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Der Spaßmacher

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16.10.2014
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Der Spaßmacher

Noch heute muss ich manchmal an den Spaßmacher aus Unkwunk denken.
Ist er inzwischen glücklich?
Lebt er überhaupt noch?
Ich weiß noch, wie ich ihn traf, auf der Straße nach Brangh.
Die Strecke war länger, als ich sie in Erinnerung hatte, und so gönnte ich meinen Beinen und auch meinem Po eine Ruhepause. Ich ließ mich auf einer Holzbank nieder und schloss die Augen.
Jetzt ein wenig Tagträumen.
Die Mittagssonne hatte mich schon fast in einen Schlummer versetzt, als mich das Rumpeln eines Fuhrwerks ins Diesseits zurückholte. Ich zog die Krempe meines weiten Hutes nach oben. Auf der einsamen Straße schaukelte ein Planwagen auf mich zu, gezogen von einem Ochsen. Er kämpfte sich tapfer über die Schlaglöcher hinweg und näherte sich der Kreuzung, an der ich saß. Als das Gespann bei mir war, grüßte ich den Kutscher auf dem Bock mit einem Kopfnicken. Er war ein kleines, gedrungenes Männchen mit einer Knollennase. Er wischte sich seine strohfarbenen Haarsträhnen, die rings um sein Haupt herabfielen, aus dem Gesicht und lächelte mich an. Er hatte ein Froschmaul, wenn auch ein freundliches. Er trug einen rosa und gelb gescheckten Wams, nicht unähnlich dem, den ich trug, nur dass die Farben meines Flickenmusters noch nicht so sehr aus der Mode und noch nicht so ausgeblichen waren.
„Hallo!“, grunzte das Männchen.
„Grüß' Euch!“, erwiderte ich. Ich sah eine Chance, mein Ziel doch noch bis zum Abend zu erreichen, anstatt mir für die Nacht ein Versteck vor streunenden Ogern suchen zu müssen.
Ich rief zu dem Männchen: „Ich bin auf der Reise zum Fest der Friedfertigkeit in Brangh. Falls Euch nach etwas Gesellschaft ist, könnt Ihr mich ja ein Stück mitnehmen!“
Das Männchen hielt seinen Ochsen mit einem Zügelschlag an, musterte mich kurz und freute sich dann.„Oh, ja … Klar kann ich das. Da will ich nämlich auch hin!“
„Herzlichen Dank!“
Ich warf meinen Wanderstock mit dem Beutel meiner Habseligkeiten daran hinter den Kutschbock und schwang mich auf den Wagen.
„Ich bin übrigens Kiileon.“ Ich reichte dem Kutscher die Hand, welche er erst fragend ansah, dann aber schüttelte.
„Hallo. Das ist schön.“
Die Zügel schnalzten, und der Wagen rumpelte weiter.
Während ich versuchte, mich in dem engen Fußraum so gut es ging auszustrecken, drangen Geräusche von der Ladefläche an mein Ohr. Kaum wahrnehmbar im Rattern der Räder, aber unverkennbar real. Als versuchten Vögel, mit ihrem Flügelschlag einem Käfig zu entfliehen.
Ich drehte mich um, aber sehen konnte ich nichts, denn die Fracht war von der Plane verdeckt.
Der Kutscher hatte mein Stutzen bemerkt und grinste mich an.
„Das sind meine Flatterlinge“, sagte er.
„Flatterlinge?“
„Jaa.“
Mit Vorfreude wartete er auf meine nächste Frage.
Ich deutete auf seinen Wams und fragte:
„Seid Ihr auch in der Unterhaltungsbranche tätig?“
„Genau! Ich bin Hooo, der Spaßmacher!“
„Seht an, dann machen wir ja fast das Gleiche. Ich bin nämlich freischaffender Hofnarr.“
Hooo gluckste vergnügt.
„Ooh, ein echter Hofnarr seid Ihr! Dann müssen Eure Witze ja zum Kullern sein!“
„Klar.“
„Erzählt mal einen!“
Ich gab einen Zweizeiler aus meinem Standardrepertoir zum Besten.
„Haa, haa!“ blökte Hooo.
„Und am Hof von welchem König arbeitet Ihr?“
„Ich halte immer mal wieder einen anderen Fürsten bei Laune, immer so lange, wie es der jeweilige Arbeitsvertrag verlangt. Das ist ja der Vorteil, wenn man Freischaffender ist … oder der Nachteil, wie man's sieht. Zuletzt hatte mich der Potentat von Pormps angeheuert, aber der hatte den Vertrag vorzeitig aufgekündigt wegen … sagen wir, ich und er einen unterschiedlichen Humorhorizont hatten.“
„Humorhorizont?“
„Ja … Ich vertrete die Ansicht, dass Witze etwas Freies und Befreiendes haben sollten und darum von allen Dingen unter der Sonne erzählen dürfen, und wenn es der fette Hintern der Gemahlin des Potentaten von Pormps ist. Der Potentat war da nur leider anderer Meinung, darum musste ich meinen Aufenthalt dort ein wenig überstürzt abbrechen. Und wo lasst Ihr Euch die Kupferthaler in den Hut werfen?“
„Überall! Wenn ich in ein Dorf oder eine Stadt komme, wo ein Fest ist und Leute lustige Sachen sehen wollen, dann halte ich an und hole meine Flatterlinge aus den Kisten.“
Als wäre diese Erwähnung ein Zauberwort gewesen, begann wieder das Flattern auf der Ladefläche.
„Was ist denn das, Eure Flatterlinge?“
Wie er eben die Flatterlinge noch stolz erwähnt hatte, so freute er sich jetzt wie ein Schelm darüber, mir keine Silbe mehr zu verraten.
„Das werdet ihr noch sehen. Nämlich wenn ich in Brangh auf dem großen Fest Kunststücke mache.“
„Ihr seid also ein Tierbändiger?“
„So einer mit wilden Tieren? Naaa, das hab ich mal versucht, mit 'nem Frettchen. Aber ich bin in sowas nich' gut, das Vieh ist mir immer in den Hosenbeinen hochgeklettert und hat mich da unten gebissen, genau hier.“
Er spreizte seine Stummelbeine, um mir die Stelle zu zeigen.
„Das dumme Vieh. Seitdem mach' ich nix mehr mit Viechern, wo Zähne haben.“
„Dann lasst Ihr irgendetwas tanzen, während Ihr Musik spielt?“
„Nein, auch nicht Musik. Hab mal mit 'nem Schellenkranz den Leuten gute Lauen machen wollen auf dem Markt bei mir im Dorf. Da haben sie mir den Schellenkranz weggenommen und an der Hauswand zerschlagen und mich an den Füßen am Maibaum hochgezogen, damit ich keinen Krach mehr machen tu.“
„Aber Ihr macht irgendwas Akrobatisches, hab ich recht? Jeder Gaukler macht sowas: Seiltanzen, Räder schlagen, Jonglieren und das alles.“
„Ja, hab ich am Anfang auch versucht, aber bin nicht so gut wie andere Spaßmacher. Bin beim Radschlagen immer mit der Nase im Dreck gelandet, einmal is' mein Kopf sogar im Arsch von 'ner Kuh stecken geblieben, seitdem lass ich das.“
Ich unterdrückte ein Grinsen, obwohl er mir anfing, leid zu tun.
