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Der Spiegel
Ludovik Bresz war der Teufel. Jeder der ihn kannte, würde das vorbehaltlos bestätigen. Er war durch und durch böse, egoistisch, jähzornig, brutal, rücksichtslos und immer auf seinen Vorteil bedacht. Den Ausspruch “Leichen pflastern seinen Weg” konnte man im Zusammenhang mit ihm durchaus wörtlich nehmen. Sein Reichtum basierte zu einem großen Teil auf dem Leiden und dem Nachteil seiner unmittelbaren Umgebung. Nunmehr in den Fünzigern hatte er es durchaus zu etwas gebracht. Er nannte mehrere Ländereien sein Eigen, welche er zu Wucherkonditionen verpachtet hatte. Hier in der Gegend von Presbyte Leravika, gute zweihundert Kilometer von der Metropole entfernt, gab es nicht viel, mit dem die Landbevölkerung ihren Lebensunterhalt bestreiten konnte. Hier war selbst die Aussicht, einem Ungetüm wie Bresz das Land zu bestellen, eine Alternative, für die man noch dankbar sein musste.
Im Hause Bresz lebten einige Bedienstete, die täglich unter den Launen ihres Herrn zu leiden hatten. Es war schon des öfteren vorgekommen, dass eine der weiblichen Hauskräfte weinend und schreiend die Flucht ergriffen hatte, sei es, weil sie die unverhältnismäßige Bestrafung eines Fehlers zu erwarten hatte, sei es, weil sie nicht gewillt war, seinen unverschämten Zudringlichkeiten nachzugeben. Erst letzte Woche war ein junges Mädchen im Graben an der Landstraße nach Vleij von einem Bauern gefunden worden. Ihr Rücken war völlig geschunden, irgendjemand hatte sie halb totgeschlagen. Der Arzt, der sie untersuchte, kannte die Spuren, welche ihren Rücken entstellten.
“Er hat sie mit dem Ochsenziemer gezüchtigt, dieses Scheusal!” flüsterte er leise seinem Diener zu, der fassungslos das zerstörte Fleisch der Frau betrachtete. Erschüttert wandte dieser den Blick ab.
“Sie ist eine seiner Dienerinnen. Es sind die gleichen Spuren wie damals bei Janna.”
Der Arzt seufzte schwer. Erinnerungen stiegen in ihm hoch. Janna Derakovic war ein blutjunges Ding gewesen. Sie war bei Bresz angestellt, um in der Küche zu helfen. Eines Tages rutschte sie unglücklich aus und goss der Köchin die kochende Suppe über die Stiefel. Durch die Lappen, welche Sie an den Beinen trug, war der Fuß zwar davor geschützt ,völlig gekocht zu werden, jedoch musste die Köchin Ludmilla einige Tage behandelt werden, bis sie wieder arbeitsfähig war. Bresz war außer sich vor Wut. Er schmiss Ludmilla aus seinem Haus, weil sie ihm an diesem Abend kein Mahl zubereiten konnte und riet ihr, ihm nie mehr vor die Augen zu treten. Janna hingegen, die in Tränen aufgelöst vor ihm zusammenbrach, zog er an den Haaren nach draußen in die Kälte. Danach begann er unter wüsten Beschimpfungen wie von Sinnen auf sie ein zu prügeln.
Seine Raserei mäßigte sich erst, als ihre Schreie verstummten.
Achtlos ließ er sie liegen, ging ins Haus und schloss die Tür. Hinter der Scheune hatte ein Knecht das schreckliche Schauspiel mitangesehen und holte Hilfe. Er brachte den Arzt des Dorfes herbei, dem er schockiert das Drama schilderte. Der Arzt beugte sich fassungslos über das arme Ding und konnte nur noch mit stockender Stimme den Tod des Mädchens feststellen. Er schaute zur Tür, deren schwarzes massives Holz drohend vor ihm aufragte. “Ludovik Bresz, ich verfluche dich. Möge die Finsternis dich verschlucken und die Abgründe der Hölle dein Heim werden. Mögest du von nun an die Pein erleiden, welche du dieser armen Kreatur zugefügt hast!” Dann ging er wortlos fort.
Niemand wagte es, Ludovik Bresz für seine Tat zur Rechenschaft zu ziehen.
Im Hause Bresz gab es eine neue Attraktion. Auf einem seiner letzten Beutezüge hatte der Hausherr einen alten Spiegel ersteigert. Das Besondere an diesem Objekt war der Rahmen. Unzählige ineinander verschlungene Gestalten bevölkerten ihn. Angesichter von Dämonen und Unholden, die sich gegenseitig zu verschlucken schienen, deren Glieder miteinander verwoben waren. Eine Ansammlung der schrecklichsten Ausgeburten der Hölle, die den Anschein machten, als wollten sie jeden Moment den Rahmen sprengen und sich auf den Betrachter stürzen. Und erst das Glas! Nie zuvor hatte Ludovik ein so reines und klares Kristallglas erblickt. Er konnte stundenlang vor dem Spiegel stehen und sowohl sich selbst als auch den Spiegel als Kunstwerk betrachten, eine perfekte Symbiose von Geist und Gestalt. Er schien förmlich mit ihm verschmelzen zu wollen.
