Der Spaziergang
Warum? Warum bin ich hier? Was mache ich hier? Ich weiß es nicht, spüre nur, wie kalt es ist. Ein schwacher Trost, wenn man bedenkt, dass ich keine wärmende Jacke trage. Ich bewege mich, laufe immerzu, doch das Unbehagen bleibt.
Der Schnee ist einfach zu kalt.
Mutlos setze ich einen Fuß vor den anderen, habe das Gefühl jeden Augenblick einzubrechen, zu fallen, so tief, dass man es nicht zu fassen vermag. Doch mit jedem weiteren Schritt merke ich: dieses Schicksal bleibt mir wohl erspart. Vorerst.
Ganz eng presse ich meine arme an meinen Leib, in der Hoffnung das ständige klappern meiner Zähne würde aufhören, doch das tut es nicht. Ich balle meine Fäuste, bemerke beinah nebensächlich, dass sich in einer von ihnen etwas befindet. Kraftlos drehe ich den Kopf und blicke auf den kalten Stahl eines Messers herab. Ein Messer? Warum habe ich ein Messer bei mir? Der blanke Stahl spiegelt sich im Licht der untergehenden Sonne aber mir ist es egal.
Kurz denke ich daran, das Messer zu benutzen, meinem Leid ein Ende zu bereiten doch noch im selben Moment erinnere ich mich daran, wie eine höhere Macht nicht wollte, dass mich meine Kräfte verlassen. Ich verwerfe den Gedanken und gehe weiter.
Es beginnt wieder zu schneien. Wie kleine Tränen fallen die flocken aus dem Himmel und bedecken jeden noch so kleinen Flecken der Erde. Ich versuche mir eine von ihnen herauszupicken und ihren Flug bis zum Boden zu verfolgen, doch es gelingt mir nicht. Im Gewirr der anderen verliere ich sie immer wieder.
Unachtsam wie ich bin, stolpere ich dabei und gehe keuchend in die Knie. Mit den Händen fange ich meinen Sturz ab. Die eisige Kälte des Schnees greift nach mir, erfasst nun auch meine Hände, doch das Messer halte ich noch immer fest in meiner Hand. Langsam erhebe ich mich wieder. Bei der Bewegung schmerzt jede Faser meines Körpers. Ich versuche es zu unterdrücken.
Als ich weitergehen will, bemerke ich eine schemenhafte Gestalt die nur wenige Meter von mir entfernt steht und mich ansieht. Ich bleibe stehen und schaue zurück. Nichts geschieht. Ich bewege mich nicht. Die Gestalt schon. Sie kommt auf mich zu. Langsam. Langsam, setzt sie einen Schritt vor den anderen, kommt nicht direkt auf mich zu, umkreist mich vielmehr, wie eine Raubkatze ihre hilflose Beute.
Aus dem Augenwinkel sehe ich eine weitere Gestalt. Auch sie bewegt sich auf mich zu. Zitternd drücke ich das Messer in meiner Hand fester. Kurz schaue ich nach hinten, auf der Suche nach einem Fluchtweg doch auch dort wartet eine undurchsichtige Gestalt auf mich.
Sie alle kommen näher.
Ich kann ihre Gesichter nicht erkennen, es schneit zu stark. Doch ihren Willen mir Schaden zuzufügen, kann ich spüren, so wie Haie die Angst ihrer Beute. Ich will etwas sagen, will ihnen sagen, dass sie mir nichts antun sollen, dass ich ihnen nichts getan habe, doch meine Stimme versagt. Nicht einmal mehr ein Krächzen bekomme ich heraus. Angsterfüllt schaue ich die Gestalt an, die nun unmittelbar vor mir steht. Es ist ein Mann. Ein großer, stämmiger Mann. Sein Gesicht ist hart und ein böses Grinsen, lässt meine Knie erzittern. Diesmal jedoch nicht vor Kälte.
Ohne Vorwarnung schlägt er zu. Ein Rechtshänder.
Ich sehe den hieb kommen, er ist kraftvoll. Dafür langsam.