„Seid Ihr dann ein Magier?“
Hooo schüttelte den Melonenkopf.
Wie soll ich ein Magier sein? Bin doch keine Fee und nicht einer von den Berghexern.“
„Ich meine doch keine echte Magie, sondern Zaubertricks, wie zum Beispiel aus einem Hut mit doppeltem Boden ein Kaninchen hervorziehen.“
„Aah, so. Nein, sowas würd' ich gern können, aber kann ich nicht. Meine Finger sind zu dick dafür.“
Er präsentierte seine rechte Hand. Jeder Finger sah aus wie ein Daumen, nur der Daumen nicht, der ähnelte einem großen Zeh.
So beiläufig wie möglich fragte ich ihn, warum er denn überhaupt Gaukler geworden war.
„Weil wenn ich früher was Ernstes machen wollt' wie Schweinehirt oder Dungschaufler, hab ich immer was falsch gemacht, obwohl ich es eigentlich gut machen wollt', und dann sind immer nur zwei Sachen passiert: Entweder die Leute sind böse geworden oder haben über mich gelacht. Und weil sie beim Lachen hinterher immer netter zu mir waren als wo sie böse waren, dacht' ich mir: Bring ich sie zum Lachen. Und dann hab ich fleißig geübt, bis ich was gefunden hab, was ich richtig gut kann.“ Er kicherte und deutete mit dem Kopf zur Ladefläche.
„Das ist nämlich was, wo die Leute nicht nur lachen, weil's spaßig ist. Sondern wo sie auch Aaah! und Oooh! rufen, weil's schön aussehen tut! Das is' vielleicht das Einzige, was ich gut kann. Und das kann ich richtig gut, aber so richtig!“
„Da bin ich mal gespannt!“
Hinter der Plane holte das Geflatter plötzlich zu einem Schlag gegen seine Gefängniswand aus, so als hätte sich ein Schwarm Motten zu einer schwebenden Faust zusammengeballt, um sich ein Loch in die Freiheit zu boxen. Sofort fiel das Geräusch wieder zu dem leisen Flattern zusammen.
„Wie lange bist du eigentlich schon unterwegs?“
„Schon lange. Seit ich aus meinem Dorf in Unkwunk weggezogen bin. Seitdem leb' und wohn' ich in meinem Ochsenwagen.“
„Aus Unkwunk bist du also,“ sagte ich. „Das ist doch da, wo sie verkrüppelten Bettlern Geld geben, damit sie sich gegenseitig verhauen?“
„Jaa, haha! Der eine ohne Beine, wo immer gewinnt, is' aus meinem Dorf! Und wir haben auch den größten Misthaufen vom Land!“ sagte Hooo nicht ohne Nationalstolz.
Die restliche Fahrt war nicht erfüllt von tiefsinnigen Worten. Dafür erwies sich mein neuer Begleiter als gut gelaunter Geselle, dessen sonniges Gemüt mich meine Sorgen verdrängen ließ. So wechselten wir irgendwann vom Ihr zum Du.

Dann endlich sahen wir sie, die Kuppeln der Stadt Brangh, über der sich bereits das Abendrot sammelte und das der marmornen Silhouette eine goldene Lackierung verlieh.
Als die Straße von Wanderern und Fuhrwerken immer belebter wurde, fragte ich Hooo:
„Warst du schon mal in Brangh?“
„Nein, noch nie. Aber der Sohn von meiner Tante und meinem Großvater war's mal, so vor zwanzig Jahren, der fand's voll toll. Weil die haben immer ein großes Fest gemacht, wenn sie wieder was erobert hatten, und da gab's Musik und Saufereien, und am Abend durften alle zugucken, wie sie den Gefangenen die Schädel gespalten hatten. Und den besten Saumagen mit Fleischklößen gibt’s da!“
„Dann dürfte dein Verwandter die Stadt heute kaum wieder erkennen. Wie ich hörte, sind den Bewohnern ihre Schädelspaltereien heute peinlich, jetzt wollen sie sich einen neuen Leumund verschaffen und haben sich ganz in den Dienst der Liebe gestellt.“
„Das ist doch schön! Und Spaßmacher tun sie bestimmt immer noch brauchen. Ich freu mich schon auf den Saumagen!“

Die Straße vor dem großen Haupttor quoll über vor Kutschen, Reitern, ob menschlich oder monströs.
Die Sonnenscheibe war schon in die Unterwelt versunken, als uns nur noch ein Wagen vor der Inspektion durch die Torwachen trennte. Wir waren schon die ganze Zeit hinter diesem Wagen gestanden, ohne dass man die Insassen von außen zu Gesicht bekommen hatte. Doch jetzt bei der Zollkontrolle, bei der die Wache die Plane des Wagens lüftete, sah ich sie: Drei stämmige Gestalten, eingehüllt in Ogerfelle. Ihre Schädel waren kahl rasiert und eine durchgehende Augenbraue lag wie ein Balken über jeder der finsteren Visagen.
Es waren Rogruuhs, die Häscher des Triumvirats.
Waren sie zum Spaß hier oder beruflich? Sie konnten nicht wissen, dass ich hier war. Aber was, wenn sie mein Gesicht auf den Steckbriefen bei ihren Herren gesehen hatten? Was, wenn sie mein Gesicht hier leibhaftig entdecken würden?
Unter dem Fellmantel eines der Rogruuhs lugten die Dornen eines Morgensterns hervor. Schnell schob sein Besitzer die Schlagwaffe unter den Mantel zurück, die Wache hatte nichts bemerkt.
Ich beugte mich zu Hooo und flüsterte:
„Wunder dich bitte nicht, wenn ich gleich einen falschen Namen angebe, aber ich habe Angst, dass der Potentat von Pormps mich bis hierhin sucht.“
Von meinen Schulden beim Triumvirat musste er nicht unbedingt wissen.
Hooo nickte verständnisvoll.
Der Kutscher des Rogruuh-Wagens unterzeichnete einen Stapel pergamentener Formulare. Die beiden Wachen, die das Tor versperrten, zogen ihre gekreuzten Hellebarden auseinander, um sie nach dem Passieren des Fuhrwerks wieder gegeneinander klirren zu lassen. Der Hauptmann der Wache, dessen Harnisch so glänzte, als wäre er frisch poliert worden, blickte nun zu uns und signalisierte mit einem Nicken, dass wir heranfahren konnten. Dabei wippte das rosafarbene Wattebüschel auf seinem Helm vor und zurück.
