.“
Der Fremde lächelte erneut, aber der Meister konnte nicht behaupten, dass er sich bei diesem Lächeln behaglich fühlte.
„Ihr habt euch einfach zu dumm angestellt.“ behauptete er und bei diesen Worten brach er der Ratte das Genick und warf sie den Leuten vor die Füße. Ängstlich wich die Menge vor dem Kadaver zurück.
„Ich allerdings weiß, wie man mit so einer Plage fertig wird.“
„So.“ brummte der Meister, der noch immer nicht wusste, was er von der Sache halten sollte. „Und wie, wenn man fragen darf?“
Der Fremde lachte leise. Der Meister spürte, wie es ihm bei diesem Laut kalt den Rücken herunterlief
„Das lass nur meine Sorge sein. Aber wenn du meine Dienste in Anspruch nimmst, Meister der Stadt, dann garantiere ich dir, dass du die kleinen Quälgeister binnen einer Nacht los sein wirst.“
„Eine Nacht...“ raunten die Leute ungläubig, steckten die Köpfe zusammen und tuschelten miteinander.
Der Fremde kniff die Augen zusammen, aber seine blassen Lippen wurden immer noch von diesem sonderbaren Lächeln umspielt.
„Dies ist mein Angebot. Ein besseres wirst du bestimmt nicht bekommen. Schlägst du ein?“
„Hm!“ machte der Meister und wandte sich von einer Seite auf die andere, als suche er nach jemandem, der ihm raten würde. Dann senkte er den Kopf und blickte den Menschenhaufen an und es war ihm als könnte er ihre bohrenden Blicke auf seinem Körper spüren.
„Meister!“ schienen sie zu rufen „Es wird Zeit, dass du aufhörst große Reden zu schwingen, sondern uns von dieser Pest befreist, sonst wird es uns allen schlecht ergehen und dir am schlechtesten, darauf kannst du Gift nehmen!“
Der Meister seufzte leise. Er konnte noch nicht einmal den Grund dafür nennen, aber das Angebot des Fremden kam ihm keineswegs gelegen. Und doch hatte er wohl keine andere Wahl als es anzunehmen. Die Rattenplage hatte sich zu einer allgegenwärtigen Widerwertigkeit entwickelt. Vorratskammern wurden geplündert, Neugeborene in ihren Wiegen von den schmutzigen Tieren gebissen und in vielen Hütten stank es nach Rattendreck. Aber bisher hatten sie noch Glück gehabt. Es hatte noch keine Krankheitsfälle gegeben und das war wirklich mehr als man zu hoffen gewagt hatte, denn jeder wusste, welcher schwarze Schatten den Ratten auf dem Fuß folgte. Diesmal schauderte es den Meister nicht nur, es schüttelte ihn so heftig, dass die Leute sich über sein Gebaren wundern mussten. Aber konnten sie seine Gedanken nicht sowieso erraten? Fürchteten sie nicht ebenfalls die ihnen drohende Gefahr? Wie sehr hatten sie sich bemüht, sie abzuwenden! Hatten sie nicht Fallen aufgestellt und Gift ausgelegt, hatten sie nicht Dutzende und Aberdutzende Ratten mit der Hand gefangen und in Säcken eingenäht ertränkt. Aber es hatte nichts genützt, für jedes erledigte Biest schien ein neues Dutzend in die Stadt einzufallen. Und was noch viel schlimmer war: die Biester waren offenbar nicht dumm. Oft rotteten sie sich zu Rudeln zusammen und schlugen selbst große Kater in die Flucht. Vielleicht war es eine Schicksalsfügung, dass der Fremde sie genau zu diesem Zeitpunkt aufsuchte, vielleicht sollte der Meister ihn sein Glück versuchen lassen. Erneut seufzte er. Er hatte wirklich keine andere Wahl als seinen Handel anzunehmen.
„Nun denn“ sagte der Meister schließlich „Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass Euch gelingt, was uns allen nicht gelungen ist. Falls ihr aber, ganz wider Erwarten, Euer Versprechen halten könnt, was gedenkt Ihr denn als Lohn zu fordern?“
Der Fremde antwortete nicht sofort. Er trat vielmehr einen Schritt nach vorne und musterte den Meister der Stadt so eindringlich aus seinen grauen Augen, dass es dem Meister ganz unbehaglich zumute wurde. Ihm schien als sähe er dicken Nebel vor seinem geistigen Auge aufsteigen und als hörte er aus der Ferne ein Dröhnen oder tiefes Grollen. War es eine Stimme? Eine Erinnerung kroch aus der tiefe seines Geistes empor, langsam und bedrohlich. Woher kannte er diese Stimme nur und warum flößte sie ihm soviel Unbehagen ein? Einen Augenblick noch erwiderte der Meister den Blick des Fremden, dann senkte er den Kopf und brach den Bann. Der Fremde leckte seine bleichen Lippen und lächelte sein sonderbares Lächeln.
„Es ist nicht viel, was ich an Lohn fordere. Zumindest halte ich es für angemessen, denn ich erweise dir und deiner Stadt einen wirklich großen Dienst, wie ihr alle sehr gut wisst.“
„Nur heraus damit!“ Der Meister versuchte spöttisch zu klingen, doch seine Stimme klang schal und schwach.
„Ich habe keine Kinder.“ fuhr der Fremde fort „Und wenn ich sterbe, stirbt mein Wissen und mein Handwerk mit mir. Deshalb ist meine Forderung, dass ein paar von euren Kindern bei mir in die Lehre gehen und mit mir kommen sollen.“
Erneut begann die Menge zu tuscheln und auch der Meister war sichtlich überrascht.
„Was ist denn Euer Handwerk?“ wollte er wissen.
Der Fremde griff in eine seiner Taschen und als er seine Hand wieder herauszog, ging ein gedämpfter Aufschrei durch die Menge. Viele hatten die Hände vor die Augen geschlagen und auch der Meister der Stadt hatte sich überrascht abgewandt, denn es schien, als hielte der Fremde einen grellen Lichtblitz in seiner Hand. Als sie jedoch wieder zu blinzeln wagten, sahen sie, dass es nur eine kleine sonderbar aussehende Flöte war, die der Fremde für jedermann sichtbar nach oben hielt. Die Sonne musste sich auf ihrer silbernen Oberfläche gespiegelt und alle geblendet haben, dachte der Meister bei sich.
„Ich bin Spielmann, wie ihr sehen könnt.“ erklärte der Fremde, nachdem die Unruhe sich weitgehend gelegt hatte „Nimmst du mein Angebot an?“
„Spielmann ist kein ehrbares Handwerk“ brummte der Meister „deswegen weiß ich nicht, ob irgendein Vater in dieser Stadt sein Kind in Eure Hände geben will. Aber ich will mich mit den Ratsherren besprechen und herausfinden, was sie von der Sache halten. Wartet hier.“
Froh einen Grund zu haben sich dem Blick des Fremden endlich zu entziehen, verschwand der Meister und schloss das Fenster mit großer Hast.
„Ihn soll der Teufel holen, wenn er sich nicht beeilt.“ knurrte einer der Bauern, die Umstehenden brummten zustimmend. Ohne den Meister fühlten sie sich in der Gegenwart des Fremden verlassen. Voll unverhohlenem Misstrauen beäugten sie die hochgewachsene Gestalt in ihrer Mitte, doch der fremde Spielmann setzte sein kühnes Lächeln gegen ihre garstigen Blicke.