Auch jetzt wieder stand er vor dem Spiegel und gab sich seiner dämonischen Schönheit hin. Plötzlich fiel sein Blick auf eine Schliere, die offensichtlich erst durch die Art und Weise, wie das Mondlicht darauf schien, zur Sicht kam. Er schäumte augenblicklich vor Wut. Wieder einmal war seine Anweisung nicht korrekt befolgt worden. Er würde seine Dienerin schon lehren, wie man einen Spiegel putzt. Leider fiel diese Aufgabe in den Arbeitsbereich von Martha. Diese schlief nicht in seinem Hause, so dass er die Züchtigung erst am nächsten Morgen würde durchführen können. Wütend verließ er die Halle, um kurz darauf mit einem Lappen wiederzukommen. Fast zärtlich begann er, die verdreckte Stelle zu reinigen. Dieser Arbeit gab er sich einige Minuten hin. Dann trat er ein paar Schritte zurück und betrachtete sein Werk. Der Spiegel war wieder völlig sauber. Zufrieden steckte er das Tuch in seine Hosentasche, überprüfte noch einmal seine Arbeit und ging dann hinauf in sein Schlafgemach.
Er träumte sehr unruhig. Immer wieder wälzte er sich zwischen seinen Laken hin und her, bis er schließlich fahrig und verschwitzt erwachte. Wie spät mochte es sein? Sein Blick fiel auf den Vollmond, der in sein Fenster schien und das Zimmer in ein gespenstisches Zwielicht tauchte. Eine innere Unruhe erfasste ihn, noch völlig gefangen von dem verwirrenden Traum, welcher ihn bis eben noch bedrängt hatte. Die Ahnung von etwas Dunklem, das sich auf seinen Schultern niedergelassen hatte, wollte ihn nicht loslassen.
Ungehalten stapfte er in seinen Hauspantoffeln durchs Schlafzimmer. Irgendetwas lag ihm auf der Seele, ohne das er hätte sagen können, was. Er betrachtete den Mond, der seinen Blick gleichgültig erwiderte. Er lächelte böse. Die Vorfreude auf den morgigen Tag und die “Unterhaltung” mit seiner unfähigen Dienerin ließ seine Laune steigen. Wie weggeblasen war der Alpdruck, der soeben noch auf ihm gelastet hatte. Durst regte sich in seiner Kehle und er beschloss, sich ein Glas Wasser zu holen.
Der Weg zur Küche führte durch den Saal, in welchem der Spiegel hing. Er betrat den Saal und ging gedankenvoll in Richtung Küchentür. Es schien Regen zu geben, denn das fahle Licht des Mondes hatte sich mittlerweile verdunkelt, ein sicheres Zeichen, dass sich Wolken vor die weiße Scheibe gelegt hatten. Im Spiegelsaal war es mittlerweile stockdunkel. Er machte sich dennoch nicht die Mühe, ein Licht anzuzünden, er betrachtete das als völlig unnötige Geldverschwendung. Als er den Spiegel passierte, wurde es wieder heller im Saal. Offensichtlich hatten sich die Wolken verzogen. Er schaute zum Fenster und erblickte die gleiche Dunkelheit, die noch vor kurzem dort geherrscht hatte. Der Mond war nach wie vor nicht zu sehen. Er stutzte. Woher war der Lichtschein gekommen? Er machte auf dem Absatz kehrt und augenblicklich fiel sein Blick auf die Lichtquelle. Das Licht kam direkt aus dem Spiegel.
Neugierig trat Ludovik näher.
Das Licht chargierte, nahm zwischenzeitlich einen leicht blutroten Farbton an, um danach wieder gelblich-weiß zu werden.
Er trat näher und betrachtete das Schauspiel. Unschlüssig, was nun zu tun war, stand er vor dem Kristallglas, unfähig, seine Augen abzuwenden. Das Licht schien zu wabern, wie etwas Organisches, lebendig und pulsierend. Er schaute angestrengt in den Schein, konnte jedoch nichts erkennen. Er drehte sich um, um zu prüfen, ob das Licht nicht doch von irgendwo anders herkommen konnte. Aber da war nichts hinter ihm: die Strahlen kamen eindeutig aus dem Spiegel.
Die Fratzen, welchen den Umriss des Spiegels verunzierten, erschienen in diesem unwirklichen Schein noch schrecklicher, fast als wären sie lebendig. Er fixierte sie unschlüssig, aber sein Blick wanderte immer wieder zu der Lichtquelle.