„Seid gegrüßt. Wie sind Eure Namen, Eure Gewerke und was ist Eure Fracht?“
Ich wollte die Frage nach den Personalien rasch hinter mich bringen, also begann ich als erster zu reden:
„Seid ebenfalls gegrüßt! Ich, äh, bin Flap, der Possenreißer und möchte beim Fest der Friedfertigkeit meine Späße zum Besten geben. Ich reise als Passagier und habe nur diese Kleinodien bei mir.“
Ich reichte dem Hauptmann meinen Wanderbeutel. Der Hauptmann löste den Knoten und durchwühlte den Inhalt. Er zog ein braunes Stück Fell heraus.
„Was ist denn das?“ , fragte er.
„Oh, das ist nur ein Affenkostüm.“
„Ein Affenkostüm?“
„Ja. Das hat mir mal eine kleinwüchsige Gefährtin geschenkt, nach dem aus unserer Affennummer nichts geworden ist.“
Die Wache hob den Zeigefinger.
„Aber Ihr wisst, dass diese Art von Herabwürdigung in Brangh streng geahndet wird?“
„Nein … wusste ich nicht? Wieso Herabwürdigung?“
„Wir dulden keine Verspottung von anderen Wesen durch unangemessenes Nachäffen. Festgehalten im Paragraphen neunundachtzig des allgemeinen Liebesgesetzes!“
„Tatsächlich? Ich meine ... ja, geht in Ordnung. Ich werde keine Affen äffen. Ich benutze es eigentlich eh nur noch als Schlafkissen.“
„Ach so. Gut, Kissen sind zollfrei.“
Der Blick des Hauptmanns wanderte zu meinem Gefährten. Hooo grinste breit.
„Seid Ihr auch ein Unterhaltungskünstler?“, fragte der Hauptmann.
„Jawoll! Ich bin Hooo, der Spaßmacher!“
Der Hauptmann musterte ihn von oben bis unten, was bei Hooo ja keine große Strecke war.
„Dürfte ich noch die Fracht Eures Wagens begutachten?“
„Aber klar.“
Der Hauptmann lüftete auf der mir abgewandten Seite des Wagens die Plane.
Er forderte Hooo auf, eine der Kisten zu öffnen.
„Aber nur gaaanz klein bisschen, Herr Stadtwache! Sonst flattern sie weg!“
Es ertönte ein Knarzen, dann das Flattern, diesmal etwas weniger gedämpft.
Leider konnte ich von meiner Warte aus nichts erkennen.
„Lebende Fracht!“, stellte der Hauptmann fest. „Zu welchem Zweck führt Ihr die mit Euch? Zum Verzehr? Zur Dressur? Ist die Haltung artgerecht?“
„Klar sind die artgerecht. Ich brüte auch jedes Mal ihre Eier neu aus. Und ich ess meine Flatterlinge doch nicht. Und dressieren tu ich sie auch nicht. Ich mach nur ein Kunststück.“
„Ein Kunststück? Ich dachte, Ihr dressiert die nicht?“
„Muss ich ja auch nicht. Das Kunststück mach ja auch ich.“
„Nun gut. Dann muss ich aber noch eines der Fässer als Stichprobe öffnen.“
Einer der Fassdeckel machte Flump!.
„Ist das Wasser?“
„Jaa … zum Trinken.“
„Sind alle Fässer mit Trinkwasser gefüllt?“
„Äh … jaaaaa.“
„Gut, Herr Hooo, dann unterschreibt bitte diese Einfuhrformulare. Solange Ihr unsere Richtlinien zum Wohl von fühlenden Wesen einhaltet, ist Euch die Passage gewährt. Im Namen der Liebe wünsche ich Euch einen angenehmen Aufenthalt!“
Die Hellebarden machten uns den Weg frei und wir durchquerten das Tor.
Da war ich also wieder in Brangh! Mit seinen prächtigen Fassaden und breiten Boulevards. So hässlich die Raubzüge gewesen waren, mit denen die Brangher ihren Reichtum angehäuft hatten, um so schöner war das Gewand, in das sie ihre Stadt damit gekleidet hatten. Die gigantische Marmorkuppel im Zentrum überstrahlte die ganze Stadt, während sie einen gewaltigen Schatten über die angrenzenden Dächer warf. Ein großes Banner wehte über der Hauptstraße. Darauf stand:
Willkommen in Brangh! Dem Ort, an dem jeder sein darf, was er ist.
Darunter erstreckte sich das Fest. Selten hatte ich so viele Geschöpfe aus allen Ecken des Landes ineinander gequetscht gesehen. Die Menge war sogar noch bunter als der Watteschmuck auf den Rüstungen der Wachmannschaften, die an allen Straßenecken das Getümmel übersahen.
Doch Hooo achtete nicht darauf. Er war nämlich damit beschäftigt, in sich hinein zu kichern.
„Was ist los? Worüber amüsiert du dich?“
Hooo kicherte. „Ich hab das auch gemacht!“
„Was hast du auch gemacht?“
„Na das wie du. Ich hab auch geschwindelt!“
„Bei der Wache?“„Jaa. Ich tu sonst wenig schwindeln, weil man dafür ja sonst den Hintern versohlt kriegt. Aber wo ich gemerkt hab, dass du so gut schwindeln kannst und ich nich' so viele Thaler dabei hab, hab ich auch was gesagt, was nich' stimmt. In einem von meinen Fässern war nämlich gar kein Wasser zum Trinken.“
„So? Was denn dann?“
„Da is' Lampenöl drin. Hab ich immer dabei für mein Kunststück. Aber da wollen die meistens Zollgeld für, was teuer is'.“
Fest der Friedfertigkeit hin oder her, für Schmuggel landete man an den meisten Orten im Kerker! Ich hatte vor Augen, wie Hooo nackt an einer Kerkerwand hing und unter Peitschenhieben Schmerzensschreie ausstieß. Und am Ende noch preisgab, dass auch ich die Wache angelogen hatte.
„Hör zu! Das war eine Ausnahme, weil man hinter mir her ist. Und außerdem war das nicht die feine Art von mir, das geb' ich ja zu. Aber ich habe keine Lust, wegen dir eingelocht zu werden!“
Hooo sah mich eingeschnappt an, dann deutete er mit dem Kopf nach oben.
„Aber da tat doch stehen, dass man hier tun kann, was man will!“
„Da stand, dass jeder sein kann, was er will, verdammt nochmal!“
Wir fuhren gerade an einem Wachposten mit einem rosa Wattebüschel auf dem Helm vorbei, dessen Augen mich bei dem Verdammt böse anzublitzen schienen. Erst jetzt sah ich das Warnschild mit der Aufschrift Fluchen und unziemliche Worte bei Strafe untersagt!. Ich hielt lieber den Mund. Nicht fluchen und auch sonst besser keine Aufmerksamkeit erregen – ausgerechnet als Gaukler! Im Geiste klopfte ich meine Bühnenroutine nach Schimpfwörtern ab. Ich hatte keine Lust, schon wieder davongejagt zu werden.

In der Dämmerung wurde das Fest in den Schein hunderter Öllampen getaucht, die an Seilen kreuz und Quer über die Straßen gespannt waren.