-2-
Ich sage dir, schließ dein Fenster und verriegle die Tür. hörte sie ihn sagen. Sein Flüstern klang kühl, aber es fröstelte sie nicht, nein, sie schmiegte sich sehnsüchtig an den überirdischen Klang. Kühl wie ein Windhauch der einen überhitzten Körper streichelt waren seine Worte und so entzückt war sie über das Gefühl der Vertrautheit, dass sie gar nicht fähig war auf ihren Inhalt zu achten.
Na komm schon, hör mich an. Wie ein Edelstein schwebte die wohlwollende Aufforderung im Raum und verwandelte das weiße Licht, das in ihn strömte in sattes moosiges Grün.
„Ich möchte ja gar nichts anderes, als dich anhören.“ seufzte sie leise „Und dich ansehen, dich wieder sehen.“
Und dort stand er auch schon inmitten der schmutzigen stinkenden Bauern und seine hellen wachen Augen blitzten vor Belustigung, wann immer sie sich mit dem stumpfen Blick eines Bauerntölpels kreuzten. Ihre mit Grind und Schorf bedeckten Köpfe reichten ihm gerade bis an die Schultern, hochgewachsen und stolz stand er da, wie ein schneeweißer Turm, der im Sonnenlicht glänzte. Sie konnte es sich nicht erklären, auch jetzt nicht, aber ein Leuchten war von ihm ausgegangen, ein Strahlen von seiner hellen Haut und seinem geheimnisvollen Lächeln. Und seine schattenfarbenen Haare fielen auf sein prächtiges Gewand, auf diesen wundersamen Stoff, der die Farbe zu wechseln schien, wenn er sich drehte und wendete. Und als sein Blick herausfordernd durch die Reihen glitt, da hafteten seine grauen Augen an ihrem Gesicht und stießen so tief in ihr Herz , dass es ihr weh tat. Aber zur selben Zeit fühlte sie Linderung dieses nie gekannten Schmerzens des Durchschautwerdens, denn auch er schien sich ihr zu öffnen, schien ihr Zugang zu etwas zu gewähren, das unendlich tief verborgen liegt. Sie fühlte, dass es so war, wenngleich sie nicht wusste, wie sie es anstellen konnte, in diesen Schacht hinabzusteigen. Ob er es wohl nur deshalb getan hatte, weil er wusste, dass sie gar nicht fähig war, diesem düsteren Weg in die Tiefe zu folgen?
Wie auch immer es gewesen war, nur einen Wimpernschlag konnte sie diesem Blick standhalten, nur einen Augenblick genoss sie das schnelle Schlagen ihres Herzens und die Furcht, die ihre Adern durchglühte, dann las sie freudige Überraschung in seinen Gesichtszügen und senkte verlegen den Kopf, vor Erregung errötend. Als sie es endlich wagte wieder aufzublicken, hatte er sich von ihr abgewandt und beobachtete den Meister der Stadt, der seinen Wanst aus dem Fenster des Ratshauses hing.
Schließ Fenster und Türen, hör nicht... tönte es erneut aus der endlosen Nacht zu ihr, doch die Stimme war nur noch ein schwaches Echo, als entfernte sich der Sprecher allmählich. Sie fröstelte. Nebel kroch heran und waberte unter der Türschwelle hindurch und drang durch die Mauerritzen. Wie der giftige Atem eines Drachen, der durch die Stadt schleicht. dachte sie. Wie der Dunsthauch einer Krankheit, die von nichts aufgehalten werden konnte und... aber nein. Nein, das war doch völlig falsch. Wie konnte sie nur so etwas Törichtes denken? Schmeckte der Nebel nicht süß wie Blütennektar. Was für ein Duft! Sie atmete tief ein und ihre Brüste hoben und senkten sich heftig, so begierig war sie diesen Wohlgeruch in sich aufzunehmen. Erinnerungen an längst vergangene Stunden der Lust begannen sich in ihr zu regen und ein glückliches Lächeln breitete sich in ihr aus, je mehr sie von dem Duft in sich einsaugte. Der Nebel schien eine Melodie in sich zu tragen, die noch wundersamer war als der Duft, der ihm anhaftete. War es nicht eine Flöte, die sie in der Ferne spielen hörte? Fast klang es so und doch war es nicht richtig. So traurig, so lieblich umfloss sie diese Melodie, dass alles Flötenspiel, das sie jemals gehört, wie eine quäkende Parodie auf diesen wahren reinen Klang wirkte. Mit einem Mal erfasste sie der fiebrige Wunsch der Melodie nachzugehen und herauszufinden, woher sie kam und welcher Mensch es fertig brachte, eine Weise zu spielen, die glanzvoller war als die Sterne selbst und unendlicher als die dunklen Wogen des Meeres.
Aber wusste sie es nicht ohnehin? Hatte sie die Melodie nicht schon erahnt, als sie das erste Mal in seine Augen blickte?