Ohne zu zögern, mache ich einen Schritt nach vorne und blocke mit dem linken Arm, in dessen Hand ich das Messer halte seinen Angriff und schlage ihm im Gegenzug meine rechte Faust zwischen die Brust. Keuchend, allerdings mehr überrascht taumelt er nach hinten und versucht sein Gleichgewicht wiederzufinden.
Eine Sekunde der Konzentration reicht mir.
Schräg links hinter mir, höre ich eilig näherkommende Schritte. Das schnell wiederkehrende Knarksen des Schnees bestätigt es. Ein kurzer Blick über die linke Schulter genügt. Mit einem Knüppel in der rechten Hand stürmt er auf mich zu.
Ich lasse einen weiteren Augenblick verstreichen, warte angespannt auf den perfekten Moment. Vor meinem geistigen Auge stelle ich mir seine Bewegungen vor. Das schnelle Atmen, der Griff fest um seine Waffe, die Augen vor Schnee und Kampfes Lust verengt. Nur das Ziel im Blick holt er zum Schlag aus. Am höchsten Punkt, lässt er die Waffe wieder nach unten fahren. Er steckt all seine Kraft in den Schlag.
Ein Fehler. Es wird sein letzter sein.
Blitzschnell gehe ich in die Hocke, lasse den Knüppel um Haaresbreite über meinen Kopf hinwegsausen, drehe mich im gleichen Moment über meine rechte Schulter und beschreibe mit meinem rechten Arm einen großen Bogen, um seinen Schlag, der ins leere führt, zu meinen Gunsten zu nutzen. Durch seinen großen Schwung, der nun ungenutzt bleibt, verliert er das Gleichgewicht. Fällt nach vorne über. Doch bevor das geschieht umschlinge ich seinen rechten Arm mit meinem rechten Arm und nehme ihm so jegliche Möglichkeit der Abwehr. Mir den Rücken zugewandt, der rechte Arm unbrauchbar gefangen, ist er mir ausgeliefert.
Er weiß es.
Ohne eine weitere Sekunde zu verschwenden, treibe ich ihm das Messer in meiner linken an den Punkt zwischen Wirbelsäule und Schädel. Sein Körper erschlafft auf der Stelle.
Schnell, bevor mich sein Gewicht nach unten zieht, lockere ich den Griff und gebe der Leiche einen Tritt gegen die Hüfte, um ihn in Richtung des dritten heranstürmenden Angreifers zu befördern, was diesen ein wenig ausbremst. Doch keine Zeit zum Ausruhen, mein erster Widersacher ist wieder zur Stelle. Mit Genugtuung vernehme ich, dass sein anfänglich höhnisches grinsen gewichen ist. Sein Blick verspricht jetzt Hass und Mordlust. Und Angst.
Er schreit wütend auf, ballt diesmal seine linke Hand zur Faust, noch bevor er mich erreicht hat.
Keine Sekunde später, rauscht wie zu erwarten ein linker harken auf mich zu. Schnell drehe ich mich mit der linken Schulter voran in seinen Schlag hinein, sodass dieser nur wirkungslos meinen Rücken streift. Meinen Schwung nutzend, verpasse ich ihm mit voller Wucht einen Ellenbogenschlag mit dem rechten Arm gegen die Nase. Ein befriedigendes Knacken beflügelt mich nur noch mehr, während ich mein Messer bis zum Schaft in seinen linken Oberschenkel stoße, um es direkt im Anschluss mit einem kurzen Ruck des Handgelenkes, wieder herauszuziehen. Selbstverständlich drehe ich meine Hand dabei, um die Wunde noch weiter einzureißen. Zu vergrößern.
Ich höre keinen Laut von ihm. Keinen Aufschrei des Schmerzes, kein Aufstöhnen. Lediglich ein kurzes Wimmern ist zu vernehmen, als ich meine rechte Hand auf seine Brust lege und ihn achtlos von mir wegdrücke.
Ohne Gegenwehr fällt er rücklings in den Schnee und bleibt dort liegen.