Wir sahen Essensstände, an denen es aus Kohlrüben zusammengebastelte Ersatz-Spanferkel gab und Schießbuden, an denen man statt mit Pfeilen die Ziele mit harmlosen Wattebällchen treffen sollte. Ein großes Schild warnte die Freizeitschützen, dass „Schießen nach wie vor ein Akt der Gewalt“ und „kritisch zu hinterfragen“ sei.
Den berühmten Saumagen mit Fleischklößen bereitete man nicht mehr zu, stattdessen aßen wir etwas von dem Kohlrübenferkel - immerhin machte es satt.
Schließlich suchten wir uns einen Platz zum Übernachten.
Nach einer Herberge hielten wir gar nicht erst Ausschau, wahrscheinlich wären die meisten sowieso zu teuer oder ausgebucht gewesen. Aber fahrendem Volk wie uns lag es ja im Blut, im Freien zu nächtigen. Also stellten wir den Wagen in eine Seitengasse, gaben dem Zugtier noch einmal Wasser und Heu und machten es uns so gut es ging gemütlich. Hooo hatte sich auf dem Kutschbock zusammengerollt und schnarchte schon nach kurzer Zeit. Ich hatte mich auf der Ladefläche zwischen die Fässer geklemmt und meinen Hut an die Seite gesteckt. Das Affenkostüm rollte ich zu einer Unterlage zusammen.
Jeder, der ein warmes Bett gewohnt war, hätte so kein Auge zumachen können. Aber ich hatte schon einmal im Maul eines Drachenebers mit Mundgeruch übernachten müssen, also würde ich auch hiermit klarkommen.
Wenn nur das Rascheln nicht gewesen wäre.
Es kam aus der Kiste mit den Flatterlingen.
Was immer das für Geschöpfe waren, sie waren offenbar nachtaktiv.
Ich verrenkte meinen Kopf, um einen Blick auf deren Kiste zu werfen. Die Kiste war von oben bis unten verrammelt, nur an einer Seite waren mehrere Luftlöcher hineingebohrt.
Sah ich da einen schwachen, violetten Schimmer aus den Löchern hervordringen?
Das Flattern ertönte.
Ich sah etwas hinter den Löchern aufblitzen. Eindeutig, im Innern bewegte sich etwas, das ein zartes Leuchten von sich gab.
Das violette Leuchten rahmte plötzlich eines der Löcher ein, als das Licht an dessen Innenseite gestrahlt wurde. Ein winziges Ärmchen, dürr wie der Stiel eines Blattes, wurde ins Freie gestreckt. Das Händchen am Ende des Arms schien in der Luft nach etwas Unsichtbarem zu tasten. Oder war das ein Winken? Ich verrenkte mich noch weiter, bis es nicht mehr ging.
Ich streckte meine Finger dem Händchen entgegen.
Es umschloss die Spitze meines Zeigefingers.
Ich meinte, ein hauchfeines Kitzeln zu vernehmen, doch vielleicht war es nur die Einbildung eines Traumes, genau wie die Gliedmaße selbst. Ich betrachtete das Ärmchen: Es war so zart und dünn, dass man durch es hindurchsehen konnte, als bestünde es aus Morgennebel. Feine Äderchen leuchteten in seinem Inneren, die Quelle des Lichtschimmers. Ich bewegte meinen Finger in kleinen Kreisen, um zu sehen, ob ihm das Händchen folgen würde.
Es tat es.
Dann versetzte ich dem Händchen einen sanften Stups, so schwach, dass er kaum ein Gänseblümchen zum Erzittern gebracht hätte.
Schneller als ich schauen konnte wurde das Ärmchen in das Loch zurückgezogen.
Wieder erklang ein Flattern, dann war es still.
Ich behielt die Kiste noch eine Weile im Auge, bis meine Körperhaltung unerträglich wurde. Ich drehte mich wieder in meine Schlafposition und beschloss, mich am kommenden Tage einfach davon überraschen zu lassen, wenn mein Gefährte sein Kunststück vorführte.

Den nächsten Tag ließen wir gemächlich angehen.
Wir krochen am späten Vormittag aus unseren Kojen und schlenderten an den Essensbuden entlang, wo wir hier und da die günstigsten Happen zusammensammelten, bis wir ein annehmbares Frühstück in den Bäuchen hatten.
Hooo sah die Prunkbauten aus leuchtendem Marmor nun erstmals bei Tageslicht. Vor lauter Staunen bekam er sein Maul nicht mehr zu.
„Guck mal, Kiileon! Wie groß und sauber die das hier gemacht haben! Und was für lustige Sachen die Leute hier anhaben!“
„Naja“, entgegnete ich, „viele von diesen bunten Vögeln kommen von auswärts. Ich glaube, die meisten von denen würden daheim ziemlich auffallen, und darum kommen sie her, wo jeder auffällt und dadurch niemand mehr.“
„Jaaa“, seufzte Hooo. „Wenn ich sonst wo hinkomm, hören die Leute immer mit Reden auf und gucken mich erstmal komisch an. Aber die hier machen das nicht so. Das ist schööön!“
Da gab ich ihm Recht. Auch ich war ein Narr, auch ich lebte von den Blicken des Publikums.
Aber irgendwann blieben die Blicke an einem hängen, in der Kleidung, auf der Haut, und man konnte sie nicht mehr abwaschen, selbst wenn man sein Kostüm längst abgestreift hatte. Dann blieb man ein Narr. Ich hatte mir diesen Weg selbst ausgewählt, aber mein Gefährte hier hatte die meisten schrägen Blicke sicher unfreiwillig abgekommen.
„Stimmt. Hier sind wir unsichtbar.“
Fast schon mit Vergnügen beobachtete ich Hooo, wie er das Fest in sich einsog.
Als die Mittagsstunde kam, schallte Glockengeläut durch die Straße.
Ein Ausrufer in einer Uniform verkündete:
„An alle Künstler des Gesangs, des Tanzes und des Späßemachens: Heute bei Sonnenuntergang wird die Hauptbühne auf dem Platz der Liebe für euch eröffnet. Für alle, die Brangh zum ersten Mal besuchen: Das ist der Platz vor unserer großen Kuppel. Früheren Besuchern mag er noch unter seinem alten Namen Exekutionsplatz geläufig sein. Eilt schnell, denn wer früher da ist, kommt auch früher dran!“
„Duu, ich glaub' der meint uns!“, sagte Hooo.
In der Tat. Zeit, wieder sichtbar zu werden und Geld zu verdienen!
Wir setzten uns in Bewegung, um den Ochsenkarren zu holen, denn den brauchte Hooo für sein Kunststück. Ich trug zwar schon alles, was ich für meinen Auftritt brauchte, in meinem Beutel, aber ich wollte nicht wieder ohne Gesellschaft sein. Also begleitete ich Hooo.
Wir hätten den Platz der Liebe deutlich rascher erreicht, wenn nicht überall Leute die Straßen verstopft hätten.
Nach langem Gequetsche und Gedränge gelangten wir zum Hauptplatz.