Ja, in der Ferne konnte sie ihn sitzen sehen. Er lehnte an einer Hauswand und etwas Silbernes blitzte zwischen seinen Lippen und unter seinen durch die Luft tanzenden Fingern. Er hatte den Kopf gesenkt und sein langes Gewand verschmolz mit der Nacht als wären sie aus ein und demselben Stoff gewoben.
„Ja!“ sprudelte es aus ihr hervor. „Ich höre dein Rufen, ich komme. Ich komme, ich komme zu dir, mein Geliebter!“
Ihr Herz jubelte wie ein Vogel, dem man die Freiheit geschenkt hatte, als sie auf ihn zurannte, getrieben von der wundersamen Melodie. Doch noch ehe sie die ersten paar Schritte getan hatte, wurde er ihr gewahr. Die Stille schmerzte, als die Melodie unvermittelt abbrach, so dass sie das Gesicht verzerrte und sich krümmte. Er jedoch sprang auf die Füße und hastete auf sie zu. Erst als sie sich fast berührten kam er zum Stehen und sie erschrak als sie sah, wie sich sein Gesicht verdüstert hatte.
Es ist wirklich nicht leicht, mit Euch, das kann ich dir sagen! dröhnte er und erst jetzt bemerkte sie, dass die Schwärze, die seine Augen füllte, nicht Zorn war, sondern Sorge. Aber weshalb nur war er besorgt? Sie konnte keine Antwort auf ihre Frage finden, denn im nächsten Moment ergriff er sie mit sanfter Gewalt an den Unterarmen und stieß sie kräftig von sich, während er ihr mit befehlender Stimme zurief:
Wach auf!
Sie spürte einen leichten Aufprall und blickte wild um sich, noch halb gefangen in einem sonderbaren Traum, dessen Inhalt bereits zu verblassen begann.
„Warum liegst du auf dem Boden vor der Tür? Bist du verrückt geworden?“
„Ich weiß nicht.“ antwortete sie und blinzelte verwirrt in das vom Wein gerötete Gesicht ihres Mannes „Ich muss aufgestanden sein, während ich geschlafen habe.“
„Du hast mich ganz schön erschreckt.“ gab er mit schwerer Zunge zurück und half ihr ein wenig grob auf die Beine „Das nächste Mal pass besser auf, sonst muss ich dich ans Bett binden.“
Ohne sagen zu können warum, erschien ihr mit einem Mal das breite Grinsen ihres Mannes ein abscheulicher Anblick. Für den Bruchteil einer Sekunde schien ihr dieses vom Alkohol aufgedunsene Gesicht nichts weiter als die jämmerliche Parodie eines Mannes und sie wandte sich von ihm ab, um es nicht sehen zu müssen. Dabei erblickte sie das offene Fenster.
„Das Fenster war ja nicht geschlossen.“ murmelte sie, mehr zu sich selbst gewandt, aber ihr Mann hörte es.
„Natürlich war es das nicht und warum auch ?“
Sie wandte sich nach ihm um „Weil der Meister der Stadt...“ wollte sie antworten, aber er winkte nur ab.
„Ach, hör mir doch auf mit dem! Der hat doch keinen Verstand wenn er sich von so einem dahergelaufenen Spielmann über’s Ohr hauen lässt. Du glaubst doch nicht im Ernst, dass es dieser Verrückte fertig bringt über Nacht alle Ratten aus der Stadt zu verjagen, wo wir doch alles versucht haben. Warum sollte dieser Geck besser sein, als wir? Und selbst wenn er mit dem Teufel im Bunde steht und es fertig bringt, dann möchte ich wissen, warum es bitteschön Sinn macht, wenn wir Türen und Fenster verbarrikadieren? Außer natürlich, dass wir alle nicht mitkriegen, wie er sich klammheimlich davonstiehlt, der Gauner!“
„Es ist wegen der Melodie.“ murmelte sie, immer noch zu sich selbst sprechend. Sie wusste nicht, warum die Worte gesagt hatte, doch allmählich breitete sich ein unbehagliches Gefühl in ihr aus. Ihr Mann rümpfte die Nase:
„Ach, ihr Weiber seid alle leicht zu beeindrucken. Ihr glaubt alles, was man euch weismacht.“ grunzte er. Doch dann fügte er etwas versöhnlicher hinzu: „Lass uns hier nicht dumm rumstehen, sondern lieber zurück ins Bett gehen. Schau, ich schließe sogar das Fenster, damit dich keine bösen Alpträume mehr jagen.“
Sie widersetzte sich ihm nicht und folgte ihm und als sie unter die Bettdecke krochen verwunderte der Mann sich, dass sich ihr warmer weicher Körper sehnsüchtig an ihn schmiegte. Doch obwohl er nach einiger Zeit sehr zufrieden mit sich selbst einschlummerte, hatte keiner ihrer Seufzer seiner jämmerlichen Männlichkeit gegolten. Immer war es sein Bild, das ihren geschlossenen Augen vorschwebte. Und eine wundersame Melodie erfüllte sie, die sie tröstete und wärmte, wenngleich sie sich sicher war, sie noch nie zuvor gehört zu haben.


