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Der Spiegel

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23.02.2003
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Der Spiegel

Sie betrachtet sich ausgiebig im Spiegel. Ihre glatten roten Haare zu einem Zopf gebunden versucht sie sich an den Tag zu erinnern, an dem sie ihm zum ersten Mal begegnet war. Sie öffnet den Wasserhahn ... und schreckt zurück. Kalt! Es dauert um diese Uhrzeit, es ist kurz vor sechs Uhr in der früh, ziemlich lang, bevor das Wasser eine für sie angenehme Temperatur erreicht hat.
Während ihr Blick immer noch in ihrem eigenen Spiegelbild gefangen ist, wandern ihre Gedanken weit hinaus. Ihre Bewegungsabläufe sind automatisiert und sie nimmt sie gar nicht mehr wahr. Sie erinnert sich an einen warmen Sonntagvormittag im Park, er hatte sie angesprochen während sie auf einer Bank die Tageszeitung las. Er war so süß gewesen und hilflos. Sie wusste gleich, dass er etwas von ihr wollte. Lange bevor er sich traute sie anzusprechen. Als er es endlich tat, wirkte er unbeholfen und tapsig. Sie schluckt. Versucht dieses Wort zu verdrängen: tapsig.
Sie lässt etwas Wasser in ihre geschlossenen, zu einem Korb geformten Hände laufen und wäscht sich das Gesicht. Es schmerzt an früher zu denken. An all das was einmal war. Sie blickt wieder in den Spiegel, betrachtet ihre rotunterlaufenen Augen. Während sie die Zahnbürste aus dem Becher nimmt, schweifen ihre Gedanken wieder ab.
Das erste Treffen im Cafe; zwei Tage später. Unverfänglich sollte es ein. Beinahe romantisch wurde es. Er hatte Rosen mitgebracht. Zu früh wie sie dachte. Trotzdem fasste sie es als nette Geste auf. Stundenlang unterhielten sie sich. Über Gott und die Welt. Sie hörte ihm aufmerksam zu, wenn er von seinen Zukunftsvisionen erzählte. Der Villa am Strand, der eigenen Firma, der Jacht und der Limousine. Wenn sie erzählte, hörte auch er zu und das ließ sie vergessen, dass er eigentlich gar nicht ihr Typ war. Etwas zu klein, zu dick und trotz seines Anzugs machte er keinen seriösen Eindruck. Und wenn er sie auch zum lächeln brachte, so war er doch meilenweit davon entfernt, ihr Traummann zu sein.
Sie greift nach der Zahnpasta. Während sie die Tube drückt, bemerkt sie die blauen Flecken auf ihrem Unterarm. Und an ihrem Handgelenk. Ihr Blick wandert wieder gen Spiegel. Im Schützenverein war er. Sie hatte Waffen immer gehasst. Nun nahm er sie mit auf Schützenfeste, bei denen er sich oft sinnlos betrank. Sie führt die Zahnbürste bedächtig in ihren Mund, vorbei an den schmerzenden Lippen.
Die erste Nacht. Gleich beim zweiten Treffen war es soweit gewesen. Sie hatte nicht viel Erfahrung gehabt. Doch auch so war ihr schnell klar, dass er nicht der liebevolle Liebhaber war, den sie sich so sehr wünschte. Es ging alles sehr schnell. Es tat weh. Sie vermutete, er wünschte sie würde stöhnen, also tat sie es. Ganz leise, dann lauter und schließlich schrie sie fast. Ohne Gefühl. Er schlief danach sofort ein. Sie ging duschen und überlegte, ob sie etwas falsch gemacht hatte. Der Spiegel zeigt ihr, dass sie keine Schuld trägt. Sie nimmt die Bürste, öffnet den Zopf und kämmt ihr Haar. Dann spült sie ihren Mund aus. Zahnpastaweiß und blutrot vermischt sich zu einem hellroten Mix, den sie nur zu gut kennt. Sie hat es schon oft gesehen dieses Gemisch. Rot war einmal ihre Lieblingsfarbe gewesen. Damals, als sie noch an Träume glaubte. Sie legt die Bürste beiseite und wäscht ihren Oberkörper. Früher hätte sie diese Schmerzen nicht ausgehalten, jetzt sind sie beinahe wohltuend. Sie zeigen ihr: Ich habe überlebt.
Sie schließt den Wasserhahn, trocknet sich ab. Ein letzter, fragender Blick in den Spiegel. Sie weiß, was zu tun ist. Sie wird sich jetzt anziehen, den Telefonhörer nehmen und die Polizei anrufen. Sie wird sagen: Hier ist Annemarie Kaiser, ich möchte einen Mord melden. Ich habe heute Morgen meinen Mann mit seinem Gewehr in den Kopf geschossen.

 

Hallo middel!
Insgesamt gefällt mir deine Geschichte.
Du beschreibst in ruhigen Sätzen die Situation einer Frau, die von ihrem Mann misshandelt wird.
Es gibt hier einige solche Geschichten, aber mir gefällt deine. Denn dein Prot. nimmt die Misshandlung durch den Mann nicht hin, und sie bringt sich auch nicht slebst um. Sondern sie wehrt sich, wenn auch auf eine sehr, sagen wir mal, deutliche Weise.

An dieser Stelle habe ich etwas gestutzt:

Sie nimmt die Bürste, öffnet den Zopf und kämmt ihr Haar
Als ich 'Bürste' las, dachte ich an eine Zahnbürste und war demnach verwirrt, als sie den Zopf öffnet und sie die Haare kämmt.
Es kann natürlich sein, dass das nur mir so vorkommt.

bye und tschö

 
Zuletzt bearbeitet:

Servus middel!

Eine sehr direkte und eben in dieser Klarheit tief berührende Geschichte. Die Selbstverständlichkeit ihrer Bewegungen und Handlungen verknüpft mit den abgleitenden Gedanken ihrer gemeinsamen Geschichte wirken erst so harmlos und laufen letztlich einem kalten und doch erlösendem Ende zu.

Sehr gut erdacht und klasse erzählt.

Lieben Gruß an dich - schnee.eule

 

@ moonshadow: Das mit der Bürste ist mir bisher nicht in den Sinn gekommen. Werde mal darüber nachdenken. Schön, dass dir die Geschichte gefällt :-)

@ schnee.eule: Danke für das Lob. Freut mich sehr!

Ich schreib noch gar nicht so lange Geschichten und freue mich deshalb besonders über response jeglicher Art. Danke euch!

 

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