Mitglied
- Beitritt
- 16.02.2010
- Beiträge
- 22
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 7
Der Spürhund
Wo der Kiesweg anfängt, hört die neue Welt auf. Ich betrete ihn vorsichtig, jemand könnte lauern, mich beobachten. Er könnte aufschreiben, dass ich flüchte, dieser Jemand. Das könnte er. Ein Bein vor das andere. Nur keinen Zweig zerbrechen. Die liegen hier überall auf dem Boden herum. Nur nicht drauftreten. Kein Lärm. Ich weiß nicht, ob hier auch Wanzen sind. Ich weiß nicht, ob sie mich belauschen können. Doch ich schweige. Das habe ich gelernt in all den Jahren. Wer in der Porzellankiste sitzt, sollte schweigen. Ein fürchterlicher Wind weht. Das haben wir nicht. Bei uns ist es immer warm. Ach, was rede ich. ‚Bei uns’! Das ist Vergangenheit. Hier, in der alten Welt, vor meinen Füßen liegt die Zukunft. Nichts hält mich noch hinter mir, nichts wird mich zurückbringen.
Wenn ich vorsichtig bin, kann ich es schaffen. Vorsichtig. Meinen Bruder haben sie erschlagen. Er liegt irgendwo an der Grenze, ganz verschneit. Frostige Gliedmaßen waren das einzige, was von ihm übrig geblieben war, als ich ihn das letzte Mal besucht habe. Peinlich. Sie durften nichts merken. Eine einzelne Rose habe ich ihm in seine starre Hand gedrückt. So farblos musste sein Tod wirklich nicht sein, das hatte er nicht verdient. Eine Rose ist rot und spendet Leben, ich habe sie aus dem verbotenen Garten gestohlen, wo sie einem nur die Dornen an den Blumen zeigen, und sagen, das ist es nicht wert. Ich habe ihm die Rose in seine kalte Hand gedrückt, meinem Bruder, und ihm gesagt, dass ich ihn immer gemocht habe. Vergiss den Streit, habe ich gesagt, vergiss den Streit, den wir hatten, wegen dem du weggelaufen bist. Ich habe dich immer gemocht, vergiss alles, nur das nicht. Und dann kamen sie. Wie Hetzhunde fielen sie über mich her. Ich dachte, mein Ende ist gekommen, doch es waren nur Wölfe von der anderen Seite der Insel. Ich erschoss sie alle, gutes Futter, reichte bestimmt für drei Wochen, die ich bei meinem Bruder verbrachte. Er verzieh mir in dieser Zeit, das erkannte ich an seinem Gesichtsausdruck, als ich wieder fortging, es war wärmer, sein Gesicht sah freundlicher aus, als wenn es sagen wollte, danke für den Tod, danke. Er lebt jetzt irgendwo anders, wo es besser ist, nicht so kalt. Arbeiten. Sie wollen nicht, dass ich arbeite, ich habe einen aufmüpfigen Bruder. Den soll ich erst einmal zur Vernunft bringen, dann könnte man darüber reden, was aus mir wird. Sie reden immer so, obwohl sie genau wissen, dass er tot ist, sie haben ihn ja schließlich umgebracht. Aber sie tun so. Als wäre nichts geschehen. Sie haben mich verlassen, ausgestoßen, meinen Pass haben sie mir auch entzogen, vor ungefähr einem Jahr. Ungültig haben sie gesagt, und damit meinten sie nicht nur den Papierfetzen und das Foto darauf. Ein Leben hat keinen Wert, wenn Du nicht auf Zack bist. Wenn Du nicht pausenlos kreativ, ehrgeizig und geradezu süchtig nach Erfolg bist, hast du keinen Wert, schieben sie Dich ab und sagen, bessere Dich oder stirb. Letzteres ist ihnen meistens lieber. Ein Leben hat keinen Wert, denn es gibt Millionen andere, die Dich ersetzen können, jede Stunde, jede Minute wird Leben neu geboren und gleichzeitig abgestoßen wie alte faule Äste, die man vom Baum abschneidet und durch neue ersetzt, anstatt sie zu pflegen. Hier in der Halbwelt ist das Leben noch erträglich, schlimm wird es draußen, in der Natur, obwohl einige sagen, das ist die einzige Rettung. Vielleicht stimmt es sogar. Warum sollten sie uns sonst verbieten, in die alte Welt zu flüchten, wenn dort der Tod auf uns lauert, hätten sie sich doch Arbeit gespart, bräuchten sie uns nicht mehr zu überwachen.
Bloß keinen Ast zerbrechen. Der könnte knacken. Und wie ein Knacken am anderen Ende einer Wanze klingen kann, das weiß ich nur zu gut, sie spielen es einem immer vor, wie eine Störung in der Leitung, so klingt ein Verbrechen, von Geburt an hört man dieses Geräusch und nichts anderes, bis man es kapiert hat und sich davor fürchtet wie vor seinem eigenen Tod. Jetzt hört der Weg auf, obwohl er eigentlich weiter gehen sollte, in die Ewigkeit der Freiheit, und ich frage mich, warum, es hat doch alles so gut angefangen, meine Flucht war so gut geplant, insgesamt drei Jahre, wieso sollte jetzt in einem Moment alles zuende sein?