Wir standen in einem Meer aus Menschen und anderen fühlenden Wesen. Die Sonne senkte sich wodurch der Schatten der gewaltigen Kuppel wie die Vorhut der Nacht bereits den halben Platz vereinnahmt hatte. Im Schatten stand eine Bühne. Sie wirkte vor dem Bauwerk lächerlich klein, doch als der Zeremonienmeister die Bühnenbretter betrat, erkannte man, wie ausladend sie tatsächlich war. Der Zeremonienmeister hielt einen Sprachtrichter an den Mund und rief:
„Meine Damen und Herren, Fräuleins und Edelmänner! Wir fühlen uns geehrt, Euch alle friedlich auf dem Platz der Liebe vereint zu sehen, wo wir mit Lachen und Musik Vielfalt und Einigkeit feiern und wo wir friedlich ...“ Und so weiter, und so weiter.
„Ich glaube, da müssen wir rauf“, sagte ich zu meinem Begleiter und zeigte zu einer Warteschlange, die eine große Rampe hinaufführte.
Ich sprang vom Karren und stellte mich ans Ende der Schlange. Hooo platzierte seinen Wagen direkt hinter mir.
Die Schlange erschien endlos.
Ich ließ meinen Blick über die Menge schweifen. Das Gedränge war noch enger als auf den anderen Plätzen. Natürlich, denn die Auftritte waren der Höhepunkt, die meisten würden einen Blick auf die Bühne werfen wollen.
Gut!
Wenn mir nur jeder Zehnte von ihnen eine Münze in den Hut werfen würde, könnte ich mir endlich ein anständiges Mahl und ein gemütliches Nachtlager leisten.
Dann kamen mir plötzlich die Rogruuhs in den Sinn.
Schlecht.
Denn wenn die sich unter die Zuschauer mischten, während ich gerade auf der Bühne stand, oder sie mich auch nur hier auf der Rampe erblicken würden, dann hätte ich sie sicherlich am Hals. Aber keinen Auftritt hinlegen und wieder hungern? Keinesfalls! Ich überlegte kurz, dann kam mir eine Idee.
„Ich bereite mich schon mal auf meinen Auftritt vor“, erklärte ich Hooo.
„Ahjaaa.“
Ich holte das Affenkostüm aus meinem Beutel. Ich durfte ja nicht als Affe auftreten, aber das wäre sowieso unter meiner Würde gewesen. Also drehte ich den Affen nach links, so dass das Wollfutter zum Vorschein kam. Ich stülpte mir das Ding über den Kopf – die Augenlöcher saßen halbwegs an der richtigen Stelle. Der Rest war mir zu klein, also ließ ich ihn wie einen zerfledderten Umhang am Rücken hinab hängen.
Die Tarnung war fertig.
Als ich die Augenlöcher noch einmal zurechtrückte, sah ich einen kleinen, fülligen Wachmann, der seitlich neben der Rampe stand. Auch er hatte einen rosa Wattebüschel auf dem Helm und eine Hellebarde in der Hand. Er blickte mich an, so als wolle er gleich etwas sagen, tat es aber nicht.
Dann hieß es lange warten.
Der Himmel war schon dunkelblau, als die Gauklerin vor mir – eine junge Frühlingsnymphe – mit ihren Verwandlungskunststücken durch war. Die Menge johlte und klatschte. Der Münzsack, der während eines jeden Auftritts durch das Publikum gereicht und am Schluss über einen kleinen Flaschenzug auf die Bühne gehievt wurde, entleerte sich mit einem fröhlichen Klimpern. Die Nymphe hielt ihre Tasche auf, bis das Klimpern zu Ende war, und tänzelte dann Luftküsse verteilend über die rückwärtige Rampe von der Bühne hinunter.
„Das war ganz famos!“, rief der Zeremonienmeister. „Applaus, Applaus!“
Endlich war ich an der Reihe.
Der Zeremonienmeister kam mit einem breiten Grinsen auf mich zu, wobei seine Augen mein Kostüm musterten.
„Und welchen Künstler darf ich unserem Publikum als nächstes vorstellen?“
Ich bin Kii... Flap. Ich bin Flap, der Possenreißer.“
Der Zeremonienmeister legte mir eine Hand auf den Rücken und schob mich ins Rampenlicht. Die Menge begrüßte mich mit Beifall.
„Kiflap, der Possenreißer! Wir sind sehr auf deine Possen gespannt!“
Ich legte meinen Beutel ab und sah in die Zuschauermenge.
Als erstes wollte ich die Stimmung mit ein paar Witzen ausloten.
Und da stand ja auch wieder der Wachmann. Er visierte mich an. Hatte er mich etwa die ganze Zeit verfolgt? Im Schein der Öllampen sah sein grimmiges Gesicht aus wie ein Ballon, dem es unter keinen Umständen gestattet war, zu platzen.
„Hey, hallo! Ich freue mich, hier zu sein! Ja, Brangh! Tolle Stadt! Ich war früher schon mal hier, da gab es noch diesen berühmten Saumagen. Für alle, die sich fragen, was das ist: Das ist das Fleisch von einer Sau, das ihr in den eigenen Magen gestopft wird. Und Brangh war auch berühmt für seine schönen Dirnen, da hatte ich auch mal eine. Die war auch ziemlich versaut. In den Magen hab' ich der aber nichts gestopft …“
Ein paar Lacher aus dem Publikum, Gehüstel.
Eine Trillerpfeife schrillte. Es war der Wachmann.
„Hey, Ihr! Ihr wisst, dass nichts hier tierisches Fleisch enthalten darf! Weder das Essen noch die Witze! Ändert Euren Humor, oder es gibt eine Verwarnung!“
Ich wollte schon mit einer Spitze gegen das aufgeplusterte Männchen kontern, schluckte sie aber anbetracht der Situation herunter.
„Aber … Gut, einverstanden. Ihr habt's gehört Leute, ich muss meine Witze leider wieder einpacken. Dann ist es Zeit für ein bisschen Kunstturnen!“
Ich zog meine Jonglierbälle hervor, jonglierte erst mit Zweien, warf ohne zu unterbrechen einen Dritten mit ein und so fort bis alle acht im Kreis wirbelten.
Zurückhaltendes Klatschen.
Und jetzt noch die Tanzeinlage. Ich vollführte Purzelbäume und einen Salto, mitten durch den Ring aus wirbelnden Bällen, ohne, dass dieser auch nur für einen Augenblick aus der Bahn geriet.
Wogender Beifall!
Doch ganz umgänglich, das Publikum, dachte ich.
Die Trillerpfeife zerschnitt die Stimmung. Ich ließ doch tatsächlich einen der Bälle fallen, dann die anderen.
„Jetzt kapier' ich, was Ihr hier die ganze Zeit treibt!“, rief der Wachmann, wobei das rosa Wattebüschel wie ein erregter Vogel zitterte.
„Das Kostüm! Das Rumgespringe! Wusst' ich's doch gleich! Ihr äfft den Trächtigkeitstanz der Wollmolche nach!“
Das Klatschen erstarb.
