Der Spaziergang
Während meines Spaziergangs, kam ich an verschiedenen Jahreszeiten vorbei, so kann man es vermutlich am besten beschreiben. Ich sah Bäume, kahl wie der Kopf meines krebskranken Vaters, der versuchte mit einer Chemotherapie sein Leben zu retten, doch das einzige was nicht angegriffen wurde, war der Krebs. Er starb sehr früh. Ich sah Blumen, die sich gerade öffneten, einen wundervollen Duft versprühten, direkt am Fuße dieses kahlen Baumes, die mich an meine Schwester erinnerten, die den Krebs besiegt hatte und langsam wieder zu Kräften kam, nachdem ihr das Knochenmark eines anonymen Spenders verabreicht wurde. Das sah ich an dem einen Ort, es erinnerte mich an den Winter und an den Frühling. Der Wind, der meine Haare fast vom Kopf wehte erinnerte mich an den Herbst und die Sonne, die mit unglaublicher Intensität brannte und das so früh in diesem Jahr, ließ mich den Sommer erahnen, der auf mich zukam. Meine Gedanken blieben bei diesem Bild stehen, ich versuchte mir jedes Detail einzuprägen, in welche Richtung sich die Äste ächztend unter der Gewalt des Windes bogen und die Blume, die in dieselbe Richtung wankte, als wäre sie hypnotisiert von der Wärme der Sonne und konnte nicht anders als zu tanzen, zu einem Lied das ich nicht hörte. Ich stand wie der Baum angewurzelt vor diesem Bild, mein ganzes Leben, jede Entscheidung die ich traf, jeden Fehler den ich machte, alles was geschehen war, hatte mich letzten Endes hier her gebracht. Durch alles was ich durchlebt hatte nahm ich die Dinge wahr, wie nur ich sie wahrnehmen konnte. Eine andere Person, die vielleicht auch fasziniert von dem Zusammentreffen der Jahreszeiten an diesem Ort stehen geblieben wäre, hätte das alles ganz anders wahrgenommen. Vielleicht hätte der kahle Baum diese Person nur an ihren kahlen Grundschullehrer erinnert, die Blume sie an die erste Liebe, der Wind sie an einen Ausflug zum Meer. Der Wind roch leicht salzig, deswegen vielleicht. Die Sonne hätte diese Person vielleicht an ein Osterfeuer aus ihrer Kindheit erinnert, das ähnliche Wärme wie die Sonne versprühte. Ich genoss diesen Moment, ich genoss allerdings nicht mich selbst in diesem Moment, ich war mit mir unzufrieden, doch von der Schönheit der Natur überwältigt. Warum sich dieser Moment so in mein Hirn brannte weiß ich nicht, es war schließlich nur ein Spaziergang am Sonntag Nachmittag, einen Tag nach dem die Uhr umgestellt worden war. An diesem Sonntagnachmittag, der sich eigentlich schon dem Abend näherte hielt ich an diesem Baum kurz an um den Moment aufzusaugen, wie ein Süchtiger, der sich das Koks in die Nase saugt.
Nach einer gewissen Zeit, die Sonne verschwand schon langsam hinter den kahlen Ästen des Vaterbaums, ging ich weiter, setzte einen Fuß vor den anderen. Ich hörte den Wind flüstern mit einer mächtigen Stimme, roch die Natur, die nach Frühling und Leben roch und ließ meinen Blick durch den Wald schweifen. Dabei bewegte ich meinen Kopf kaum, ich starrte eigentlich nur vor mich her, doch auch alleine in diesem beschränkten Sichtfeld sah ich viel Schönes, ich sah die Natur, kaum merklich berührt vom Menschen. Ein paar gefällte Bäume, die am Rande des Weges zu einer Pyramide aufgestapelt worden waren, machten mich traurig, diese Bäume, was wohl aus ihnen werden würde. Wer sie wohl gefällt hat, wer sie wegschaffen würde, und ob ich darauf schreiben werden würde, waren Fragen die langsam durch meinen Kopf streiften, wie ich durch die Landschaft streifte.
Ich dachte darüber nach, was ich später am Abend essen würde, ob ich etwas kochen würde, oder ob ich mir etwas bestellen würde. Bei diesem Gedanken, entwickelte sich in mir ein unbestimmtes Maß an Missgunst, gegen die Menschheit, gegen mich selbst. Ich fühlte mich hier im Wald, wie sich die Menschen vor ein paar Jahrzehnten, oder vielleicht auch vor einem Jahrhundert, oder zwei gefühlt haben müssen. Nur hatte ich heute Morgen geduscht, mir meine Zähne geputzt, die Abgase verschiedener Autos gerochen und das Grölen der Motoren wahrgenommen. Wie still es wohl war, bevor die industrielle Revolution einsetzte? Keine Maschine, die den natürlichen Geräuschpegel störte, anhob, lauter werden ließ, zu etwas veränderte, was heute nicht mehr wegzudenken war. Ich hätte so gerne diese stille Zeit erlebt, in der die Menschen noch mit der Natur gemeinsam lebten und sie sich nicht Untertan machte, zum Sklaven. In ein paar Jahren wäre ich mit Sicherheit dann schon tot, aber es hätte gereicht. Wer kam denn auf die Idee, dass Menschen älter als fünfzig werden müssen?