-3-
„Hört!“ ließ sich der Meister der Stadt schließlich vernehmen, indem er sich schwankend von seinem Ehrensitz erhob und die Hände in die Luft streckte, als wolle er seiner kleinen korpulenten Gestalt zu mehr Größe und Autorität verhelfen. „Hört mich an, ihr Leute!“ brüllte er fast. Er musste all seine Kraft zusammen nehmen und das ausgelassene Lärmen der Feiernden zu übertönen. Erst als er zum dritten Mal lautstark auf sich aufmerksam machte, dämpften die Leute ihr Lachen, Singen und Geschirrklappern soweit herab, dass des Meisters Worte nicht vollkommen untergingen.
„Ich will Euch gar nicht lange vom Feiern abhalten, denn wir alle haben genug gelitten und haben uns dieses Fest redlich verdient!“ Bei diesen Worten hob der Meister seinen Bierhumpen und prostete den anderen Zechern zu, die seinen Gruß fröhlich erwiderten. Er nahm einen tiefen Schluck und wischte sich lachend den Schaum vom Mund: „Ja wirklich, das haben wir! Trotzdem hoffe ich, dass ihr bei all dem Feiern nicht vergesst, wem ihr euer Glück zu verdanken habt!“
„Ein Hoch auf unseren Meister!“ lallte es zur Antwort aus einer Ecke und zahllose Stimmen fielen mit ein: „Unser Meister der Stadt, er soll hochleben. Hoch! Hoch! Hoch! Dreimal hoch!“
Der Meister senkte in gespielter Bescheidenheit das Haupt und lächelte still vor sich hin. Als er sich genug gefeiert fühlte, hob er abwehrend die Hand und erwiderte:
„Ich danke euch! Nun ist es aber genug! So groß war mein Verdienst nun auch wieder nicht. Wichtig ist nur, dass die Plage, die unsere schöne Stadt so lange belastet hat, nun endlich vorüber gezogen ist und uns fortan in Frieden leben lassen wird. Und, Leute, vergesst das nicht:“ er wippte auf seinen Zehenspitzen, wie um seinen Worten noch mehr Nachdruck zu verleihen: „Es hat euch keinen Heller gekostet. Darauf trinke ich!“
„Hoch!“ jubelte es da wieder aus allen Ecken „Ein Hoch auf unsren Meister, den schlauen Fuchs! Hoch soll er leben!“
Eben wollte der Meister, dessen Wangen von Bier und Stolz gerötet waren, sich in seinen Ehrensessel zurückfallen lassen, als er spürte, wie sich irgendetwas Störendes in seine selbstzufriedenen Gedanken schob und ihn dazu bewegte, den Kopf zur Seite zu drehen. Den anderen schien es wie ihm zu gehen und von einem Augenblick auf den nächsten herrschte erbitterte Stille, als hätte es niemals ein Fest gegeben. Alle starrten sie ihn aber, er jedoch schenkte ihnen keine Beachtung, sondern näherte sich mit langsamen, fast tänzerischen Schritten dem Meister, der unhörbar nach Luft rang.
„Ich hörte euch feiern und doch fehlte etwas in all dem Gekreische und Gejohle.“ sprach der Fremde mit seiner weithin vernehmbaren Stimme und er sagte es so sonderbar und seine Augen funkelten so durchdringend, dass dem Meister Himmelangst wurde. „Es fehlte der Klang von Musik. Ihr entbehrt einen Spielmann, hier bin ich also.“
„Ich kann mich nicht entsinnen, Euch eingeladen zu haben.“ versetzte der Meister, aber der Fremde ignorierte diesen Einwurf. Stattdessen blickte er sich um, als suchte er etwas zwischen den Menschen und wer von diesem Blick getroffen wurde, zog den Kopf ein, als führe eine blitzende Klinge über sie hinweg.
„Ich sehe keine Kinder unter euch!“ sagte er schließlich „Wo sind sie?“
„Zu Hause natürlich wo sie hingehören!“ erwiderte der Meister an seinem Bierhumpen Halt suchend. „Auf einem Fest wie diesem haben sie auch nichts verloren. Aber was soll diese törichte Frage?“
Während er sprach, fasste er den Fremden genauer ins Auge. Etwas hatte sich an ihm verändert. War es die Eiseskälte in seinen Zügen, die das spöttische Lächeln abgelöst hatte? War es der wehende Stoff seines Gewandes, der nicht länger seine Farbe zu wechseln vermochte, sondern von so tiefem Schwarz war, dass man sich blind glaubte, wenn man zu lange darauf starrte? Er wusste es nicht.