Ich musste mich erst sammeln, dann sagte ich:
„Was? Was zum Kuckuck ist denn bitte ein Wollmolch?!“
„Ein stolzes Volk aus dem Norden! Das es sicher nicht mag, wenn Ihr Euch über seine Traditionen lustig macht! Wenn das einer von denen sehen würde!“
Jemand in der ersten Reihe räusperte sich. Eine kleine, pelzige Gestalt mit Glupschaugen meldete sich zu Wort.
„Also, ich habe es gesehen, und ...“
Die Wache schaute zu der Gestalt, dann wieder zu mir:
„Da habt Ihr's! Ihr habt die Leute von diesem Mann und damit ihn selbst zutiefst gedemütigt!“
Die Gestalt zuckte mit den Achseln. „Also ich wollte die Kunststücke eigentlich gern zu Ende ...“
Der Wachmann warf der Gestalt einen giftigen Blick zu, und brüllte zu mir hoch:
„Egal! Das hier ist ein Friedensfest. Frie-dens-fest! Hier geht es um Liebe und Harmonie, verdullichnocheins! Zieht sofort das Kostüm aus und dann runter von der Bühne, damit ich Eure Personalien aufnehmen kann!“
Das Publikum pfiff und buhte gegen mich. „Hasshetzer!“, brüllte eine Stimme im Hintergrund.
Der Zeremonienmeister quälte sich zu einem Lächeln.
„Leute, ich fürchte, wir müssen unser Programm mal eben kurz unterbrechen, bis dieses kleine … Missverständnis geklärt ist!“
Doch was ich hörte war nicht so beunruhigend wie das, was ich in diesem Moment erblickte.
Im Zwielicht sah ich die Umrisse der Zuschauer. Drei davon stachen heraus.
Drei große, kantige Silhouetten, die in dicken Ogerfellen steckten.
Die Rogruuhs.
In der Mengen wirkten sie wie Geier, die in einen Papageienschwarm geraten waren.
„Aber Herr Wachmann, das ist doch alles rein dienstlich!“
„Papperlapapp! Ich zähle bis drei!“
Derweil waren noch zwei seiner Kollegen hinzugetreten, die wohl durch die Trillerpfeife alarmiert worden waren.
„Was ist denn hier los? Wieso hast du getrillert?“
„Dieser Gaukler hat vor aller Augen einen Wollmolch nachgeäfft!“
Was war schlimmer? Das Kostüm abzulegen und später vielleicht von den Rogruuhs verfolgt zu werden, oder es anzulassen und jetzt gleich ganz sicher von den Wachen verhaftet zu werden?
Ich schielte zu den Rogruuhs. Sie glotzten alle drei zur Bühne. Ich dachte an die Geschichten, die die wenigen Überlebenden eines Rogruuhangriffs erzählt hatten und was dabei alles mit ihren Weichteilen angestellt wurde.
Verflucht … Ich entschied mich für die Wachen. Die würde ich vielleicht irgendwie bequatschen können, allein schon, weil sie mehr Worte kannten.
„Gut, gut! Ich füge mich!“
Ich kletterte an der Front der Bühne hinunter und striff das olle Kostüm ab. Noch während ich es in meinen Beutel zurückstopfte, umringten mich die Wachen.
„Wir wollen Euren Namen und Euren Wohnort! Wie lange seid Ihr schon in der Stadt und wie lange habt Ihr vor zu bleiben?“
Sollte ich mitspielen oder mit ihnen spielen?
„Mein Name ist Flap, mein Wohnort ist die weite Welt, bin seit gestern hier und wäre am liebsten schon wieder weg.“
Die Wachen hatten immer noch keinen Humor. Während der kleine Wachmann auf mich einschimpfte, hörte ich Hufgeklapper und das Knarzen eines Fuhrwerks oben auf der Bühne. Der Zeremonienmeister fragte nach dem Namen des nächsten Künstlers. Eine monotone Stimme quakte etwas.
Der Zeremonienmeister rief:
„Applaus für Hooo aus Unkwunk! Die Bühne gehört Euch!“
Die Leute um mich herum ließen mit den bösen Blicken von mir ab und richteten ihre Augen gen Bühne. Auch ich drehte mich dorthin, weil ich endlich Hooos Kunststück sehen wollte. Die Wachen hielten mich fest.
„Hiergeblieben!“
Eine eiserne Hand umklammerte meinen Oberarm.
„Keine Sorge, ich laufe nicht weg ...“
„Also zum letzten Mal: Wer seid Ihr und was macht Ihr hier?“
Ich war Verhöre gewöhnt, also ließ ich meinen Mund das Übliche reden, während meine Augen dem Spektakel folgten.
Hooo schleppte die Kisten von seinem Karren auf die Bühne, dann eines der Fässer. Als letztes stellte er eine kleine Metallschale daneben und entzündete darin ein Feuer. In das Feuer legte er einen Stab, der wie eine kleine Fackel aussah.
Die Zuschauer waren mucksmäuschenstill.
Hooo öffnete das Fass, steckte seinen Kopf hinein und schien einen kräftigen Schluck daraus zu nehmen. Als er sich wieder aufrichtete, sah man aber, dass die Backen um sein Froschmaul herum dick waren wie die eines Eichhörnchens beim Nüssesammeln. Dann stemmte er den Deckel von einer der Kisten auf und griff mit einer Flinkheit hinein, die ich ihm nicht zugetraut hätte. Aus der Kiste drang ein violettes Leuchten.
Zwei geflügelte Wesen flitzten daraus hervor und flatterten benommen vom Schein der Lichter umher.
Zwei Fliederfeenweibchen!
Das Licht, das sie ausendeten, ließ sie in der Dämmerung zu zwei leuchtenden Kugeln werden, die Irrlichtern gleich durch die Luft tanzten. Doch sie konnten nicht weg. Jedes hatte an einem seiner Beinchen eine Schnur hängen, deren andere Enden Hooo in den Fäusten hielt.
Die Zuschauer wurden unruhig.
Hooo nahm beide Schnüre in eine Hand und tapste zu den anderen beiden Kisten. Er schob erst den Deckel der einen, dann den der anderen hinunter. Sein Gesicht wurde von einem blauen Flackern angeleuchtet, das aus den Kisten drang, dann trat er beiseite.
Aus jeder Kiste schoss je ein Schwarm aus dutzenden Fliederfeen. Ihr blaues Glimmen verriet, dass diese hier alles Männchen waren.
Die Schwärme umkreisten sich gegenseitig und schraubten sich in zwei leuchtenden Spiralen in den Nachthimmel.
Hooo grinste vergnügt. Er verteilte die Schnüre wieder auf beide Hände.
Als die Schwärme sich gerade daran machten, gen Himmel zu entfliehen, zog Hooo die Schnüre mehrmals hintereinander. Bei jedem Ruck wippten die Weibchen auf und nieder.
Jetzt hatten die Männchen sie entdeckt.
Hooo zog die Weibchen zur einen Ecke der Bühne. Wie blaue Bänder folgten ihnen die Schwärme.