So ist es doch nur natürlich, dass sich die Natur gegen uns wehrt, indem sie Krankheiten erschafft, die sie gegen unsere Überbevölkerung verteidigen sollen. Krankheiten, die es für uns zu bekämpfen gilt, die nur ein Hilfeschrei der Natur, der Mutter Erde sind, um aus der Sklaverei, der Unterjochung unser auszubrechen.
Die Leichenpyramide lag nun schon hinter mir, ich atmete tief durch, roch die Erde, getränkt vom Regen der letzten Nacht, langsam trocknend unter der immer noch brennenden Sonne. Sie schien glücklich mit dem was sie tat, uns Wärme und Licht spenden, damit wir soviel wie möglich aus einem Tag herausholen konnten, damit wir eine Chance hatten zu überleben. Heute stand unsere Chance zu sterben, an solch einem ganz normalen Sonntagnachmittag viel schlechter als früher noch, als man sich sorgen musste, um Dinge, die heute gar nicht mehr in unserem Verstand vorhanden sind. Ich atmete noch einmal tief ein und nahm den Duft verschiedener Blumen wahr, ich hörte ein entferntes Summen, fragte mich, ob es die Schnellstraße am Fuße des Berges war, oder ob irgendwo in der Nähe bereits Bienen lebten und ihrer Königin dienten, indem sie von Blume zu Blume hüpften, indem sie Honig produzierten. Winnie Puh, die Kinderserie schoss mir durch den Kopf, wo ein Bienenstock war, konnte ein Bär doch auch nicht weit entfernt sein. Ich sah allerdings nicht eine Biene, geschweige denn einen Bären, der auf verschlafene Art und Weise, sich reckend und streckend an den Bienenstock heranzukommen versuchte, um den köstlichen Honig, als erstes nach seinem langen Winterschlaf zu verspeisen. Ich musste lächeln, weil ich mir vorstellte, dass der Bär auf die verrücktesten Arten und Weisen versuchte an den Bienenstock heranzukommen, zum Beispiel mit Hilfe eines langen Stocks, den er als Stab, wie beim Stabhochsprung benutzen wollte.
In dem Moment, indem er seine prächtige Pranke schon fast an dem Bienenstock hatte, würde der Baum auf einmal zum Leben erwachen und seinen Ast, mitsamt daran befestigten Bienenstock in die Höhe ziehen, einen verärgerten Blick im Baumstammgesicht, sah ich vor mir, als wäre es Realität. Mit einem anderen Ast holte der Baum aus, wie mit einem Golfschläger und schlug den Bären, ähnlich wie Team Rocket bei Pokemon gen Horizont. Dann entspannte sich der Baum wieder, flüsterte den Bienen zu er würde immer auf sie aufpassen, weil sie auch auf ihn aufpassen, indem sie einfach nur da waren konnten die Menschen ihn nicht fällen und zu den anderen Baumleichen, auf die Pyramide legen. Das war alles nur in meiner Phantasie, doch konnte ich nicht anders, als darüber zu lächeln. Ich fand es bewundernswert, wie weit meine Gedanken mich von der Realität wegtragen konnten, in weit entfernte Dimensionen, in denen Bäumen schon fast menschliche Züge annahmen.
Kopfschüttelnd ging ich ein paar Schritte weiter, legte meinen Kopf in den Nacken und sah hoch oben, über mir, ich weiß nicht wie weit entfernt etwas fliegen. Ich dachte an die Szene aus Superman, ist es ein Flugzeug, ist es ein Vogel? Nein es war Superman.
Im Film natürlich, über mir drehte ein majestätischer Adler, oder vielleicht auch Falke seine Kreise. Durch eine der nicht versäumten Biologiestunden, die ich mal in der Schule war, wusste ich, dass diese Tiere von dort oben verdammt gut sehen konnten, also warum nicht. Ich hob meinen Arm und winkte dem fliegenden Etwas zu, nicht sicher warum. Ich wollte ihm vermutlich vermitteln, dass ich ihn sehen kann, dass er mich auch sehen kann. Wie dieser Wald wohl von dort Oben aussah? Mit mir mittendrin, auffällig war ich nicht, ich trug meine moosgrüne Lederjacke, darunter ein schwarzes T-Shirt, meine Beine und Füße in Chucks und schwarze Hose gesteckt, stand ich da und winkte dem Adler, oder dem Falken. Als ob er mich gesehen hatte, sah ich den Punkt am Himmel ein klein wenig größer werden, er flog auf mich zu, kreisend, ob er mich für Beute hielt? Ich nahm meinen Arm langsam herunter, der Falke, oder Adler sank immer tiefer, die Kreise wurden immer enger. Langsam konnte ich die mächtige Flügelspannweite erahnen, die dieses Tier besaß, er kam genau auf mich zu, ich wusste nicht wie ich reagieren sollte.