„Wir haben einen Handel, Meister der Stadt. Du weißt das.“
„Was haben wir? Ich hab wohl nicht recht gehört!“ Der Meister war geübt in jeder Form von Täuschung und Betrug, er war gewitzt und listig, sonst wäre er ja auch nie zu seinem hohen Posten gekommen. Diesmal jedoch schien selbst ihm das Lügen keine leichte Aufgabe zu sein. Der Meister war sichtlich nervös.
„Ich muss dir wohl ins Gedächtnis rufen, dass du mir versprochen hast, ein Kind aus eurer Stadt bei mir in die Lehre zu geben, wenn ich euch von den Ratten befreie.“
Der Meister trommelte mit den Fingern. „Und?“ fragte er.
„Und?“ des Fremden Augen blitzten wie fallende Sterne „Siehst du hier denn auch nur eine einzige Ratte? Sie sind fort und du weißt sehr gut, dass das nicht dein Verdienst ist.“
„Aber Eurer, wie?“ Der Zorn des Fremden zehrte an seinen Kräften, aber er ließ den Blick nach beiden Seiten gleiten und sah, wie gebannt ihn alle anstarrten und wie aufgeregt sie verfolgten, welcher von den beiden Männern das Wortgefecht gewinnen würde. Der Meister wusste, dass es unendlichen Ruhm bedeutete, wenn er sich jetzt als der Stärkere erwies und unendliche Schande, wenn er den Schwanz einzog. Er spürte, wie kalter Schweiß auf seiner Stirn perlte, aber er nahm sich zusammen. „Wie habt Ihr es denn geschafft, die Tausende und Abertausende Ratten in nur einer Nacht aus dieser Stadt zu vertreiben?“
Der Fremde kniff die Augen zusammen. „Das ist meine Sache und war nicht Gegenstand der Abmachung. Aber wenn du es unbedingt wissen willst: In der letzten Nacht habe ich für sie aufgespielt und sie sind der Flöte nachgefolgt, die ich auch euch schon gezeigt habe. Nicht Eine konnte den Klängen widerstehen und ich führte sie an das Ufer des reißenden Stroms, der an eure Stadt grenzt, wo sie in die Fluten sprangen und den Tod fanden.“
Einen Augenblick noch herrschte Totenstille. Dann brach der Meister in ein schallendes Gelächter aus und die ganze Stadt setzte mit ein. Sie wieherten und kreischten wie eine in Panik geratene Viehherde, sie schleuderten dem Fremden ihre Verachtung zu, ihr Abscheu, ihre grenzenlose Furcht. Der Fremde jedoch schwieg ihnen entgegen und wartete ohne mit der Wimper zu zucken, bis der Meister nach Luft japste und sich die Tränen aus den Augen wischte.
„Ihr wollt uns also tatsächlich weiß machen, dass ihr die Ratten mit Eurem falschen Spiel so sehr zur Verzweiflung gebracht habt, dass sie sich ertränkt haben, um Eure schiefen Töne nicht länger anhören zu müssen. Habt ihr das gehört, Leute?“ wieder lachte er eine Weile. Dann aber wurde er ernst und seine kleinen Augen funkelten listig, als er zu seinem letzten Schlag ausholte:
„Ich kann dazu nur eines sagen. Es gibt zwei Möglichkeiten: Vermutlich seid Ihr ein Lügner und ein Narr und habt Eure Geschichte bloß erfunden. Wenn die Geschichte aber wahr ist, so seid Ihr mit finsteren Mächten im Bunde, denn anders kann Euch solches Zauberwerk nicht glücken. In beiden Fällen jedoch, und da sind wir uns sicher alle einig, sind wir nicht verpflichtet Euch den geforderten Lohn zu zahlen. Und nun verschwindet aus dieser Stadt, bevor ich Euch Beine mache!“
Und damit wandte er sich von dem Fremden ab und ließ sich feiern. Denn keiner war von des Meisters Mut und Beredsamkeit unbeeindruckt geblieben. Schon ließen sie ihn wieder aus vollen Kehlen hochleben und schenkten ihm Bier nach.
„Einen gerisseneren Burschen als unseren Meister findet man weit und breit nicht.“ raunte einer der Zecher „Wie der den Fremden zur Schnecke gemacht hat...“
Das war der letzte Gedanke, den er in seinem Leben fassen konnte. Dann verlor er sich.