Müde blicke ich vor mich, finde nach kurzem Suchen, den noch verbleibenden Angreifer, im immer weiter zunehmenden Stürmen des Schnees.
Er ist stehen geblieben.
Ich kann sein Gesicht nicht erkennen, doch ich kann mir vorstellen, was in ihm vorgeht.
Ich lächle nicht.
Die leichte Anstrengung hat mir ein wenig die Kälte aus dem Körper getrieben. Doch es ist noch nicht getan.
Langsam greife ich den Stoff meiner Hose und reinige behutsam die klinge vom Blut der Besiegten.
Es ist noch nicht getan. Als ich damit fertig bin, öffne ich zum ersten Mal seit langem meine linke Hand und greife die Spitze des Messer mit Daumen und Zeigefinger meiner rechten.
Auch die Zurufe der Gestalt, können mich nicht abbringen. Ich verstehe ohnehin nicht was er sagt. Er hört sich ängstlich an. Ich schätze er versucht einer weiteren Konfrontation aus dem Weg zu gehen.
Dafür ist es zu spät.
Für ihn mag es so aussehen, als höre ich ihm zu. Doch ich nehme Maß.
Für ihn mag es so aussehen, als zögere ich. Doch ich wäge die Geschwindigkeit des Windes und die Stärke des Schneesturms ab.
Für ihn mag es so aussehen, als gebe ich ihm ein Zeichen. Doch ich hole Schwung.
Für ihn mag es sich zuerst so anfühlen, als habe ihn bloß etwas am Hals gestochen. Doch es ist mein Messer, das ich mit viel Kraft und Präzision nach ihm geworfen habe.
Er geht erst in die Knie. Verharrt dort einige Sekunden. Und fällt schließlich leblos zur Seite um.
Stille.
Ich schließe die Augen.
Atme erst einmal tief durch. Die eisige Luft füllt meine Lungen, doch ich nehme das Stechen, was sie verursacht kaum wahr. Als ich die Augen wieder öffne sehe ich zum ersten Mal das Blut. Es ist überall.
Wo vorher eine friedliche weiße Landschaft war, ergießt sich nun warmes, klebriges Blut.
Hinter mir regt sich etwas. Ein Wimmern, ein gepresstes Stöhnen. Ich wende mich vom Anblick der beiden Leichen vor mir ab und trete langsam an meinen noch lebenden Widersacher heran.
Der große, stämmige. Er hatte zum ersten Schlag ausgeholt. Er trägt die Schuld an ihrem Schicksal.
Nicht ich.
Jetzt liegt er da. Das Gesicht, über und über mit Blut besudelt, die Nase, in einem äußerst unnatürlichen Winkel abstehend. Presst er sich beide Hände verzweifelt auf die flaschenhals - große wunde, aus der unentwegt Unmengen an rotem Lebenssaft austreten.
Flehend blickt er zu mir auf, die Zähne schmerzerfüllt zusammengebissen. Seine tränenden Augen, so scheint es, sind kurz davor aus ihren Höhlen auszutreten.
Ich schenke ihm einen letzten nichtssagenden Blick und setze meinen Weg, an ihm vorbei, fort. Bei der Kälte, dem Sturm und diesen Wunden, würde er in wenigen Minuten aufhören zu frieren.
Sein Pulsschlag würde sich verlangsamen. Er würde das Bewusstsein verlieren. Und in nicht mal einer halben Stunde, würde sein Herz für immer aufhören zu schlagen.
Schon nach kurzer Zeit, kann ich hinter mir weder die drei Männer, noch
Spuren von Blut ausmachen.
Zufrieden aber dennoch ein wenig verärgert darüber, dass mich mit der Zeit die Kälte von neuem packt, setze ich meinen weg weiter fort.
Die Sonne ist mittlerweile untergegangen, die Nacht legt sich über das Land. Gleichzeitig bin ich selbst über und über mit Schnee bedeckt.
Ohne es zu wollen verschmilze ich mit ihm, werde eins mit ihm.
Noch ein paar Schritte. Dann hat auch die Nacht mich vollends verschluckt.