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Der Sonnentau
In einem kleinen Ort an der Nordsee, dort wo der Kattenbusch in das Kattenmoor übergeht, lebte die kleine Anna. Den lieben langen Tag streifte sie durch die Natur, sprach mit den Pflanzen und den Tieren, wie es sich gerade ergab. Abends aber, wenn die Sonne sich auf den Heimweg machte, saß Anna gern auf der Teufelsdüne und sah zu, wie die Sonne allmählich im Wasser versank. Jeden Abend wünschte Anna der Sonne eine gute Nacht, die Sonne aber erwiderte den Gruß ganz freundlich und zwinkerte mit einem Auge der Anna zu, bevor sie ganz verschwand.
An einem Abend wurde Anna, nachdem sie sich gerade wieder von der Sonne verabschiedet hatte, auf dem Heimweg von der Abenddämmerung in ein Schwätzchen verwickelt. „Ach war das wieder schön“, seufzte die Abenddämmerung, „am liebsten würde ich der Sonne gleich hinterher laufen, um sie ja nicht aus den Augen zu verlieren.“
Verträumt pflichtete ihr Anna bei. „Du hast es besser als ich“, sagte Anna. „Ich muss nun ins Bett und schlafen, während du jeden Abend der Sonne folgst.“
„Das stimmt wohl“, erwiderte die Abenddämmerung, „aber das dauert mir schon immer zu lange, weil ich noch auf die Nacht warten muss, bevor ich weiter ziehen kann. Und ich bin ja so ungeduldig!“.
Während sie sich unterhielten, war ein Weilchen vergangen und die Nacht schon fast herein gebrochen. Ganz leise hörte Anna noch die Worte:
„Ich soll dich von meiner Schwester, der Morgendämmerung, grüßen. Vielleicht stehst du etwas früher auf, denn sie möchte dir etwas erzählen.“
Anna schlief ganz unruhig aus Angst, sie könnte zu spät aufwachen. Doch kaum wich das Schwarz der Nacht dem ersten schüchternen Grau, war Anna schon aus dem Bett und eilte hinaus. Gerade traf auch die Morgendämmerung ein, und nach einer kurzen Begrüßung schüttete sie ihr Herz aus:
„Hast du schon gehört, Anna, dass unsere liebe Sonne morgens immer ganz traurig ist? Der Ostwind hat es mir auch erzählt, also wird es wohl stimmen.“
„Was ist der Grund dafür?“. Annas Stimme klang besorgt.
„Der Morgentau, den ich wie einen Teppich ausbreite, um den neuen Tag zu begrüßen, fürchtet sich vor der Sonne. Kaum steigt die Sonne am Himmel empor, läuft der Tau weg und versteckt sich. Er hat Angst, in der Sonne zu verbrennen, der Ärmste. Dabei verzehrt sich die Sonne vor Sehnsucht nach dem Tau.“
„Wie können wir der Sonne helfen?“, wollte Anna wissen.
Doch die Morgendämmerung rief ihr zu: „Das weiß ich auch nicht!“ und verschwand, denn der Tag hatte sie gerade abgelöst.
„Ich werde den Kater Spökenmurr fragen“, dachte Anna bei sich und lief sogleich zum Kattenbusch. Richtig hinein gehen konnte sie nicht, denn es war ein zu arges Dornengestrüpp. Also rief sie den Kater heraus. Der kam auch kurze Zeit später und schaute auf die kleine Anna herab. Der Kater war etwa so groß wie ein ausgewachsener Mann, hatte einen kugelrunden Kopf und einen riesigen Schnurrbart.
„Womit kann ich dienen, kleine Anna?“, fragte er höflich.
„Ach, lieber Kater Spökenmurr“, sagte Anna, „Meine Freundin, die Sonne, ist traurig, weil der Morgentau vor ihr flieht aus Angst, sie würde ihn verbrennen. Dabei hat sie sich gerade in ihn verliebt, so scheint es mir. Wie kann ich ihr nur helfen?“
„Da weiß ich leider keinen Rat“, bedauerte der Kater Spökenmurr, „doch meinen Vetter Düwelschnurr im Kattenmoor könntest du vielleicht fragen. Aber er ist ein furchtbar gieriger Geselle, so dass guter Rat bei ihm auch sehr teuer ist.“
Traurig, weil er nicht helfen konnte, schüttelte der gute Kater Spökenmurr den Kopf, und dabei kamen aus seinen Augen zwei dicke Tränen. Und als die auf die Erde fielen, da waren es zwei runde blanke Goldstücke, groß wie eine Untertasse.