Dann rannte Hooo auf seinen Stummelbeinen los, hin zur gegenüberliegenden Ecke. Ich staunte, wie geschickt er währenddem die beiden Schnüre dirigierte, jede auf einer eigenen Flugbahn, so als würde er im Sturm zwei Drachen steigen lassen.
Die Männchen folgten allen seinen Bewegungen.
So ging das mehrmals hin und her: Hooo tollte über die Bühne und malte kunstvolle Formen aus den leuchtenden Bändern.
Er ließ sie Bögen und Kreise ziehen, ließ jeden Schwarm eine gegenläufige Spirale drehen, um beide Schwärme anschließend wieder zu vereinen, dann teilte er sie wieder, wie die Wogen eines Meeres.
Das Einzige, was er wirklich gut kann.
Obwohl Hooos Gesicht langsam dunkel wurde vor Anstrengung, strahlte er wie ein Kind. Hätte er die Backen nicht voll gehabt, er hätte sicherlich gejauchzt. Er zeichnete mit den blauen Bändern zwei sich immer schneller drehende Spiralen in den Nachthimmel. Das Publikum starrte mit geweiteten Augen in die Spiralen hinein, sei es aus Staunen oder aus Entsetzen.
„Tierquälerei!“, tuschelte eine Zuschauerin.
Auch die Wachmänner hatten das Verhör unterbrochen und glotzten nach oben.
Ich blickte ungläubig zu meinem Gefährten. Wie lange würde er die Backen noch halten können? Rinnsale einer Flüssigkeit glitzerten unter seinen Mundwinkeln.
Als die Spiralen schwindelerregend schnell rotierten, hopste er in die Bühnenmitte, wirbelte die Schnüre herum, so dass das eine Weibchen nach rechts und das andere nach links geschleudert wurde.
Hooo stand nun neben der Feuerschale.
Genau in dem Moment, in dem die durchgeschüttelten Weibchen auf einem Fleck umherflatterten und sich jeder der Schwärme auf eines von ihnen hinabstürzte, ließ Hooo beide Schnüre los und packte die Fackel aus der Schale.
Die Weibchen entflohen nach oben, die Männchen hinterher.
Von Weitem sah das Getümmel aus Feenleibern aus wie die Flügel eines riesigen, leuchtenden Schmetterlings; auf jeder Seite ein blauer Schwarm, der zu einem violetten Punkt am Himmel emporwuchs.
Hooo legte den Kopf in den Nacken und hielt sich die Fackel vor den Mund.
Nein!, dachte ich. Tu's nicht!
Doch Hooo tat es.
Er prustete das Öl in die Flamme.
Die kleinen Wesen waren nicht nur so zwart wie trockenes Herbstlaub, sie brannten auch genauso gut.
Die Körperchen der Feen, die es noch nicht so weit nach oben geschafft hatten, wurden verzehrt vom Feuerstrahl. Der Strahl teilte sich in zwei große Feuerbälle. Der eine fraß den Schwarm auf der rechten, der andere den auf der linken Seite. Der gesamte Platz war taghell erleuchtet. Das Licht offenbarte die erschrockenen Gesichter der Zuschauer. Ich meinte, einen unhörbaren Schrei aus den Flammen zu vernehmen. Nur einen Augenblick später wurden die Feuerbälle zu dunkelroten Rauchwolken. Die Fluchtbewegungen der letzten brennenden Feen schrieben glühende Unheilszeichen ins Dunkel. Der Rauch vereinte sich mit dem Nachthimmel.
Dann herrschte Stille.
Der Zeremonienmeister hatte seinen Sprachtrichter fallen gelassen und war zu einem Denkmal des Entsetzens erstarrt. Die Wachmänner hatten mich jetzt völlig vergessen und stierten in den Himmel. Glühende Flügelfetzen und verkohlte Beinchen schneiten auf die Menge.
Hooo schaute auch in den Himmel. Er war wohl der einzige auf dem gesamten Platz, der lächelte.
„Schöööön …“ säuselte er und gluckste vergnügt. Dann drehte er seinen Kopf zum Publikum.
Er brauchte eine Weile um zu merken, dass niemand zurücklächelte.
In der Menge brodelte es. Das Brodeln wurde zu einem Kochen.
Eine Welle aus Zornesrufen und Unflätigkeiten brandete gegen die Bühne.
Hooos Grinsen fiel in sich zusammen. Die Masse setzte sich in Bewegung.
Die ersten versuchten, auf die Bühne emporzuklettern. Hooo versteinerte.
„Aber … das war doch schön! Schön war das!“, rief er.
Der Griff des Wachmanns um meinen Arm löste sich, als dieser wie seine Kollegen die Hellebarde in beide Hände nahm. Ich ließ mich zu Boden fallen und schlüpfte unter den O-Beinen des größten Wachmanns hindurch. Mich durch die Menge zu wieseln, die nun auf Hooo zu marschierte, verlangsamte mich trotz meiner Wendigkeit.
Ich blickte zurück, ob mich die Wachen verfolgten. Nein, sie waren eins mit der Meute geworden und versuchten ebenfalls, zur Bühne vorzudringen.
Über die Rampe mit den Wartenden sah ich einen weiteren Wachtrupp herbeistiefeln. Auch diese Wachen sahen sehr entschlossen aus, stießen aber immer wieder gegen die Wartenden und deren Koffer und Wägen.
Konnte ich Hooo irgendwie helfen?
Leider nein.
Da kollidierte ich mit etwas, das sich anfühlte wie eine pelzbewachsene Steinmauer. Es müffelte nach Ogerfell. Ich sah nach vorne – ich war mit einem der Rogruuhs zusammengestoßen.
Keiner der Drei hatte mich gesehen. Sie schienen mich durch den Tumult aus den Augen verloren zu haben. Sie standen wie Felsen in der sich bewegenden Masse und glotzen tumb umher.
Gespürt hatte er meinen Aufprall auch nicht, ich war ein Fliegengewicht gegen diesen Klotz.
Mir kam eine Eingebung. Wozu war ich denn ein gefeierter Stimmenimitator?
Ich tastete mich wieder ein Stück zum Wachtrupp zurück, der kaum vom Fleck gekommen war und bellte wie aus einer rohgruuhtypischen Kehle:
„Ha-haa, guckt mal, die Wachen tragen die vollgebluteten Wattetampons von ihren Müttern auf dem Helm!“
Die Rogruuhs guckten sich gegenseitig blöde an, als jeder dachte, der andere hätte das gerufen. Blitzschnell duckte ich mich und zwängte mich an einer überaus wohlgenährten Dame vorbei, die vom Rest der Menge zwischen mich und die Rogruuhs geschoben wurde.
Die Wachen guckten auch blöde, und zwar zu den Rogruuhs.
„Wie bitte?!“ Der Wachmann, der mich von der Bühne zitiert hatte, schleuderte einen Zornesblick zum Ober-Rogruuh hinauf und riss seine Hellebarde herum.
Hätte er sich gleich wieder seiner eigentlichen Aufgabe – der Festsetzung eines Feenschänders – gewidmet? Ich denke schon.