Ich hatte schon oft von diesem Moment geträumt, nicht Nachts während ich schlief, obwohl, das konnte ich nicht beurteilen, da ich mich an meine nächtlichen Träume nicht erinnern konnte. Tagsüber, wenn ich in einem Bus saß, wenn ich Zeit hatte meine Gedanken schweifen zu lassen, oder wenn mir anderes egal war, und ich mich in meine Gedanken zurückzog. In diesen Momenten hatte ich immer zu darüber nachgedacht, wie es wäre einen Falken zu besitzen. Typisch Mensch, wollte ich ihn natürlich sofort besitzen, nicht einfach nur einmal einen sehen, aus nächster Nähe, nein ich wollte einen besitzen. Wie es dann wohl wäre, ihn auf meinem Arm zu tragen, ihn starten zu lassen und auf meinem Arm landen zu lassen. Wie es wäre ein Band mit ihm aufzubauen, bestehend aus Freundschaft und Vertrauen, dass ich durch seine Augen sehen konnte, während er flog und mein Körper unten am Boden nur anwesend war. Ich hatte darüber nachgedacht wie es wäre im Kopf eines Falken zu sein. Diese Idee hatte ich aus einem Buch, vielmehr einer Triologie, die ich laß, als ich das Lesen für mich entdeckte.
Der Falke oder Adler kam also immer näher und weil ich schon so oft von diesem Moment geträumt hatte, streckte ich meinen linken Arm in einem neunzig Grad Winkel von meinem Körper ab. Ich dachte darüber nach, dass sich die Krallen vermutlich in mein Fleisch hineinschneiden würde, dass ich vor Schmerzen aufschreien würde, dass das Gewicht eines landenden Falken oder Adlers vermutlich zu Boden reißen könnte. Er flog auf mich zu, kam immer näher und ich stand wie ein Baum mitten auf der Lichtung, auf dem Weg den vor mir jahrelang schon verschiedene Menschen gewandert waren, ob einer dieser Personen jemals so etwas wiederfahren war, ob man sterben könnte, wenn man von einem Falken oder Adler angegriffen wurde? Eine Stimme in meinem Kopf schrie mich förmlich an, ich solle Rennen, mich hinter der nächsten Leichenpyramide in Deckung begeben, doch ich stand dort, fest verwurzelt, regungslos, wie ein Baum. Die nächsten Sekunden gingen so schnell vorbei wie die Zeit noch nie für mich vergangen war, der linke Flügel des Falken, mittlerweile hatte ich erkannte was es war, es war nicht Superman und auch kein Flugzeug, es war ein wunderschöner Falke, mit einem braunen Schnabel, Krallen die mich auf eine Art an einen Drachen erinnerten und Federn, die im Sonnenlicht moosgrün schimmerten. Der Falke streifte meinen Kopf mit seinem rechten Flügel, verfehlte meinen Arm, den ich immer noch, zitternd vom Körper abstreckte. Die letzen hundertfünfundachtzig Zentimeter taumelte der Falke zu Boden, überschlug sich, doch konnte mit der linken Kralle sein Ziel einfangen, dass er von dort Oben anvisiert hatte. Er war auf der Jagd und seine Beute sah ihr Ende nicht kommen. Die Maus die neben mir aus einem Haufen Blättern gezogen wurde, wusste wahrscheinlich genauso wenig wie ich, was ihr geschah, stieß einen letzten schmerzerfüllten Quick aus. Der Falke hatte seine Beute fest im Griff, der leblose Körper der Maus verrückte keinen Zentimeter, nicht einmal einen Millimeter, als der Falke sich überschlug und zu Boden taumelte. Die Maus war neben mir gewesen, die ganze Zeit und ich habe es nicht gemerkt, aber der Falke hat es von dort oben gesehen, sich entschlossen, dem Leben dieser Maus ein Ende zu bereiten. Ich drehte meinen Kopf langsam um zu sehen, wohin sich der Falke überschlagend verschlagen hatte. Meinen Arm immer noch vom Körper abstreckend.
Er war ein paar Meter von mir entfernt, war gerade dabei sich wieder aufzurappeln, schüttelte seinen Kopf und spreizte seine Flügel. Ein Schemerzensschrei entfloh dem Schnabel des Falken, als er seinen linken verletzten Flügel vom Körper abspreizte, es jedenfalls versuchte, wie ich meinen Arm. Ich stand immer noch angewurzelt dort, an der Stelle der Lichtung, die Abendsonne schien auf mich nieder, der Wind blies mir fast die Haare vom Kopf und alles roch nach nasser, langsam trocknender Erde.