„Stecke das Gold ein, und wenn mein Vetter sich seinen Rat bezahlen lassen will, dann gib es ihm“, verabschiedete sich Spökenmurr von Anna, „doch sage ihm nicht, dass das Gold von mir ist.“
Herzlich bedankte sich da die Anna, wickelte die Goldstücke in ihre Schürze und lief zum Kattenmoor, um den Kater Düwelschnurr zu suchen. Zum Glück war es noch am Tage, denn nachts gingen im Moor Hexe, Kobold und manchmal gar, um Mitternacht, der Plurwulf um. Das war auch für die Anna ziemlich gruselig. Kaum hatte sie nach Düwelschnurr gerufen, als ein Kälbchen angelaufen kam.
„Du hast mich gerufen?“, muhte es zu Anna.
„Nicht dich habe ich gerufen, sondern den Kater Düwelschnurr“, sagte Anna verwundert.
Das Kalb keilte mit den Hinterbeinen aus, machte einen Handstand, schlug ein Rad und ... da stand ein Riesenkater vor ihr.
„Oh, ich muss mich entschuldigen“, sagte der Kater Düwelschnurr, denn der war es. „Ich habe gerade einen Bauern, der mir noch Geld schuldete, ins Moor gelockt und ertrinken lassen. Dazu musste ich die Gestalt seines Kälbchens annehmen.“ Dabei schnurrte er vor Freude über diesen bösen Streich, doch das Schnurren hörte sich an wie ein Gewittergrollen. „Aber nun sprich, was führt dich zu mir?“, fragte er Anna.
Anna erklärte ihm, dass der Tau vor der Sonne Angst habe und diese darüber recht traurig wäre. „Was können wir nur tun?“, fragte Anna. „Die Sonne ist meine Freundin und ich möchte ihr gerne helfen.“
„Papperlapapp ‚helfen’, ‚Freundin’, wenn ich das schon höre“, fauchte Düwelschnurr und funkelte mit seinen Augen. „Nichts ist umsonst. Gibst du Geld, geb’ ich Rat.“
Da wickelte Anna die beiden Goldstücke aus ihrer Schürze und zeigte sie ihm. Sogleich wollte der Kater das Gold an sich nehmen, doch Anna war klug und gab es nicht her, bevor der Düwelschnurr ihr nicht seinen Rat gesagt hatte. Nun musste der Kater wohl oder übel der Anna helfen, wenn er das Gold haben wollte.
„Hier in meinem Moor wächst eine nutzlose Pflanze“, erklärte der Kater. „Wir nennen sie Moorgras und die Bauern sagen Widdertod dazu, weil die Schafe sterben, wenn sie davon fressen. Dieses Kraut, das mehr Haare an seinen Blättern hat als ich in meinem Schnurrbart, werde ich mit Hexenwasser übergießen und dabei eine Zauberformel sprechen. Dann werden die Härchen klebrig, und der Tau, der sich darauf setzt, kann nicht mehr vor der Sonne davon laufen. Und ich bekomme noch Gold für dieses unnütze Gras.“
Wie gesagt, so geschah es auch. Der Kater verzauberte die Pflanze und bekam von Anna die beiden Goldstücke.
Seit dieser Zeit hat die Pflanze den Namen „Sonnentau“, denn der Tau versteckt sich nicht und die Sonne kann sich den ganzen Tag in jedem einzelnen Tröpfchen spiegeln, dass es eine wahre Pracht ist.
Nur das Gold, das der böse Düwelschnurr von Anna bekommen hatte, glänzte nicht, als er sich wenig später daran ergötzen wollte. Es war zu Kattendreck zerfallen, so wie es sein Vetter Spökenmurr bestimmt hatte.