-4-
Sie wollte sich auf den Boden werfen und in die Erde kriechen, wie ein Wurm. Sie wollte sich eine lange Klinge nehmen und ihre Ohrmuscheln zerstechen, damit sie es nicht mehr hören musste. Es quietschte und kreischte wie lustvolle Todesschreie, es gurgelte und gluckste wie lachende durchschnittene Kehlen, höher und höher schwangen sich die Töne hinauf bis sie das Himmelsglas zum Bersten brachten und tiefer und tiefer schraubten sie sich hinab bis sie gegen die Erde stießen und sie erbeben ließen. Sie wollte sich die Augen auskratzen, um ihn nicht sehen zu müssen. Er war der Ruhepunkt in diesem Wirbelsturm, er war wie ein Splitter des blauen Himmels inmitten dieses Weltenendegewitters, er war ein strahlender schwebender Diamant in einem brodelndem Chaos aus durcheinander wirbelten Formen und Zeiten und doch war er von größerem Wahnsinn und größerer Macht als alles andere.
Ihre Kraft reichte nicht aus, um sich einzureden, dass es nur ein Alptraum war. Wenngleich die vertrauten Gestalten, die in ihrem grotesken Tanz ihre Glieder unmenschlich verrenkten nichts anderes sein konnten, als Schemen aus dem Traum eines wirren Geistes. Bekannte, geliebte, verhasste Gesichter wirbelten an ihr vorbei. Grinsten sie in wahnsinnigem Vergnügen oder verzerrten sie das Gesicht vor unendlichem Schmerz? Sie konnte es unmöglich sagen, denn ihre Augen waren so leer wie bunte Glasperlen. Sie fühlte, wie ihre eigenen Augen vom bloßen Anblick dieses teuflischen Tanzes verwundet wurden, verzweifelt presste sie die Hände vors Gesicht, um jenes stumpfe Glotzen nicht länger sehen zu müssen. Aber es half nichts, die Töne zumindest ließen sich von nichts zurückdrängen, weder Gebet noch Fluch dämpften diesen Sturm, der im nächsten Moment die ganze Erde zum Zerspringen bringen würde. Sie konnte es nicht mehr aushalten, etwas begann sich in ihr zu regen, etwas kleines Verborgenes wühlte sich aus schwarzem Morast empor. In höchster Verzweiflung begann sie zu schreien, sie sog alle Luft in ihre Lungen, die noch übrig geblieben war und stieß sie mit einem Schrei wieder aus, der so gellend war, dass es in ihren Ohren schmerzte. Selbst die tödliche Musik vermochte er zu übertönen. Als das Echo des Schreis verhallt war, erschrak sie vor der entsetzlichen Stille, die sie umgab. Nichts war zu hören, nichts. Sie fürchtete das Gehör verloren zu haben und taumelte in die sanfte tiefschwarze Umarmung einer Ohnmacht.
Als sie die Augen wieder aufschlug, stand er vor ihr und blickte auf sie herunter. Sein Umhang wechselte nicht länger die Farbe, noch war er aus dem Stoff der Nacht gewoben. Wie eine Wolke, die sich ausgeregnet hatte, wehte er grau in der Luft. Eine Weile blickte er auf sie herunter. Seine Brust hob und senkte sich heftig, er war außer Atem. Eine sonderbare Milde, die Erschöpfung oder Zufriedenheit bedeuten konnte, glätteten die scharfen Züge seines Gesichtes. Als sie jedoch seinen Blick nur stumm erwiderte, wandte er sich ohne ein weiteres Wort um und entfernte sich langsam.
Sie sprang auf die Füße, taumelte, stürzte, wankte erneut nach oben und stürzte ihm nach durch die Gassen der Stadt, die einst ihre Heimat gewesen war. Hinter keinem der Fenster regte es sich, kein Laut war aus dem inneren der Häuser zu vernehmen, niemand verließ sein Haus oder betrat es. Er wandte sich um, als er ihre Schritte hörte.