Dann plötzlich wurde ihm kalt.
Er hatte das Gefühl, nicht mehr allein im Raum zu sein. Er drehte sich kurz um, sah aber niemanden.
Dafür schien das Licht im Spiegel an Intensität zuzunehmen. Er blickte wieder wie hypnotisiert hinein. Der Schweiß brach ihm aus. “Was geht hier vor?” sagte er mehr zu sich selbst. Wie in Trance bewegte sich seine Hand zur Oberfläche des Spiegels hin. Nur noch wenige Zentimeter trennten seine Fingerkuppen von der glatten Kälte des Kristalls.
Aber da war keine Kälte. Eine unnatürliche Hitze strahlte vom Glas aus. Er wollte seine Finger zurückziehen, aber er vermochte es nicht. Eine unsichtbare Macht schien die Kontrolle über seine Gliedmaßen übernommen zu haben. Wie fremdgesteuert strebten seine Finger der glatten Oberfläche zu...
...die überhaupt nicht glatt war. Seine Finger trafen auf keinerlei Widerstand und hilflos musste er mit ansehen, wie ein Teil seiner Hand in das nun flüssige Glas – oder was es nun auch immer sein mochte – eintauchte. Er quiekte wie ein Schwein. Mit der linken Hand versuchte er den Übergangsprozess umzukehren, in dem er die Hand zurückzog. Aber die Kraft von der anderen Seite des Spiegels war stärker. Unerbittlich wurde erst seine Hand, danach sein Arm und schließlich auch der Rest seines Körpers in den Spiegel gezogen. Verzweifelt kämpfte er gegen seinen Untergang, aber vergeblich. Das letzte was er sah, kurz bevor sein Kopf als letzter Körperteil auf die andere Seite gezogen wurde, waren die hell erleuchteten dämonischen Fratzen am Rand des Spiegels. Der Schrei erstarb auf seinen Lippen. Diesmal schienen sie tatsächlich zum Leben erweckt.
Ihr böses Lachen wirkte wie ein Willkommensgruss.
Am nächsten Tag wurde der Dorfarzt zu Svetlana gerufen, der neuen Köchin von Ludovik Bresz. Er hatte wildes Fieber an ihr diagnostiziert und ihr zur Beruhigung diverse Kräuter verschrieben. Aus diesen sollte ein Sud angedickt werden, deren Dämpfe sie dreimal täglich zu sich nehmen sollte, um die plötzlich auftretende Verwirrung zu lindern.
Sie hatte ihm so dermaßen wirres Zeug erzählt, dass er sich keinen Reim darauf machen konnte. Aber immerhin hatte sie bewirkt, dass seine Neugier geweckt worden war und nachdem er mit mehreren Leuten im Dorf geredet hatte und darüber informiert worden war, dass sämtliche Bedienstete des alten Teufels in Todesangst vom Hof geflüchtet waren, beschloss er, der Sache auf den Grund zu gehen. Er hatte den Dorfpfarrer als Unterstützung im Schlepptau, als die beiden gegen Mittag den Hof betraten. Keine Menschenseele war zu sehen. Auffällig war auch, dass die Tür zum Hauptgebäude sperrangelweit offen stand.
Mit einem mulmigen Gefühl betraten die beiden Männer das Haus. Sie suchten sämtliche Zimmer nach dem Hausherrn ab, jedoch ohne Erfolg. Der Spiegelsaal war der letzte Raum, den sie noch zu inspizieren hatten. Auch hier fand sich nichts Ungewöhnliches. Plötzlich jedoch erstarrte der Pfarrer. “Beim Allmächtigen!” Der Arzt folgte seinem Blick und auch ihm stockte der Atem. Beide starrten fassungslos auf den Spiegel. Das Kristall war vollkommen blind geworden. Niemals mehr würde der Spiegel wieder als solcher verwendet werden können. Aber das war es nicht, was die beiden Männer so erschüttert hatte. Es war etwas an der Umfassung des Spiegels. Eine weitere Fratze hatte sich am Rand gebildet, ein teuflisches Antlitz, dessen Körper von anderen Dämonen nieder gerungen wurde. Dieses abscheuliche Gesicht hatte eine geradezu unnatürliche Ähnlichkeit mit den bösen Gesichtszügen des Ludovik Bresz.
Die Männer bekreuzigten sich angstvoll und verließen fluchtartig den Hof. Mit keiner Menschenseele redeten sie über ihre schreckliche Entdeckung. Drei Tage nach ihrem Besuch auf dem Grundstück ging das Gebäude ohne jeglichen ersichtlichen Grund in Flammen auf. Noch heute gibt die verbrannte Erde Zeugnis ab über die absonderlichen Geschehnisse, die sich dort zugetragen haben.
Die Anwohner meiden diesen Ort bis heute. Ein Haus ist dort nie mehr errichtet worden.