Die Antwort folgt, als ich die Wand betaste, die mir den Weg abschneidet, denn da ist ein Loch in der Mitte und es quillt Rauch daraus hervor, und es zieht da drin wie in einer Maschine, man fühlt sich zwei Jahrhunderte zeitversetzt, ich kann es immer noch nicht glauben, da ist tatsächlich Rauch, und ich stehe davor und rieche ihn. Wie gut er in der Nase tut, nach all den sterilen Jahrzehnten, in denen ich träumte, einmal, nur einmal wollte ich die alte Zeit erleben, als die Maschinen noch lärmten und die Gefühle noch nicht eingefroren waren. Es ist, als ob etwas in mir wieder auflebt im Angesicht der Vergangenheit, als ob da etwas in nur schlummert, was nur geweckt zu werden braucht, vielleicht haben sie davor Angst, wollen sie das nicht, was immer es auch ist, doch ich werde es herausfinden und stecke meinen Finger in das Loch, und das Loch wird größer. Ein Surren begleitet die Öffnung, als sie sich auseinander dreht und jetzt starrt mich ein Loch an, ein Loch, in dem die Schwärze lautlos aufschreit, doch ich liebe die Schwärze, liebe den Dreck und den Gestank, der mir entgegen weht, denn das heißt, ich bin frei, und der Schnee liegt hinter mir, ist geschmolzen, ich bin frei, gehe hinein, in die Tür, die große weite Welt. Völlig automatisch schließt sich die Öffnung wieder hinter mir, als ich drinnen stehe, und ich wundere mich, warum ich vorhin noch den Finger ins Loch halten musste, damit sie aufgeht. Vollkommen lautlos hebt sich das Gefährt in die Luft, und plötzlich weiß ich, was es ist. Ich dämlicher Volltrottel, wie konnte ich nur darauf hereinfallen. Dieser dumme Trick, schon zu alt, um überhaupt noch ernst genommen zu werden, besonders hier draußen, in der Natur, wo man glaubt, dass einen Freunde erwarten.
Jetzt ist wohl alles vorbei, ich werde meinem Bruder hübsch Gesellschaft leisten in der anderen Welt, wie auch immer sie aussieht. Nur werde ich verbrennen, nicht erfrieren, verbrennen werde ich, ich habe mich zu weit vorgewagt, alle Flüchtlinge werden verbrannt, das wusste ich vorher noch nicht, erst jetzt erinnere ich mich, was sie gesagt haben: „Solltet ihr ein Raumschiff finden, das eins von den alten ist, die euch von hier weg bringen, täuscht euch nicht, es wird euch in Flammen aufgehen lassen, ihr werdet euch die Finger daran verbrennen“ – das haben sie gesagt, und ich schreie auf, denn mein Finger, mit dem ich die Tür geöffnet habe, ist jetzt ganz schwarz, oder bilde ich mir das nur ein, er ist doch schwarz, und er brennt höllisch, oh wie das schmerzt, ich schreie auf, und lauter, und lauter …
Ein Surren begleitet die Tür, als sie sich wieder auseinander dreht, und der Officer steht im Eingang, mit einem zufriedenen Grinsen im Gesicht, ja, eure Gehirnwäsche hat funktioniert, sie lässt keinen entkommen …
„Na, schon wieder ein neues Raumschiff entdeckt'?“, frage ich ihn sarkastisch und mich unter Schmerzen windend, obwohl ich wahrscheinlich gar keine habe, nur in meinem Kopf sind die Schmerzen, nur in meinem Kopf, denn mein Finger ist normal, silbern glänzend aus Metall, wie immer. Irgendein Chip verursacht die Schmerzen und die Wahngefühle, die Gefühle überhaupt, und diese ganze Welt, ich bin mir auch gar nicht mehr sicher, ob das alles tatsächlich existiert oder nicht auch bloß Erfindung, Täuschung ist, eine dieser VRs, die sie uns in den Androidenkopf pflanzen, um die Raumschiffe zu entdecken, von denen ich nicht weiß, was daran so besonders sein soll, obwohl ich den Wunsch verspüre, mit ihnen irgendwohin zu fliehen, wegzufliegen.
„Sie hätten leiser sein sollen“, grinst der Officer und seine Stahlklauen umfassen meine dürren, abgemagerten Gelenke.
„Hier drin verbrennt jeder, der lärmt“, zischt er. „Merken Sie sich das.“
Dann tauscht er meinen Chip aus, und ich wache auf, im Schnee. Ich glaube, ich bin ein Mensch. Mein einziger Wille ist die Freiheit.