„Was hast du getan?“ fragte sie, doch noch während sie die Frage laut aussprach, wünschte sie sich er würde ihr die Antwort verweigern. Sie wusste nur zu gut, was geschehen war.
„Ich habe die Ratten im Fluss ertränkt.“ sagte er. Erneut kroch die Ohnmacht heran in ihrer verführerischen Schwärze und sie sehnte sich nach ihrer alles auslöschenden Umarmung. Aber sie Widerstand der Versuchung sich in dieses schwarze Loch sinken zu lassen. Stattdessen fragte sie: „Was war das für eine entsetzliche Melodie, die du gespielt hast?“
„Die erste Melodie, die du in deinem Traum gehört hast, hat dir besser gefallen, ich weiß schon. Aber hast du nicht gesehen, wie sehr alle anderen sich nach meiner zweiten Melodie gesehnt haben? Hast du nicht gesehen, wie gerne sie dazu tanzten?“ antwortete er und es war kein Hohn in seiner Stimme.
Sie schüttelte heftig den Kopf, um sich gegen die Erinnerung an das Erlebte zur Wehr zur setzen. „Sie alle...“ wiederholte sie Worte tonlos. „Heißt das, dass ich...? Bin ich?“
Er sah, wie sehr sie litt und unterbrach ihre Gedanken mit einem Kopfschütteln. Er berührte sie nicht, aber er führte sie ein paar Häuser weiter auf den großen Rathausplatz, wo sie ihn das erste Mal gesehen hatte. Dort stand ein Häufchen Menschen ängstlich aneinandergedrängt wie eine Schafherde im Winter. Es waren nicht viele, zwei Dutzend vielleicht und die meisten von ihnen waren Kinder. Einige wurden weiß vor Zorn, als sie den Fremden erblickten und schüttelten ihre Fäuste gegen ihn, andere senkten schüchtern den Blick vor ihm, die meisten aber blickten ihn offen und erwartungsvoll an.
„Sind das alle?“ fragte sie und stellte sich dem Fremden energisch in den Weg. „Sind das alle, die übrig geblieben sind?“ Eine Woge des Zorns schäumte über sie hinweg, sie trat einen weiteren Schritt auf ihn zu, um ihn zu schlagen und zu bespucken und ihm das Gesicht zu verkratzen. Dann aber trafen sich ihre Blicke und ihre Wut verwandelte sich in Resignation und Verzweiflung.
„Warum bin gerade ich übrig geblieben?“
„Weil die Melodie, die ihnen so süß und verlockend erschien, für dich und alle die noch hier sind abstoßend klang, hatte sie keine Macht über euch.“
„Aber warum? Warum gerade ich?“ Ihre Stimme war nur ein Flüstern, aber er hörte sie, und antwortete ihr, indem er sie sanft berührte: „Weil du schön bist.“
Da wich sie einen Schritt zurück, nicht die Berührung, sondern die Worte fürchtend.
„Ist das denn Grund genug?“
Er lächelte „Was könnte es sonst für einen Grund geben? Aber wenn du es verstündest, dann wärst du jetzt nicht hier.“
Und mit diesen Worten wandte er sich endgültig um und machte sich auf den Weg. Einer der Jungen hob einen großen Stein von der Straße auf und schleuderte ihn dem Fremden mit einem Zornesschrei hinterher, aber der Wurf verfehlte sein Ziel und der Werfer sank kraftlos auf den Boden und verbarg sein Gesicht in seinen Händen. Er blieb zurück in der verlassenen Stadt. Die anderen aber folgten dem Spielmann nach, einem hochgewachsenen Mann in einem grauen Umhang. Ohne sich nach ihnen umzuschauen folgte er seinem Weg durch das Stadttor hindurch. Nur mitten auf der Brücke hielt er inne, um etwas Kleines hinab zu werfen, das silbern in der Sonne aufblitzte und rasch in den Fluten verschwand.