Hätten ihn die Rogruuhs ignoriert, wenn sie ihn nicht für eine Bedrohung gehalten hätten, so, wie sie es immer taten? Sicherlich.
Hätten sie sofort mit aller Gewalt zugeschlagen, wenn sie ihn auch nur ein klitzekleines bisschen als Bedrohung wahrgenommen hätten, wie es auch ihre Art war? Sahen sie einen vorlauten Korinthenkacker mit einer Waffe als Bedrohung an? Ja, ganz eindeutig!
Der Ober-Rogruuh schaute auf die Hellebarde, dann auf das Wachmännchen. Dann grunzte er, drückte einen Zuschauer beiseite und riss einen Morgenstern unter dem Fellmantel hervor.
Der erste Hieb schmetterte die Hellebarde zur Seite. Der überraschte Wachmann hob schützend seine Hand - der zweite Hieb zertrümmerte den Armpanzer.
Ein hässliches Geräusch.
Der Wachmann stöhnte. Seine Kollegen rissen ihre Hellebarden ebenfalls herum. Die anderen Rogruuhs hatten jetzt auch ihre Waffen gezückt.
Die Zuschauer neben ihnen stockten und zogen die Köpfe ein.
Der vorderste Rogruuh holte abermals aus – und traf dabei eine hochgewachsene Frau an der Schläfe. Die Frau brach zusammen. Schreie ertönten.
Ich band mir meinen Beutel, den die Wachen zum Glück nicht konfisziert hatten, an den Gürtel und sprang einem stämmigen Mann auf den Rücken.
Noch ehe dieser „Hey! Runter da!“ gerufen hatte, hatte ich mich über seine Schulter an den Pfahl einer Öllaterne geschwungen und war daran emporgeklettert. Von unten her vernahm ich Gebrüll und Gegrunze. Klingen klirrten.
Der andere Wachtrupp war von der Rampe in die Menge gesprungen, um seinen Kollegen beizustehen, blieb aber im Getümmel stecken.
Die Zuschauer stürmten nicht mehr zur Bühne, sondern versuchten nur noch der Gewalt zu entfliehen.
Die Wachen teilten Stiche aus, einer der Rogruuhs sackte nach unten, dann ein Zweiter.
Wussten die Wachleute von Brangh nach all der Friedfertigkeit noch, wie ein Gemetzel ging?
Sie wussten es noch.
Von der Laterne aus war ein Seil mit kleinen Öllämpchen bis zur Bühne gespannt. Ich hangelte mich daran entlang, über das Gewirr aus panischen Gesichtern hinweg.
Auf der Bühne stand immer noch Hooo, gerade als hätte man seine Schuhe am Boden festgeleimt. Seine Knie hingen durch, sein zusammengepresstes Froschmaul bebte. Tränen quollen aus seinen Augen.
„Wie... wieso sind die so böse zu mir?“ wimmerte er, als ich auf den Brettern landete.
Ich packte ihn am Arm und zog ihn in Richtung der rückwärtigen Rampe.
„Sei froh, dass sie jetzt von ihrem Lynchmanöver abgelenkt sind! Und vergiss deinen Wagen, wir müssen rennen!“
Zum Glück war die hintere Rampe menschenleer und vom Zuschauerbereich abgeschirmt.
Während wir liefen, echoten die Schreie vom Platz der Liebe an den Häuserwänden entlang.
Ich suchte einen Weg durch verwinkelte Gassen, um den Trubel der Hauptstraßen zu meiden.
Irgendwann kam ein kleines Nebentor in der Stadtmauer in Sicht.
Ich zerrte Hooo in eine verlassene Hofeinfahrt. Der arme Kerl stützte sich auf die Knie, abwechselnd flennend und keuchend.
Ich richtete ihn auf und nagelte ihn mit meinem Blick fest.
„Jetzt hör zu! Die Wachen an dem Tor da wissen noch nicht, was vorhin auf dem Hauptplatz passiert ist. Und wenn ihre Kollegen sie später fragen, ob sie einen gesehen haben, der aussah wie der Feenanzünder, sollten sie mit 'Nein' antworten, sonst verfolgt uns vielleicht ein Trupp bis ins Umland. Darum musst du dich verstecken!“
Hooo schniefte. „Ja wie?“
Eine interessante Frage. Zum zweiten Mal an diesem Abend war die Antwort das Affenkostüm. Mir hatte es Ärger eingehandelt, Hooo würde es hoffentlich helfen.
Ich zog es aus meinem Beutel, drehte es wieder auf die richtige Seite, gemahnte meinem Kumpan still zu halten und zog es ihm über. Seiner Statur passte es deutlich besser als meiner, obgleich es etwas straff saß. Doch es war Tarnung genug im Halbdunkel der Nacht.
„Jetzt sag nix und folge mir!“
Hinaus ging es erfreulich leicht.
Die gelangweilten Wachen am Nebentor, zwei junge Kerle, die noch nicht in ihre Harnische hineingewachsen waren, winkten uns mit einem „Hmm!“ aus der Stadt hinaus.
Die erste Hälfte der Nacht wanderten wir ohne Pause, immer weiter.
Hooo redete in dieser Zeit kaum. Er behielt auch das Kostüm an, so als wolle er sich darin verkriechen.
Die zweite Nachthälfte verbrachten wir in der Ruine einer alten Scheune, wo wir hungrig und müde neben einem Lagerfeuer in den Schlaf fielen.
Am nächsten Tag entdeckten wir ein Gasthaus.
In dessen Stube verdiente ich uns mit meinen Späßen und Kunststückchen einen Krug Most und warmes Essen.
Wie es der Zufall wollte, befand sich unter den anderen Gästen auch ein Leierkastenspieler, dessen Meerkatze kürzlich entflohen war. Als er Hooo im Kostüm sah, fragte er mich, was ich für meinen Affen haben wollte. Ich klärte die Situation, doch der Leierkastenspieler blieb interessiert.
„Vielleicht noch besser als'n echter Aff'“, meinte er, „mit dem kamma besser reden … also, wenner mal redet!“
Sicher, Hooo hatte sich seine Weiterreise bestimmt anders vorgestellt. Oder sein Leben.
Aber sollte ich ihm sich selbst überlassen? Nach dem, was er erlebt hatte? Lustig zur Musik zu tanzen und einen Hut herumzureichen war doch besser, als zu verhungern oder gelyncht zu werden, sagte ich mir.
Also überredete ich Hooo, das Angebot anzunehmen.
Er seufzte nur und sagte schließlich: „Haja, guuut.“
Danach trennten sich unsere Wege.
Ich zog weiter nach Tilderuk, wo ich das altehrwürdige Orakel zur Verzweiflung brachte, doch wohin es meinen Reisegefährten verschlagen hatte, sollte ich nicht erfahren.
War er heute immer noch ein Leierkastenäffchen?
Oder hat er sich auf die Bühne zurückgewagt, als Spaßmacher, um sich vielleicht doch noch im Applaus zu wärmen wie in einem Sommerregen?
Manchmal muss ich noch an ihn denken.

 

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