 

hi du,

eine schoene variante des rattenfaengers hast du da geschrieben. die sprache ist wunderbar fluessig, die bilder sind wunderbar. stilistisch und ortographisch sind mir keine fehler aufgefallen.

aber: "Doch obwohl er nach einiger Zeit sehr zufrieden mit sich selbst einschlummerte, hatte keiner ihrer Seufzer seiner jämmerlichen Männlichkeit gegolten. Immer war es sein Bild, das ihren geschlossenen Augen vorschwebte"
das klingt, als wuerde sie von ihrem ehemann traeumen. tut sie aber nicht. mein vorschlag: mach das sein kursiv

und noch etwas - soweit ich mich erinnere (aber es ist lange her) haben die buerger der stadt hameln den rattenfaenger doch um seine verdiente belohnung geprellt, oder? aber ich glaube doch, dass damit geld gemeint war - und ausserdem hat er nicht alle menschen ertraenkt, sondern nur alle kinder mitgenommen. wenn deine geschichte nicht in hameln spielt, solltest du das verdeutlichen - es koennte den leser verwirren, mich hat es jedenfalls verwirrt.

lg, vita

 

Hallo Vita,

vielen Dank für dein Lob! Dein Hinweis war sehr hilfreich und ich werde deinen Rat befolgen.

Zur Sage vom Rattenfänger: Meine Geschichte weicht absichtlich stark von der eigentlichen Sage ab. Ich erwähne auch an keiner Stelle, dass es sich um Hameln handelt. Ich habe mir die Freiheit herausgenommen mit dem Thema zu spielen, um eine persönliche Botschaft zu verschlüsseln.

Grüße,
Barana

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom